Wozu amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland?

Wozu amerikanische Mittelstreckenwaffen in Deutschland?
Fragen ohne Antworten

Deutschland rüstet auf oder nach, je nachdem, wie man es sehen will. Oder rüstet die USA in Deutschland gegen Russland auf? Überraschend verkündeten die amerikanische und die deutsche Regierung am Rande des NATO-Jubiläumstreffen in einer „Gemeinsamen Erklärung“, dass sich die USA und Deutschland nach Gesprächen im Vorfeld des NATO-Gipfels beschlossen hätten, dass die USA „2026 mit der vorübergehenden Stationierung der Langstreckenfeuerfähigkeiten ihrer Multi-Domain Task Force beginnen“ werden.

Aus der Erklärung geht nicht hervor, ob die beiden Regierungen „übereingekommen sind“ oder „sich geeinigt haben“ die Raketen stationieren zu wollen. Bundeskanzler Scholz äußerte sich mündlich, es sei eine „sehr gute Entscheidung“. Wer mit wem zu welchem Zweck diese Entscheidung traf, bleibt im Dunkeln. Der politische Direktor im Verteidigungsministerium, Jasper Wieck, erklärte in einem Interview laut „Tagesschau-Analyse“ vom 2. August 2024, die „Stationierung von Mittelstreckenraketen war ‚ein Angebot der US-Regierung‘, auf das man ‚gern und bereitwillig eingegangen‘ ist.“ Pistorius sprach im Deutschlandfunk „von einer exekutiven Entscheidung der amerikanischen Administration, in Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt“. Fest steht, dass es sich um eine bilaterale Vereinbarung und keine gemeinsame Bündnisentscheidung handelt, aber diese nach Angaben eines Regierungssprechers in die NATO-Sicherheitsstrategie eingebettet sei.

Nachdem Bundeskanzler und Verteidigungsminister den Eindruck erzeugten, es handele sich hier um die normalste Angelegenheit der Welt, die als Folge der Forderung von „abstandfähigen Präzisionswaffen“ in der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ aus dem vorigen Jahr zu verstehen und für sicherheitspolitisch Interessierte keine Überraschung sei. Zur weiteren Begründung wird für die Entscheidung darauf verwiesen, es existiere durch die russische Aufrüstung mit nuklearfähigen „Islander-Raketen“ und Kampfjets mit Überschall-Raketen vom Typ „Kinschal“, die in der Exklave Kaliningrad stationiert seien, eine „Fähigkeitslücke“ angesichts der Entfernung von 500 Kilometern bis Berlin. Einfacher ausgedrückt: Es wird eine Abschreckungslücke im westlichen Verteidigungssystem eruiert, die es zu schließen gelte.

Das US-Gegengewicht, so muss man es wohl nennen, denn die USA werden vermutlich über den Einsatz dieser Waffen entscheiden, besteht aus Waffen unterschiedlicher Reichweiten. Neben Tomahawk-Marschflugkörper, die eher Offensivwaffen sind und erst einer vorgegebenen Flugbahn folgen, bevor sie sich dann mit einer Reichweite von 1600 Kilometern selbst in ihr Ziel steuern. Die SM-6-Mehrzweckraketen als ballistische Kurzstreckenraketen sind Defensivwaffensorgen mit vorgegebener Flugbahn sind eigentlich Flugabwehrwaffen mit einer Reichweite bis zu 450 Kilometern. Insbesondere die noch zu entwickelnde Hyperschallwaffe „Dark Eagle“ mit einer Reichweite von 2.500 Kilometer und einer fünffachen Schallgeschwindigkeit ist wegen der damit verbundenen extrem kurzen Vorwarnzeit der Hauptgrund für Bedenken, die insbesondere SPD-Fraktionschef Mützenich auch öffentlich äußerte.

Da rechtlich gesehen der Bundestag nach einer juristischen Stellungnahme des „Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages“ mit dieser Angelegenheit nicht beschäftigt werden muss, da sie durch den NATO-Vertrag gedeckt sei, bleibt es fraglich, ob es zu einer parlamentarischen Debatte über diese keineswegs nebensächliche Entscheidung kommt, denn schließlich werden seit dem INF-Vertrag von Ende der 1980er Jahre nun wieder amerikanische Mittelstreckenwaffen vom deutschen Boden aus in Richtung Russland stationiert.

Zwar ist unter Militärbeobachtern unstrittig, dass Russland seinerseits in diesem strategischen Spektrum aufrüstet und diese Waffen nicht nur gegen Syrien und die Ukraine nutzt, sondern sich auch Deutschland im Fadenkreuz der Ziele befindet. Strittig ist aber, ob es hier seitens des Westens wirklich eine Abschreckunglücke gibt. Die Experten der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ sehen das so und beteuern, in einem Konfliktfall entstünde durch die Stationierung der neuen Waffensysteme keine erhöhte Gefährdung, auch kein höheres atomares Risiko für Deutschland.


