Russlands Krieg und die Zukunft einer neuen Weltordnung – Interview mit Professor Dr. Rolf Wortmann

Hintergründe, Bewertungen und Visionen für eine friedlichere Welt

Professor Dr. Rolf Wortmann, von Beginn an festes Mitglied der OR-Redaktion, hat sich kürzlich mit einem vielbeachteten Abschiedsvortrag aus dem offiziellen Lehrbetrieb der Hochschule verabschiedet. Thema seiner Ansprache war der aktuelle Ukraine-Krieg. Beleuchtet wurden historische Entwicklungen bis hin zu Visionen, die einen Weg aus der bedrohlichen Entwicklung weisen können.
Wir sprachen mit unserem Redaktionskollegen – und bitten herzlich um Verständnis dafür, dass unser Interview aufgrund der komplexen Thematik deutlich ausführlicher ausgefallen ist als übliche Fragerunden.

 

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine währt nun schon über hundert Tage. Was ist Deine persönliche politische Bewertung?

Es gibt für den von Putins Russland begonnenen brutalen Angriffskrieg keine Rechtfertigung, nur völlig unsinnige Begründungen. Er ist eine Verletzung des Völker- und offensichtlich auch noch des Kriegsrechts. Die Ukraine hat jedes unterstüzungswürdige Recht, sich gegen diesen Überfall mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, um ihre territoriale und politische Souveränität zu behaupten bzw. wieder herzustellen. Wer der Aggressor ist, ist unstrittig: was seine Motive und Ziele sind, dagegen nicht; und das gilt auch für die Kriegsziele aller anderen Akteure.

 

Du hast in mehreren Artikeln seit dem Herbst letzten Jahres den Konflikt verfolgt und dabei auch auf russische Sicherheitsinteressen verwiesen. Spielen die jetzt keine Rolle mehr?

Ich habe verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Russlands Sicherheitsinteressen, wie zuvor auch die sowjetischen, sehr extensiv sind und dem Streben nach absoluter Sicherheit gleichkommen, womit sie Unsicherheit für alle anderen produzieren. Wenn es um jenes Sicherheitsinteresse geht, das sich mit der Nato-Osterweiterung verbinden lässt, dann rechtfertigt das jedenfalls keinen Angriffskrieg und schon gar nicht einen solch brutalen Vernichtungskrieg auch gegen die Zivilbevölkerung, den wir hier beobachten müssen. Zudem war eine anstehende Nato-Mitgliedschaft der Ukraine im Sommer letzten Jahres vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj, wenn auch zähneknirschend, auf  absehbare Zeit ausgeschlossen worden, obwohl sie in der ukrainischen Verfassung verankert ist.

 

Und wie ist die vieldiskutierten Zusagen des Westens gegenüber Gorbatschow, die Nato nicht gen Osten auszudehnen, zu sehen? 

Hier dreht sich die Debatte im Kreis. Fakt ist bis jetzt, dass es keine wie auch immer kodifizierte Vereinbarung zum Thema Nato-Osterweiterung gibt. Sicher ist nur, dass diese zumindest in der problematischen Übergangszeit nach dem Vollzug der deutschen Einheit, als der Abzug der „sowjetischen Truppen“  in Ost-Deutschland noch nicht abgeschlossen war, dies bis 1993 kein Thema war, sein konnte und durfte.

 

Und die von Gorbatschow gewünschte und geforderte neue europäische Sicherheitsordnung? Warum wurde daraus nichts?

Nicht nur Gorbatschow propagierte ein „Gemeinsames Haus Europa“, wo auch die USA eine Wohnung erhalten sollten. Auch der damaligen Außenminister Genscher sprach öffentlich von einer neuen Sicherheitsarchitektur jenseits der Militärblöcke, wofür er von seinem Kanzler Kohl schärfstens gerüffelt wurde.

Außer der Charta von Paris aus dem Jahre 1990, deren Kern die Fortschreibung der Schlussakte der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) in Helsinki war und die freie souveräne Bündnisentscheidung eines jeden Mitgliedstaates betont, gab es durch die Nato eine Kontinuität des Sicherheitssystems.

Wer darin ein Fenster der verpassten Gelegenheiten sieht, hat möglicherweise recht. Aber realistischerweise muss man auch zu bedenken geben, dass es damals kein entwickeltes und ausgehandeltes Alternativsystem gab, und damit lief alles nach dem Prinzip der normativen Kraft des Faktischen. Und faktisch war die Nato der einzige verbliebene, funktionsfähige sicherheitspolitische Stabilitätsanker in einer turbulenten und noch sehr ungewissen Übergangsphase, als insbesondere Russlands innere wie äußere Entwicklung auf der Kippe stand, also eine Art Rückversicherung. Zudem beflügelte der erste Golfkrieg 1991, mit dem die „internationale Staatengemeinschaft“ als Beginn einer „Neuen Weltordnung“ im Geiste der Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren die Daseinsberechtigung der Nato, die hier hinter der UN-Mission verschwand.

Hinzu kommt, dass für die USA von Beginn an, also etwa seit dem Frühjahr 1989, als man in Washington davon ausging, dass es im Ost-West-Verhältnis möglicherweise schon bald auch  zu dramatischen Veränderungen kommen könnte, die Bush-Administration die Nato zum unverzichtbaren Instrument auch der künftigen Sicherheitspolitik in Europa festlegte. Das hieß beispielsweise auch: die USA hätten ohne eine Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands einer deutschen Einheit nicht zugestimmt. Das wäre übrigens ein interessanter Fall geworden. Damit musste Gorbatschow dann gleich zwei Kröten schlucken, was seine Position im eigenen Haus wahrscheinlich entscheidend schwächte.

 

Wenn es nicht diese Sicherheitsinteressen sind, was sucht Russland oder Putin dann?

Ich habe in meiner Abschiedsvorlesung versucht, darauf vielleicht keine endgültige Antwort, aber ein paar andere Sichtweisen auf den Kern und auch auf die Genese dieses im Krieg endenden Konfliktes zu geben.

Dazu gehört zu allererst die Erkenntnis, dass es Putin und die ihn tragenden Elemente Russlands nicht mehr um „Sicherheitsinteressen“ gegenüber dem Westen im engeren Sinne  geht. Das 1990 neu entstandene neue, gerupfte Russland ist mittlerweile anders als die alte Sowjetunion keine Status-quo-Macht mehr. Es ist eine revisionistische Macht. Es geht um eine Revision der bislang von den USA beherrschten Weltordnung, um jenen regelbasierten liberalen multilateralen Internationalismus, der auf universalen Prinzipien wie den Menschenrechten und der Gleichberechtigung aller souveränen Staaten beruhen sollte.

 

Und was wäre dann Russlands Alternative dazu?