Droht eine Wiederholung der „Nachrüstungsdebatte mit Friedensbewegung“?

Amerikanische Mittelstreckensysteme auf deutschem Boden? Das ruft sogleich Erinnerungen an Helmut Schmidts Stationierung amerikanischer Mittelstreckensysteme als Gegengewicht zu den modernisierten sowjetischen SS 20 Raketen Ende 1970er Jahre und Anfang 1980er wach. Die Folge dieser Neugewinnung des „Gleichgewicht des Schreckens“ war die Friedensbewegung und ein Element des Endes der sozial-liberalen Koalition 1982. Und es war ein Beschleuniger des Wachstums der Grünen.

Hat die SPD aus den Fehlern ihrer Vergangenheit nichts gelernt? Verteidigungsminister Pistorius betonte sogleich, der Vergleich hinke schon deshalb, weil es diesmal nicht um Nuklearwaffen gehe. Aber der russischen Aufrüstung gegen Deutschland und die NATO insgesamt müsse zu Herstellung eines Gleichgewichts eine angemessene Antwort zur glaubwürdigen Abschreckung entgegengestellt werden.

In welchem Ausmaß Russland konventionell gegen uns und den Westen insgesamt aufrüstet, entzieht sich zwar der Kenntnis nicht eingeweihter Kreise. Aber ein Teil der neuen Waffensysteme, die offenkundig auch unsere „Kriegstüchtigkeit“ erhöhen sollen, verkürzen die Flugzeiten derart, dass sie auch nicht unerhebliche Risiken bergen, wie SPD- Fraktionschef Mützenich sorgenvoll hervorhebt. Bei Interkontinentalraketen beträgt die Vorwarnzeit, das ist die Zeit in der der Angegriffene entscheiden muss, ob und wie er reagiert, etwa eine halbe Stunde. Angesichts dessen, dass dies eine Entscheidung über den Untergang der Erde bzw, der Menschheit zur Folge haben kann, nicht gerade eine Ewigkeit. Bei Mittelstreckensystemen rechnet man mit ca. 10 bis 15 Minuten und bei den neu entwickelten Hyperschallsystemen reduziert sich die Vorwarn- bzw. Reaktionszeit auf ein paar Minuten. Das heißt hier entstehen extreme Stresssituationen und die Gefahr einer Eskalation wider Willen.

Diese Risiken waren schon damals Teil der Befürchtungen der Friedensbewegung mit Verweis auf die Pershing II, deren Geschwindigkeit die Vorwarnzeit ebenfalls bedenklich schrumpfen ließ. Aber dennoch gilt es auch zwei wesentliche Unterschiede zur damaligen Konfliktsituation festzuhalten. Erstens ist momentan nicht die Rede von nuklearen Sprengköpfen für diese Waffensysteme. Das heißt, sie erhöhen im Konfliktfall nicht wie damals das Risiko eines auf Europa begrenzten Atomkrieges, denn strategisch betrachtet erhielten die USA mit den Mittelstrecksystemen einen Eskalationsvorteil für die regionale Begrenzung eines potenziellen atomaren Schlagabtausches. Zweitens ist Putins Russland nicht die Sowjetunion. Der Unterschied besteht darin, dass die UdSSR damals eine Status-quo-Macht war, während Putins politischen Ziele auf eine Revision der gegenwärtigen Weltordnung zu Russlands Gunsten zielen. Aber damit wissen wir noch nicht, wie Putin sich das mit welcher Risikobereitschaft eigentlich vorstellt.


Was realistisch zu befürchten ist

Die Begründung der Aufrüstung ist mit Verweis auf Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine in der öffentlichen Argumentation für eine Mehrheit ein Selbstläufer. So jedenfalls scheinen Scholz und Pistorius das einzuschätzen. Die Kritiker aus AfD, BASW und Linke sind lediglich die üblichen Verdächtigen, die man je nach Bedarf als naiv oder als Putinversteher abqualifizieren kann. Ausgerechnet ihre Partei, die SPD, macht bei den anstehenden Landtagswahlen in den östlichen Bundesländern aber gegenwärtig die fatale Erfahrung, dass der „zögerliche Friedenkanzler“ nicht für seine „Besonnenheit“ geschätzt wird, sondern in die Reihe der „Kriegstreiber“ eingereiht wird und das wird – schwer messbar – zusätzliche Stimmen kosten, während die CDU ihr Ukrainefrontkämpfer zurückzieht und selbst Merz plötzlich vermehrt von „Diplomatie“ spricht, während Sachsens Ministerpräsident Kretschmer schon die Militärhilfe für die Ukraine zur Disposition stellt.

Hinzu kommt, dass der gegenwärtige Kriegsverlauf, der die Ukraine dem Anschein nach durch den Einmarsch in die russische Region Kursk wieder in eine offensivere Position bringt und damit den Hoffnungsschimmer, der Krieg sei doch „gewinnbar“, neue Nahrung gibt. Aber nicht alle haben vergessen, dass derartige Unternehmen, zudem mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit „deutschen Waffen“, einst noch als „rote Linien“ markiert wurden. Die innere Logik des Krieges belehrt uns aber auch hier eines Anderen, es gibt keine reine Verteidigung. Der Ukraine das Recht auf Angriff auf den Feind abzusprechen, hieße ihr in den Rücken zu fallen und dieser fatalen Kriegslogik müssen wir uns nun beugen oder den Stecker der Unterstützung ziehen.

Sollte es der Ukraine wirklich gelingen, Russland militärisch zwar nicht in die Knie zu zwingen, aber doch so zu schwächen, dass sie gestärkt in Verhandlungen gehen könnte, wären wir andererseits aber auch gezwungen, uns ein realistischeres Bild von der militärischen Großmacht Russland zu machen. Fakt wäre dann, dass Russland zwar die zweitgrößte Atommacht der Erde ist, aber, gemessen an seinem konventionellen Waffenpotenzial, nicht einmal in der Lage ist, die Ukraine zu besiegen. Wie glaubwürdig sind dann Szenarien, auf Putins Speisezettel stehe als nächstes das Baltikum, egal in welcher Reihenfolge. Was er im Falle der Ukraine nicht schafft oder, für ihn einmal etwas optimistischer prognostiziert, vielleicht gerade noch schafft, das würde er dann gegen die NATO wiederholen oder erweitern? Egal wie man Putin oder Russland insgesamt politisch einschätzt, aber solche Horrorszenarien erscheinen mir nicht allzu plausibel, ganz abgesehen davon, dass die dahinter liegende strategische politische Stoßrichtung nicht zwingend plausibel ist.

Dass Putin bei Schwäche auf sein Atomwaffenarsenal zurückgreifen würde, haben einflussreiche Strategen im Ukrainekrieg als Horrorszenario im Interesse Putins disqualifiziert. Die Angst vorm Atomkrieg, so belehrten uns etliche Kriegsstrategen, sei unbegründet und nutze nur Putin, der deshalb auch damit spiele. Wenn das richtig ist, dann müssen wir uns in einer zugespitzten Konfliktsituation darüber auch keine Sorgen mehr machen.

Aber warum dann die konventionelle Aufrüstung in Europa gegen ein angeblich überstarkes Russland – oder ist die Ukraine waffenmäßig schon ein Äquivalent für ganz Europa? Wenn mit der Schließung einer Abschreckungslücke im Mittelstreckenbereich auf konventioneller Ebene mit einer Aufrüstung durch US-Waffen geantwortet wird, dann sollte man auch die darin liegenden Risiken durchdenken. Zum einen irritiert an der Abmachung, dass man hier davon auszugehen scheint, dass in den USA nach der Präsidentschaftswahl alles so bleibt und man sich weiterhin der „transatlantischer Partnerschaft“ gewiss sein kann. Aber was bedeuten die Aufrüstungen in einem anderen, von Trump definierten strategischen Kontext? So wenig Verlässliches darüber bislang bekannt ist, darf so viel als sicher gelten, dass die US-Verteidigungsstrategie nuklearisiert wird, also mehr Nuklearwaffen. Zudem Kosten- und Risikoverlagerung auf die europäischen „Partner“. Das könnte aber auch unter Harris der Fall sein und die konventionellen Mittelstreckensysteme sind dazu geeignete Instrumente.

Die Waffen produzieren und liefern die USA, wer sie bezahlt ist noch nicht bekannt. Aber dass Deutschlands Anteil daran nicht gering sein wird, dürfte man als gesichert annehmen. Und die Waffen ermöglichen strategisch auch konventionell in einem Konflikt die strategische Entkoppelung von USA und Europa. Was die Europäer in der optionalen Eskalationsspirale gerne als Bindeglied bis zum Nuklearschutzschirm der USA interpretieren, ist anders gelesen die Chance für die USA auch einen größeren Konflikt vom eigenen Territorium fernzuhalten und auf den eurasischen Raum, in diesem Falle auf Mitteleuropa zu begrenzen. Das ist, wie Ulrich Menzel, einer der bedeutenden deutschen Analytiker und  Theoretiker der Internationalen Politik in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 12. August 2024 betont, der „geopolitische Aspekt“ dieser Angelegenheit. „Damit der Konflikt nicht auf amerikanischen Boden ausgetragen wird, haben die USA in ihrer Globalstrategie seit dem Kalten Krieg auf Mittelstreckenwaffen gesetzt. So wird Mitteleuropa zum möglichen Schlachtfeld.“ Das ist ein Faktum, das übrigens ein ziemlich naheliegendes Interesse der Amerikaner ist.

Die andere Frage ist aber, welchen effektiven Gefallen für unsere Sicherheit tun wir uns damit? Vielleicht erklären uns das Olaf und Boris noch irgendwann.

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