Was Putins Russland, das entwickelte sich nämlich erst unter seiner Präsidentschaft, anstrebt, ist eine multipolare Weltordnung, basierend auf mehreren Regionalmächten, die jeweils innerhalb ihrer Einflusssphären herrschen und dort die Regeln des Miteinanders bestimmen. Also auch eine Abkehr vom Universalprinzip der UNO. Ein Zukunftsmodell, das nicht utopisch, sondern realistisch ist.

Es kommt dem Zukunftsmodell nahe, dass der frühere amerikanische Außenminister und Sicherheitsberater Nixons, der Historiker und Analytiker internationaler Politik, Henry A. Kissinger, gleich nach dem Ende des Kalten Krieges als die zukünftige Weltordnung prognostizierte. Er sehe keine wundersame „Morgenröte einer aufsteigenden neuen Weltordnung“, von der nun überall die Rede war. Für ihn war die bipolare Weltordnungsstruktur des Kalten Krieges, die auf dem System der Konferenz von Jalta im Frühjahr 1945 mit klar abgesteckten Einflusssphären der beiden atomaren Supermächte basierte, eine Ausnahmesituation, bedingt durch das atomare Patt, in der Geschichte der internationalen Politik. Nun werde es eine Rückkehr zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit mehreren sich im Gleichgewicht haltende Großmächten, nur auf globaler Ebene geben.

 

Gut, aber das ist nun Kissingers Prognose gewesen, was spricht für ihre Richtigkeit?

Natürlich ist nicht Kissingers Prognosefähigkeit das entscheidende Argument, sondern die Tatsache, dass neben Russland insbesondere die aufstrebende und aufsteigende neue Weltgroßmacht China hier an dem gleichen Strang zieht. Chinas Machtzuwachs beruht nicht auf Atomraketen, sondern darauf, den Westen auf seinem ureigenen Feld, der Ökonomie herauszufordern.

Wesentlich für die Veränderung der Weltordnung, die sich jetzt immer deutlicher abzeichnet,  ist aber eine Doppelbewegung. Einerseits verlagern sich die globalen Machtgewichte durch den Aufstieg anderer Mächte und andererseits schwächelt der „gutmütige Welthegemon“, wie sich die USA noch unter Obama verstand.

Die USA sind mittlerweile ökonomisch partielle Verlierer der Globalisierung mit schwerwiegenden innenpolitischen Folgen. Die liberale Demokratie steckt nicht erst seit Trump in einer Legitimitätskrise durch den Aufstieg des Rechtspopulismus. Die USA stehen vor dem Problem,  Hüter von Regeln  wie den Weltfreihandel zu sein, bei denen sie partiell verlieren oder die Regeln durch Protektionismus zu verlassen, dann verlieren sie ihre Rolle als internationale Ordnungsmacht und an Akzeptanz bei der Gefolgschaft. Trumps „American first“ ist die Konsequenz, dass die USA selber diese Rolle nicht mehr erfüllen können und wollen. Damit haben wir – wie Herfried Münkler es nennt – eine „Ordnung ohne Hüter“.

Und mehr noch: Nicht unerhebliche Teile der Welt sind für diesen Wandel empfänglich. Bei der Abstimmung in der UNO-Vollversammlung zur Resolution, die den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilte, zählte der Westen stolz die Übermacht von über zwei Drittel der Staaten. Hätte er die Bevölkerungszahl gezählt, die sie repräsentieren, dann hätte er feststellen müssen, dass die Gegenstimmen und Enthaltungen der Staaten mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung vertreten. Mit Schwerpunkt im bevölkerungsreichsten Kontinent, in  Asien, wo auch die Zukunft der Weltwirtschaft liegen wird.

Hinzu kommt, dass insbesondere Länder des globalen Südens dem Westen zu Recht eine Doppelmoral vorwerfen, weil er gegen andere Regelverstößer Sanktionen verhängt, aber sie selber ohne Konsequenzen begeht. So formulierte es im UN-Sicherheitsrat am 21. Februar Kenias UN-Botschafter: „Wir verurteilen entschieden den Trend der vergangenen Jahrzehnte, dass mächtige Staaten, darunter Mitglieder dieses Sicherheitsrats, ohne große Bedenken gegen das Völkerrecht verstoßen.“

Das kurze Ergebnis: Die bestehende Weltordnung entspricht nicht mehr den faktischen Machtverhältnissen, leidet an ihrem schwächelnden Führer und ist ohnmächtig gegen den Aufstieg der Wirtschaftsmacht China, die den Westen mit den Mitteln der Ökonomie und zunehmend auch der Technologie heraufordert und bei vielen vor allem autokratischen Regimen beliebter wird, weil sie sich – bislang – nicht in ihre inneren Angelegenheiten einmischt, keine Menschenrechte einklagt und auch keine Anzeichen erkennen lässt, die Nachfolge der USA als Welthegemonialmacht antreten zu wollen.

 

Was treibt dann Russland in diesen Krieg gegen die Ukraine?

Dass Russland mit der Ukraine wirtschaftlich  eng verbunden war und ist, der Donbass als das Quasi-Ruhrgebiet der UdSSR  nun Russland fehlt, die bekannte Kornkammer und Bodenschätze der Ukraine und der über sie vermittelte Zugang Russlands zum Schwarzen Meer sind unmittelbar nahe liegende russische Interessen, die schon durch die Unabhängigkeit 1991 tangiert wurden und mit dem drohenden Abfall der Ukraine ins westliche Lager natürlich noch mehr.

Aber darüber hinaus ist die Ukraine für Russland, wie auch für die USA, der „geopolitische Dreh- und  Angelpunkt“ rivalisierender Interessen. Um das ganz schnell zu begreifen, wähle ich mal ein riskantes Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, der Bundesstaat California beschließt den Austritt aus der Vereinigten Staaten von Amerika und zudem besteht die Gefahr – oder Chance – auch Mitglied einer von China – und vielleicht auch noch Russland – geführten „Pazifischen Union“ als Militärbündnis zu werden. Was dann los wäre, bedarf keiner großen Phantasie. Warum? Weil jeder und jedem klar ist, damit würde die gesamte Sicherheitsarchitektur des amerikanischen Kontinents zusammenbrechen. Einerseits wegen der ökonomischen Bedeutung des Abtrünnigen für die USA,  aber mehr noch, weil damit die  Pazifikküste der USA gefährdet wäre und dort „raumfremde Mächte“ Einzug erhielten.

 

Die Parallele zu Russland leuchtet ein, aber warum ist die Ukraine so wichtig für die USA?

Beide Seiten, Russland und die USA, sind geopolitische Konkurrenten. Der amerikanische Politikwissenschaftler und ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski – wie Henry Kissinger, einer der einflussreichsten strategischen Vordenker amerikanischer Außenpolitik -, hat für die geopolitische Rivalität Russlands und USA sowie die Bedeutung der Ukraine darin, eine interessante Erklärung geboten, die über die genannten unmittelbaren Interessen hinaus den Konflikt um die Ukraine und den Krieg aus einer anderen Perspektive darstellt.

 

Erklärt das auch, was sich hinter der von Putin 2005 geäußerten Feststellung verbirgt, der „Zusammenbruch der Sowjetunion ist die größte geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts“?

Ich denke schon, unter anderem aus der amerikanischen Sichtweise, die viel aufschlussreicher ist, als die  von Putin gelieferte, die sich auf historische Identitäten und unsinnige Behauptungen über „Nazis“ in der ukrainischen Regierung stützt.

Als Ausgangspunkt nehme ich Brzezinskis Feststellung, die er in seinem Buch „Planspiele“ 1986 – also vor der Wende – angesichts der Reformpolitik Gorbatschows formulierte: Es sei eine Illusion, wenn der Westen glaube, eine demokratische Sowjetunion sei kein Rivale mehr, denn auch eine Demokratie nach westlichen Muster hätte Interessen, die nicht an die innere Ordnung geheftet sind. Kurzum: Staaten haben unabhängig ihrer inneren Struktur Interessen, wie den Selbsterhalt, und solche, die sich beispielsweise aus ihrer Größe und geografischen Lage ergeben.

 

Ist das die Sichtweise der „realistischen Schule“ der internationalen Politik?

So ist es. Zehn Jahre später konkretisiert er diese Annahme auf Russland als den Nachfolger der zusammengebrochenen UdSSR in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“. Anders als Kissinger sah er keine multipolare Welt, sondern eine einzigartige unipolare Welthegemonialstellung der USA, die es zu erhalten und auszubauen gelte. Dafür sei es für die USA unabdingbar, das Zentrum des künftigen Kampfes um die Vorherrschaft in der Welt,  und das sei die eurasiatische Landmasse zwischen Atlantik und Pazifik, zu kontrollieren. Denn dies sei der Raum mit dem größten Teil der Weltbevölkerung und der künftig stärksten Wirtschaftskraft. Wer ihn „kontrolliere“, beherrsche die Welt.

Die USA, als hier raumfremde Macht, sei auf Sicherung der Küsten in Europa wie Ostasien für die amerikanische Sicherheit einerseits und den Ausbau ihrer Einflusssphären andererseits angewiesen. Übrigens exakt die globale Strategie der US-Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Paktsystemen Nato und ASEAN. Ziel sei nicht, diesen Raum unmittelbar zu beherrschen, sondern primär darum, dass sich hier kein die amerikanische Position beeinträchtigender Nebenbuhler breit mache oder zur Vetomacht  gegen Amerikas Interessen  aufspiele. Es dürfe hier nichts ohne und schon gar nichts gegen die USA gehen.

 

Was bedeutet das im Verhältnis zu China und Russland?

China hielt er damals – wie auch die Clinton-Administration – noch für einen domestizierbaren Herausforderer, was sich später änderte und Brzezinski dazu brachte, mit Russland eine Allianz gegen China zu suchen. Für eine Kooperation mit Russland sei aber der Verzicht auf Erweiterung seiner Einflusssphären beziehungsweise deren Begrenzung, also eine postimperiale Entwicklung unabdingbare Voraussetzung. Die könne man sich mit formell respektvoller weltpolitischer Aufwertung durch Aufnahme in den Club der G 7-Mächte und dergleichen mehr erkaufen, um ihnen so die unmittelbaren Einflussverluste in ihrem Nahbereich durch das Vorrücken der Nato und EU gen Osten zu versüßen. Darüber hinaus könne das stark geschwächte Russland aber keinen Anspruch auf eine paritätische Behandlung durch die USA beanspruchen. Auch das war im Prinzip die Politik Clintons gegenüber Russland in den 1990er Jahren.

 

Und warum wird in diesem Szenario die Ukraine so bedeutend?

In der Ukraine sieht Brzezinski schon damals den zentralen Konfliktpunkt. Denn sie sei der „geopolitische Dreh- und Angelpunkt“ auf dem eurasischen Schachbrett, weil ihre „bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands“ beitrage. Ich zitiere: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“ (Brzezinski, Weltmacht, 74)  „Unter geopolitischen Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“ (Ebd. 137) . Eine Rückeroberung der Ukraine mit ihren 52. Mio. Einwohnern, ihren enormen Bodenschätzen, dem Zugang zum Schwarzen Meer, der Russland ohne Ukraine verwehrt würde, brächte Russland „automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich“ zu werden und Polen würde zum geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze der EU zu Russland.

Europa sieht er als Amerikas „natürlichen Verbündeten“, als „Brückenkopf zum eurasischen Kontinent“, Gefahren lauern lediglich in einer französischen oder deutschen Allianz mit Russland, denn so lange Russland noch kein postimperiales Land sei, bestünde bei jeder der Allianzen die Gefahr, die Rolle der USA in Eurasien zu untergraben. Gestützt auf die EU und Nato müsse Washington versuchen, den „russischen Bären“ zur  Bewegungsunfähigkeit zu umarmen oder in seinen Käfig sperren. Der politische Umgang mit Russland bleibt hier also variabel.

Brzezinski konnte noch stolz verkünden, dass die USA unangefochten in allen strategisch entscheidenden Bereichen ihre Hegemonialstellung innehätten: ökonomisch, technologisch, militärisch und politisch, nur kulturell sah er wegen des grassierenden individualistischen Hedonismus und Materialismus in den USA globale Ansehensverluste.

 

Ist Geopolitik wichtiger als der uns dargestellte Kampf um Freiheit und Demokratie?

Das schließt sich nicht aus. Wenn die Ukrainer heute als eine durch Putins Angriffskrieg geeinte „Willensnation“ gegen Russland als imperialen Aggressor kämpfen, dann ist das nicht  primär aus politisch ideologischen Gründen so bedeutend, sondern es erhält seine Brisanz, weil es in einem geopolitisch relevanten Raum stattfindet.

Die russische, Putin zugeneigte Elite, denkt übrigens sehr geopolitisch. Ich nenne nur einen auch im Westen bekannten Vertreter dieser Richtung, Alexander Dugin, der spiegelbildlich zu Brzezinski das Eurasienprojekt als Kern des zu vollendenden Weltmachtanspruchs Russlands  entwickelte und propagiert. Die Frage Demokratie oder nicht, ist dabei mehr ein ideologisches Transportmittel.

Dugin – und Putin folgt ihm darin zunehmend – lädt es als den alten Kampf um die „russische Seele“ zwischen Europa und Asien auf. Russland liegt auf zwei Kontinenten und war nie auf einem Zuhause. Russland, das muss man im Laufe der Präsidentschaft Putins vermerken, wird kulturell asiatischer und blickt auch immer mehr nach Asien. Dugin sieht die Welt ganz ähnlich wie Samuel Huntington mit seinem „Krieg der Kulturen“, er schneidet sie nur anders zu.

 

Wenn der Krieg solch tiefe Gründe hat, war er dann überhaupt vermeidbar?

Kriege sind Folgen menschlichen Handelns und somit immer vermeidbar, weil man auch hätte anders handeln können. Interessanterweise kann man in jedem Konflikt von größerer Reichweite im Westen den gleichen Krisenmodus entdecken. Die Fraktion der Tauben erinnert an die vermeintlichen Schlafwandler, die in den Ersten Weltkrieg hineinschlidderten, obwohl ihn keiner wollte. Daraus könne man lernen, auf Diplomatie zu setzen, Mäßigung und Suche nach Kompromissen Ausschau zu halten,  um die fatale Logik der Eskalation rechtzeitig zu bremsen, bevor sie ihre uneinholbare Eigenlogik entfaltet.

Auf der anderen Seite die Falken. Ihr historisches Leitbild ist das Münchner Abkommen von 1938, als die Westmächte versuchten durch Entgegenkommen Hitlers Machthunger zu stillen, weil der Konfliktgegenstand einen großen Krieg nicht wert schien. Dieses Verhalten wurde als „Appeasement“ zum Synonym für Kapitulation vor dem Feind ohne Grund und zum Schimpfwort, weil man damit den Machthunger des Aggressors – in diesem Falle Hitlers, nicht stillte, sondern lediglich nährte.

So lief es anlässlich der Krimannexion 2014 wie heute beim Einmarsch der Russen in die Ukraine. Abgesehen davon, dass die historischen Analogien stets hinken, sind schon die Ausgangsmuster strittig. Ist das „Hineinschliddern“ die korrekte Erzählung des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges? Und ist die Ukraine 1938, also Putin Hitler?

 

Aber die Parallele Putin zu Hitler wird doch immer häufiger gezogen. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder arbeitet sogar daran, ihn zum Faschisten zu machen?

Ich halte das für eine Inflationierung des Faschismusbegriffs für geschichtspolitische Zwecke. Putin hat keine wie auch immer tragende Ideologie oder Weltanschauung, er stützt sich nicht auf eine aktive Massenbewegung mit einer entsprechend organisierten Partei für einen totalen Staat. Putin ist ideologisch flexibel, innenpolitisch ein autoritärer Reaktionär, der sich nationalistischer, völkischer Elemente russischer Bauart bedient. Er sucht nach seiner zweiten Amtszeit in den Tiefen der russischen Geschichte nach anschlussfähigen Elementen für eine identitätsstiftende Geschichtspolitik. Die findet er in der mystisch-asiatischen Vergangenheit, sie ist der Kontrapunkt zum dekadenten Westen und seinen aktuellen kulturellen Entwicklungen in Europa, die allesamt als Niedergang und Abfall vom einzig echten russisch-orthodoxen Christentum gelten, dessen Hüter nun Russland wird.

Und außenpolitisch bewegt er sich ganz in der Tradition des großrussischen Imperialismus, der alle seine Nachbarstaaten erst einkassierte und sie dann als seine ewigen Schutzschilder gegen andere Mächte betrachtet. Räume spielen in Russlands Außenpolitik eine viel bedeutendere Rolle als sonst wo.

Köpfe aus Epochen: Gibt es Kontinuitäten?

 

Und wie erklärt sich denn der doch offenkundige Rückhalt Putins in der Bevölkerung?

Mit Putins Amtsantritt als Präsident endet 2000 das Jahrzehnt Jelzins, das nicht nur von großrussischen Nationalisten zu Recht als Niedergang und Demütigung Russlands empfunden wurde. Jelzins Erbe: Während ein Drittel der russischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebte, stiegen die Oligarchen nicht nur in die kleine Gruppe der reichsten Männer der Welt auf, sie nahmen mit ihrer persönlichen Nähe zu Jelzin unmittelbaren Einfluss auf die russische Innenpolitik. Außenpolitisch versank Russland dagegen in die Bedeutungslosigkeit. Aus der atomaren Supermacht UdSSR wurde das sprichwörtliche „Obervolta mit Atomsprengköpfen“. Zum nachholenden Entwicklungsland degradiert spielte Russland in der Weltpolitik nur noch eine Randrolle.

Mit dem Kampf gegen das damalige Oligarchensystem erwarb sich Putin breite Zustimmung in der Bevölkerung. Im Zentrum stand der „Pakt“ von 2000, er regelt das Verhältnis zu den Oligarchen neu, indem er auf eine Revision der postkommunistischen Eigentumsverhältnisse verzichtet und dafür die politische Loyalität der Oligarchen einfordert. Fortan bestimmen die Oligarchen nicht mehr die Politik, sondern die Politik, wer als Oligarch bestehen darf.

Rentner bekamen wieder ihre Renten, Beamte ihre Gehälter. Der Kampf gegen die mafiotischen Strukturen und die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung erfolgte mit Methoden weit jenseits rechtsstaatlicher Kriterien westlicher Provenienz. Es entstand ein auf den Machtzuwachs des Präsidenten zugeschnittenes politisches System einer „gelenkten Demokratie“ mit regulierter Parteienvielfalt ohne echten Pluralismus, eine autoritäre Präsidialdiktatur, die sich auf die immer mächtiger werdenden „Sicherheitsdienste“, also Geheimdienste im innern und Militär nach außen stützt. Der Staat erhielt seine Handlungsfähigkeit zurück und Russland kehrte als anerkannter, wenn auch eigensinniger Akteur auf die Weltbühne zurück. Und Putin werden diese Erfolge auch persönlich gutgeschrieben, wofür eine kontinuierliche Zustimmung von zuweilen drei Viertel der Bevölkerung Zeugnis ablegt.

Dazu gelang es Putin, Russland zur „Energiesupermacht“ aufzubauen, die für ein erhebliches Wirtschaftswachstums sorgte, das – ungleich verteilt –  Wohlstandsoasen wie beispielsweise Moskau hervorbrachte. Gesellschaftspolitisch steht Putin für einen Staatskapitalismus in Russlands Diensten. Dabei geht es immer weniger um Wirtschaftswachstum und Wohlstandsmehrung der Bevölkerung als Legitimationsquelle. Die bezieht er aus anderen Quellen wie nationaler Stolz, Respekt und Wiedergeburt Russlands als internationale anerkannte Weltmacht auf Augenhöhe mit andern. Die dafür relevante Währung ist der systematische Aufbau militärischer Macht.

 

Und was bestimmt dann Putins Außenpolitik? Er war ja nicht immer antiwestlich eingestellt.

.Putin suchte anfangs außenpolitisch einen kooperativen Weg mit dem Westen, wie er in seiner damals bejubelten Rede im deutschen Bundestag 2001 darlegte. Putin bot nach dem 11. September 2001 den USA im „war against terrorism“ weitgehende Unterstützung an.

Für den Wandel in der Außenpolitik unter Putin gibt es zwei unterschiedliche Erklärungen. Die  eine sieht darin primär innenpolitische Gründe, die andere eine Reaktion  auf Veränderungen in der  internationalen Politik – speziell der USA.

Die Erklärung, dass Putins Politik durch innenpolitische Probleme bestimmt sei, die dann mit außenpolitischen Abenteuern bis hin zur Krimannexion kompensiert werden mussten, sieht darin nur Blitzableiter um das Volk mit nationalen Träumen bei Laune zu halten. Anstatt die Wirtschaft voranzubringen, werden als legitimierende Erfolgsquellen für den Präsidenten die autoritäre innere Ordnung einerseits und die Stärkung des russischen Selbstwertgefühls mit geschichtspolitischer Indoktrination im Verbund mit dem Segen der russisch-orthodoxen Kirche andererseits aufgebaut und alle Probleme im eigenen Land wie im äußeren Nahbereich in Gestalt von bunten Revolten in den Verantwortungsbereich feindlicher auswärtiger fremder Mächte, also dem Westen delegiert. Die Aggressionen nach außen sind Ablenkungsmanöver von inneren Problemen und dienen allein Putins Machterhalt.

 

Das ist wohl kaum eine ausreichende Erklärung.

Wohl nicht, aber die Externalisierung selbstgemachter Probleme als Erfindungen oder Verursachungen feindlicher auswärtiger Mächte, die dann als Feinde Russlands zu „Nazis“ gemacht werden, hatte ja schon vor der Ukraine heute Vorläufer 2004 bei der „Orangenen Revolution“,  in Georgien 2008, 2013 beim Euromaidan und 2020 in Belarus.

Dass immer mehr Menschen Russlands autokratisch, autoritäres Herrschaftssystem bei sich nicht mehr akzeptieren und nach Freiheiten suchen, die nun einmal westlicher Bauart sind, das ist ja das, was diese Putins einfach nicht begreifen und nicht begreifen können, weil sie sich dann selbst aufgeben müssten. Personifiziert man das an Putin, dann ist die „Orangene Revolution“ in der Ukraine, sicherlich vor dem Hintergrund ihrer oben dargelegten besonderen geopolitischen Bedeutung, ein erheblicher Einschnitt für seine Weltsicht. Es mehren sich bei ihm Andeutungen eines geopolitischen Revisionismus statt „Sicherheit“.

Das heißt aber nicht unbedingt, dass das Verhalten des Westens – und hier kommt die USA  in besonderer Weise ins Spiel – in den nuller Jahren, der Amtszeit von George W. Bush jr. -, keine Rolle spielt. Denn hier erfährt die amerikanische Außenpolitik eine dramatische Neuausrichtung, die auch den Westen erschütterte, spaltete und für die Transformation zu einer neuen Weltordnung eine wichtige Etappe war.

 

Und worin bestand diese „Neuausrichtung“ der amerikanischen Außenpolitik?

Putins weltweit wirkende Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ist ein Ausdruck und Beleg dafür, dass die Außenpolitik der Bush-Administration ein Fass zum Überlaufen brachte. John Mearsheimer, einer der führenden Vertreter der realistischen Schule der internationalen Politik in den USA,  hat Putins Politikwechsel in diesem Sinne als Reaktion auf den Triumphalismus der USA unter Bush jr. interpretiert.

Auf den Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001 reagierte die Bush-Administration mit dem „war against terrorism“. Putins Russland erklärte – wie erwähnt –  Kooperationsbereitschaft in diesem Kampf, stimmte dafür sogar amerikanischen Stützpunkten  in Zentralasien zu. Die Bush-Administration interessierte sich für diese Kooperationsbereitschaft herzlich wenig. Von Beginn an kamen Signale, die Nato-Osterweiterung zu forcieren und unter dem Beifall der osteuropäischen Länder, Polen und die baltischen Staaten voran, wurde für einen Nato-Beitritt Georgiens und der Ukraine geworben, der dann 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest am Widerspruch Frankreichs und Deutschlands scheiterte.

Dazwischen aber liegen dramatische Veränderungen der amerikanischen Außenpolitik. Die Clinton-Administration folgte noch dem Modell des gutmütigen Hegemons, der gestützt auf „Soft-power“ die Prinzipien eines multilateralen, liberalen regelbasierten Internationalismus propagierte. Sie beging mit der Nato den „Sündenfall“ des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Serbien, den Außenministerin Albright dann als Selbstlegitimierung der Nato für weltweite Einsätze zur Regel erheben wollte, damit aber an Deutschland scheiterte. Gegenüber Russland suchte man mit dem „Russland-Nato-Rat von 1998“, als Kompensation für die erste Nato-Beitrittswelle Polens, Ungarns und Tschechiens, immerhin Russland an den Katzentisch westlich dominierter Sicherheitspolitik zu setzen.

Der Krieg gegen den nicht eindeutig identifizierbaren Feind Terrorismus mündete zunächst in dem völkerrechtswidrigen Brachialakt des Kriegs gegen den Irak. Er spaltete die Nato in Willige und Unwillige, letztere waren die Neinsager Deutschland und Frankreich im UN-Sicherheitsrat, die damit an der Seite Russlands standen.

US-Verteidigungsminister Rumsfeld teilte Europa in ein neues gegen ein altes, und die Welt in einen Kampf USA gegen UNO. Sogar die Nato wurde marginalisiert, weil die USA nicht die Allianz suchte, sondern Alliierte für ihre Mission, denn sie bestimmte die Allianz und nicht umgekehrt.

 

Und was war die Mission?

Man nutzte Nine-eleven als Katalysator für den Ausbau und eine dauerhafte Absicherung der einzigartigen Machtposition der USA. Man glaubte Amerika stünde auf dem Zenit seiner globalen Macht für ein neues amerikanisches Jahrhundert, dass nicht mehr mittels Soft-power als wohlmeinender Hegemon zu verwalten sei, sondern offensiv durch Demokratieexport auch unter Einsatz von militärischen Mitteln offensiv durch Regime-changing, also Beseitigung missliebiger Potentaten, ausgebaut werden sollte. Solche Bereitschaft zum offensiven Demokratieexport fand in Europa geteilte Zustimmung, interessanterweise vorzugsweise in ehemaligen „Ostblockländern“.

Der einflussreiche neokonservative Publizist Robert Kagan sah den Westen gespalten. Während die  „pazifistischen“ Europäer sich mehrheitlich auf dem Planeten Venus einrichteten, erkannten die Amerikaner auf dem Mars die Zeichen der Zeit. Die Krone der Militarisierung des Kreuzzuges gegen die „Achse des Bösen“, der namentlich erwähnten Zielscheiben der geplanten Befreiungsaktion der Völker von ihren Unterdrückern, wurde die im September 2002 als „Bush-Doktrin“ in die Geschichte eingegangene Reklamierung eines Rechts auf einen „preemptiven“ Angriff, bei bloßer Vermutung einer Gefährdung amerikanischer Sicherheitsinteressen. Der transatlantisch orientierte Historiker Heinrich August Winkler, Autor der vier Bände zur Geschichte des Westens, stellte entsetzt fest, mit diesem Recht auf Präventivkriege habe die USA alles liquidiert, wofür sie eigentlich als Hüter des Rechts einmal erfolgreich angetreten seien.

All dies einschließlich der faktischen Ausdehnung der Nato gen Osten 2004 durch den Beitritt der baltischen Staaten an die direkte Grenze zu Russland und der Anspruch auf eine Weltordnung zu amerikanischen Bedingungen auch für die inneren Ordnungen der Staaten bildet die Folie für die Aufsehen erregende Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die all das öffentlich als Anmaßung der USA demonstrativ auf die Anklagebank setzte. Was westliche Medien als Skandal und gar feindlichen Akt interpretierten, war eigentlich auch bezeichnend für jene öffentliche Meinung, die Amerikas Kurs immer noch in die transatlantische Tradition einspeisten.

 

Was war dann Putins politische Reaktion und die Neuausrichtung des Westens

Putins politische Reaktion auf diese Entwicklung der amerikanischen Außenpolitik erfolgte dann mit seiner Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 nach vierjähriger verfassungsgemäßer Unterbrechung als sie von Obama schon relativiert worden war  mit einer dezidierten außenpolitischen Kursänderung.

Genährt durch das weitere völkerrechtswidrige Regime-Changing in Libyen 2011, dem Syrienkonflikt 2012 und der Ignoranz Obamas gegenüber Russland, das sei nur noch eine irrelevante Regionalmacht, wurde der Westen und alles, was kulturell mit ihm zu verbinden war, immer intensiver zum politischen Gegner. Der systematische Ausbau einer Wirtschaftszone Eurasien als Gegengewicht zur EU wurde der erweiterte Traum als Kernbestand einer neuen fragmentierten Weltordnung, in der Russland wieder auf Augenhöhe mitmachen könnte.

 

Die Krimannexion war dann eine Steigerung der Eskalationsbereitschaft?

Das könnte man auch im Kontext der gesamten Ukrainekrise 2013/14 so sehen. Dass Putin sich wenig für die Regeln des Völkerrechts interessiert, wenn sie seinen Interessen entgegenstehen, demonstrierte er schon in der Georgienkrise 2008. Da der Westen hier im Glaskasten saß, fiel es ihm nur mit der Retourkutsche leichter, man solle das Steinewerfen unterlassen. Er war ja kein Verteidiger der internationalen Rechtsordnung, sondern brach sie mit der Krimannexion in der ihm eigenen Weise. Der Fingerzeig auf seine Ankläger diente nicht einmal der Entlastung, sondern nur als Verweis darauf, dass das, was ihr könnt, kann ich schon lange. Und dann folgte ja noch die Teilinvasion in die „prorussischen“ Ostgebiete der Ukraine, den Donbas.

 

Die faktische Reaktion des Westens fiel ja gemessen an der Empörung eher gemäßigt aus?

Die Krimannexion und der Einzug in den Donbas war zwar eine Zäsur, weil die unmittelbare militärische Besetzung bzw. Annexion eines Nachbarlandes als Rückfall in einen alten Imperialismus auch als Neuland interpretiert werden konnte. Zudem war es alles Teil des Gesamtkomplexes der Ukrainekrise 2014 und die zeigte nicht nur die Einmischungen von außen auf beiden Seiten, sondern zugleich eine damals in sich tief gespaltene Bevölkerung, die in der Wahl zwischen EU oder „Eurasische Wirtschaftsunion“  als Konflikt zwischen Ost- und Westukraine, Jung und Alt bis hin zum Sprachenkonflikt in mindestens zwei Teile zerfiel.

Interessant finde ich, dass die schreiende soziale Ungerechtigkeit, die Teilung in arm und reich, die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse mitsamt dem Oligarchensystem, dies höchstens als Korruption, bei der Neuordnung des Landes keine oder jedenfalls nur eine untergeordnete Rolle spielte. Aber so war es ja bei allen osteuropäischen Revolten und Absetzbewegungen vom alten Regime, gesellschaftsverändernde Ideen begrenzten sich auf die Einführung der von der EU oktroyierten Marktwirtschaft.

Der eigentliche Grund für die „gemäßigte“ Reaktion des Westens war meines Erachtens  einerseits die innere fragile politische Lage in der Ukraine, die durch weitergehende Handlungen auch in einem offenen Bürgerkrieg hätte enden können.

Was heute im Nachhinein als ein großer Fehler dargestellt wird, dass man hier Putin hätte energisch Paroli bieten müssen, weil man hier spätestens wissen musste, wer Putin ist und was er wolle, unterschlägt die realen Reaktionsmöglichkeiten. Was außer Sanktionen hätte der Westen auffahren können? Eine militärische Intervention hatte Obama, nicht weil er seine Vorschusslorbeeren des Friedensnobelpreises abarbeiten musste, ausgeschlossen und ohne die USA konnte es keine militärische Drohkulisse des Westens geben, die Putin hätte beeindrucken können.

Man bedenke, als Putin die Krim annektierte hatte die Abschreckung eigentlich schon versagt und nun galt es nicht mehr etwas zu verhindern, sondern Fakten umzukehren, was schon rein militärisch eine andere Situation ist. Obama hatte zuvor erkennen lassen, dass China die eigentliche Herausforderung sei, Russland eine unbedeutende Regionalmacht sei und die künftige Weltpolitik im pazifischen Raum entschieden werde. Denkt man dann noch die chaotische Außenpolitik seines Nachfolgers Trump hinzu, dann wird die Kritik an der angeblich laschen Reaktion noch realitätsfremder.

So blieb es bei Sanktionen und die prorussischen Eingriffe im Donbass wurden an die Europäer, speziell Deutschland, Frankreich und Polen als „Normandie-Format“ mit dem Minsker Abkommen delegiert, um den Konflikt einzuschmelzen. Die Sanktionen bewirkten nachweislich keine wie auch immer geartete Verhaltensänderung des Delinquenten Putin.

 

Wäre demnach die Kritik an der deutschen Außenpolitik und die Energieabhängigkeit von Russland eine Scheindebatte?

Ob härtere, insbesondere die Energielieferungen betreffende Sanktionen, mehr Erfolg gebracht hätten, steht in den Sternen. Gleiches gilt auch für das derzeitige Sanktionsregime. Noch sind keine Wirkungen auf eine Änderung russischen Verhaltens erkennbar. Es scheint hinreichende Kompensationsnischen zu geben, denn wie oben schon erwähnt, ist es global gesehen mit der Sanktionsphalanx gegen Russland nicht so weit her und der Westen nicht mehr so mächtig, es durch Druck zu erzeugen.

 

Ist die Politik des Wandels durch Handel denn gescheitert?

Der Glaube, dass Handel den Frieden und Zölle den Krieg bringen, dieser alte liberale Glaubenssatz war mir nie geheuer. Auch die weitergehende These, wechselseitige ökonomische Abhängigkeit der Staaten garantiere den Frieden, ist schon mit dem Ersten Weltkrieg widerlegt worden.

Gegenwärtig lehrt das internationale Handelssystem paradoxerweise etwas ganz anderes. Sich abhängig zu machen von bestimmten Staaten, kann heißen, dass man dann bei politischen Fehlverhalten zum Empfänger von Sanktionsregimen werden kann. Ich halte das nicht gerade für eine Einladung zum Handel treiben. Das sehen die Grünen auch so und fordern nun eine „werteorientierte Handelspolitik“, also Handel nur mit Ländern, die Menschrechte und Demokratie achten. An sich nicht schlecht und müsste noch um einen „fairen und gerechteren Handel“ erweitert werden. Ob das realistisch ist, ist einen andere Frage, denn viele für „unsere“ Wirtschaft unerlässliche Bodenschätze und Rohstoffe liegen nicht unbedingt dort, wo die richtigen Werte herrschen.

Als Fehlannahme erweist sich die Formal vom „Wandel durch Handel“ am Beispiel Chinas. Der lange gehegte Glaube der USA, mit der Förderung des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands auch durch den Handel, werde China mehr oder weniger zu einem Abziehbild des Westens, weil mit dem Wohlstand eine breite und selbstbewusste Mittelschicht entstünde, die auch ihre politischen Mitspracherechte einklagen und so zur Demokratisierung führen würde. Am Ende kämen die Zwillingsgeschwister Kapitalismus und Demokratie heraus. Das war Unsinn, heute wissen wir dagegen, was man auch schon vorher wusste, Kapitalismus braucht keine Demokratie. Zu lernen bleibt dagegen, dass es Demokratie auch ohne Kapitalismus geben muss.

 

Warum erfolgte Russlands Angriff gerade jetzt?

Wahrscheinlich glaubte er, dass er den Westen auf seinem schwachen Fuß erwischen könnte. Innerlich zerstritten, wie die Hirntodformel der Nato nahelegte, wenig einsatzfreudig, wie der panikartige Rückzug aus Afghanistan demonstrierte, überall grassierende innere Zerfallserscheinungen wie in Trumps Amerika, wachsender Rechtspopulismus in Europa. Dass er hier den Mephisto spielen würde, der „als Teil von jener Kraft, die stets das Böse und will und stets das Gute schafft“ die EU, die Nato, den Westen vereint und die Ukraine zur modernen Willensnation kreiert, hat er wohl nicht gewollt, aber erzeugt.

Sicher ist nur, dass für Putins Russland die Ukraine nicht irgendetwas ist, man oben ausgeführten Gründen hergeben wird. Es geht für dieses Russland um Sein oder Nichtsein.

 

Wo siehst Du denn dann die Kriegsziele und wie könnte der Krieg dann überhaupt beendet werden?

Die Kriegsziele aller Akteure sind variabel gehalten und orientieren sich am Kriegsverlauf. Wenn die Ukraine einen Status quo ante, also Rückgewinnung der Krim, anpeilt, ist das für die Mobilisierung der Widerstandskräfte nachvollziehbar, realistisch ist das nicht, weil es entweder Putins militärisch-politische Kapitulation auf dem Schlachtfeld oder sein politisches Ende durch Putsch oder einen Volksaufstand, also Regime-changing in Russland voraussetzt. Außer dem Putsch fehlt mir für alles andere die Phantasie.

Bis zu welchem Kriegsziel, dass nach dem Souveränitätsprinzip, um dessen Erhalt es ja letztlich geht, allein die Ukraine definieren kann, die „Alliierten“ Unterstützung gewähren, ist bei zunehmender Dauer und zunehmenden Kosten schwer zu kalkulieren. Ich persönlich vermute allerdings, dass der entscheidende Faktor in diesem Spiel der Hauptwaffenlieferant ist: die USA und nicht die Europäer, auch wenn sie mit ihrem Überbietungswettlauf bei der Lieferung „schwerer Waffen“ einen gegenteiligen Eindruck erzeugen.

Aber hier geht es auch noch  um etwas anderes. Hier wird vorab geklärt, wer die mögliche Schuld an einer wie auch immer entstehenden Niederlage der Ukraine trägt, also nicht genug für den möglichen Sieg getan hat. Da braucht man bei der gegenwärtigen Schuldzuweisung nicht viel Phantasie, dass neben der Ukraine selbst vor allem die baltischen Staaten und Polen Deutschland im Visier haben.

 

CDU- Vertretern wie Merz, Kiesewetter oder Wadepuhl argumentieren hier gegen die Regierung, bzw. vor allem gegen die SPD genauso.

Ja, das könnte man so sagen. Permanent wird der Eindruck erzeugt, wobei auch etliche Medien nicht unterschlagen werden sollten, personifiziert durch Scholz würden ganz wichtige Waffen für die Verteidigung der Ukraine bewusst zurückgehalten und dann die Schlussfolgerung nahe gelegt,  hier wolle einer den „Sieg“ – was immer das dann ist – der Ukraine nicht. Und als Grund dann angedeutet, hier wolle einer die alten Illusionen der Entspannungspolitik auch mit Putin noch retten.

Da hier der Bogen dann sogar zurück bis zur Ost- und Entspannungspolitik Brandts gezogen wird, muss man deutlich sagen, hier geht es auch Geschichtsrevisionismus. Das zentrale Verdienst dieser Politik bestand und besteht darin, mit der Anerkennung der faktischen Grenzen in Europa eine neue Sicherheitslage insbesondere für die Osteuropäer geschaffen zu haben, die nun keinen deutschen Grenzrevisionismus mehr befürchten mussten. Das musste gegen den erbitterten Widerstand von CDU und CSU durchgesetzt werden und ohne diese „Flurbereinigung“, die Sicherheit füreinander schaffte, hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Die Folge war auch ein wenig mehr Bewegungsspielraum im ehemaligen Ostblock.

 

Gibt es für das Verhalten der CDU-Spitze eine historische Parallele?

Da drängt sich mit dem gebotenen Vorbehalt historischer Analogien das auf, was man als „Dolchstoßlegende“ bezeichne. Am Ende des Ersten Weltkrieges, so lautet eine in konservativen und rechtsradikalen Kreisen verbreitete Legende, haben deutsche Revolutionäre angeblich per „Dolchstoß“ in den Rücken des tapfer kämpfenden deutschen Frontsoldaten die Niederlage des Reiches im Ersten Weltkrieg verursacht. Modell stand dafür der heimtückische Dolchstoß des  Hagen von Tronje in den einzig verletzbaren Teil des Helden Siegfried in der Nibelungensage. Zukünftig könnte insbesondere die deutsche Sozialdemokratie für eine Niederlage der Ukraine verantwortlich gemacht werden.

 

Was ist Deine Einschätzung, wie der Krieg ausgehen wird?

Das ist schwer zu sagen, denn das hängt von der Entwicklung auf den Schlachtfeldern ab und da gibt es selbst unter den zahlreichen Experten eine extrem Bandbreite an ganz unterschiedlichen Einschätzungen. Was ich mir als Laie in Militärfragen nicht vorstellen kann, ist, wie es der Ukraine letztlich gelingen soll, das schon verlorene Terrain – wie die Krim – wieder zurück zu erobern.

Ich denke momentan lautet für eine kaum vorstellbare Verhandlungslösung die Frage: „Wie  sieht ein Sieg der Ukraine aus, der keine Niederlage Russlands ist.“ Wäre es das Ergebnis eines Ermattungskrieges? Irgendwann wird eine Seite oder gar beide nicht mehr können, nicht mehr wollen? Das könnte noch ein realistisches Szenario sein.

Ich befürchte, die Zeit spielt für den Aggressor. Russland Krieg zeigt mit seiner blinden Zerstörungswut, hier geht es nicht um Eroberung von Gütern, sondern allein um Zerstörung, Zermürbung durch dauerhafte Verbreitung von Angst und Schrecken gegenüber der Zivilbevölkerung. Warum bombt man Städte in Schutt und Asche in einem Terrain, dass man doch „erobern“ will? Es geht offenkundig auch nicht darum, die gesamte Ukraine zu gewinnen, sondern darum den Krieg in einen langwierigen Schwelbrand dauerhaft zu halten, ihn nach Belieben mal wieder hoch zu fahren und zu senken, aber stets zu verhindern, dass die Ukraine zur Ruhe kommt, um das Land neu oder wieder aufzubauen. Das halten die Besatzer länger durch als die Besetzten.

Das Ergebnis ist klar, die Ukraine wird dauerhaft destabilisiert, politisch als handelndes Subjekt aus dem Verkehr gezogen, das aber alle beschäftigt. Ihr Überleben bindet Kräfte und Ressourcen, produziert mit der Zeit erwünschte Effekte wie Streit unter den Verbündeten, Folgeprobleme bei den Alliierten durch Flüchtlinge. Kurzum: die EU dürfte der bevorzugte Kandidat für die aus Moskauer Sicht positiven Kollateralschäden sein, die den Sargnagel an die EU setzen sollen.

 

Du hast in mehreren deiner Beiträge das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“, das von Willy Brandt und vor allem von Egon Bahr entwickelt wurde, als vorbildlich bezeichnet. Gilt der Satz: Es gibt Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland! immer noch?

Im Prinzip ja, aber das ist nach Lage der Dinge momentan wohl noch weit weg. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit war ursprünglich als Lösung eins Problems der atomaren Abschreckung konzipiert. Das gemeinsame Interesse am Überleben war die Voraussetzung und Klammer. Jenseits des zu bändigen nuklearen Schreckens, den man insbesondere in Osteuropa gerade relativiert, weil er nur Putin nutze, fehlt gegenüber Russland nun jede Gemeinsamkeit. Leider gibt er dem Satz aus Schillers „Wilhelm Tell“ wieder Nahrung: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!“ Wir werden uns auf einen neuen Dauerkonflikt mit Abschreckung und allem, was dazu gehört einstellen müssen. Es wird kein neuer Kalter Krieg, schlimmer noch, denn die Schwellen zum heißen Krieg werden sinken und zum ständigen Begleiter. Die Frage ist, wird Russland irgendwann nur Rivale oder ein dauerhafter Gegner?

 

Wie könnte sich denn deiner Ansicht nach eine neue Sicherheitspolitik darstellen? Gibt es dafür auch historische Orientierungspunkte?

Ob das eben dargelegte Szenario so oder ähnlich eintritt, ist ja glücklicherweise nicht sicher. Wenn die Umstände sich ändern und sich die Gelegenheit ergibt, sollte man natürlich versuchen, zu einem vernünftigen europäischen Sicherheitssystem in der Tradition der Brandtschen Entspannungspolitik zu kommen, die zumindest wieder eine Säule neben, optimalerweise an Stelle der militärischen Abschreckung bilden sollte. Sie ist auch dann möglich, wenn die Wertvorstellungen der Rivalen nicht identisch sind.

 

Welche Rolle soll Europa spielen: Anhängsel der USA oder mit eigenständigem Weg. Du hast ja man als Devise von der „Europäisierung Europas“ gesprochen. Wie soll die aussehen?

Die „Europäisierung Europas“ folgt der simplen Erkenntnis, dass jeder einzelne europäische Staat – auch der mächtigste – zu schwach ist, um zum weltpolitischen Akteur zu werden. Nur ein geeintes Europa vermag seine Stimme, seine Werte und Interessen im globalen Spiel der Kräfte Gehör zu verschaffen. Das heißt, Europa ist kein endogener Prozess, der zu einer Einheit führt, sondern das globale Umfeld erzwingt eine Einheit aus letztlich machtpolitischen Erwägungen.

Und es kommt noch eine weitere Erkenntnis hinzu. Der Krieg gegen die Ukraine demonstriert die Schwäche Europas. Europa ist in diesem Krieg eher ein Zaungast, ohne die USA wäre die Ukraine wahrscheinlich nicht mehr. Das zeigt nicht nur die völlige sicherheits- und militärpolitische Abhängigkeit der EU von den USA. Da würde nicht einmal eine atomare Bewaffnung Europas helfen, von der manche reden. Europa bringt es nicht zu einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“, wo also sollten die Atomwaffen stehen  und von wem sollten sie kontrolliert werden?

Und es kommt noch etwas hinzu: Nach den Erfahrungen mit Trump, mit Blick auf die innere Entwicklung in den USA schon bei den nächsten anstehenden Wahlen, können wir Europäer uns der momentanen Eintracht im Westen nicht einmal mehr sicher sein. Europa muss sich aus Eigeninteresse von den USA unabhängig machen, weil der große Bruder kein verlässlicher Partner mehr ist.

 

Ist das heutzutage nicht eher ein Wunschdenken? Allein zwischen Lissabon und Berlin bis hin von Warschau bis Budapest scheinen manchmal Welten zu liegen. Passt das denn tatsächlich ineinander?

Man kann das sogar noch weiter zuspitzen. Europa wird sich mit dem Ukrainekrieg verändern. Es wird östlicher. In dem Maße wie das Verhältnis zu Russland, die Bedrohung an der „Ostfront“ dominant ist, werden die östlichen „Frontstaaten“ nicht nur die außenpolitische Agenda der EU bestimmen und ihre spezifischen Sicherheitsinteressen und historischen Erfahrungen werden Europa führen.

Das wird im Laufe der Zeit zu absehbaren Zwistigkeiten innerhalb Europas führen, zumal die Osterweiterung der EU das einzige denkbare Wachstumsfeld ist und da werden die Interessen sich trennen. An die Kosten des Wiederaufbaus der Ukraine und die sich daraus ergebenden innereuropäischen Probleme mag ich gar nicht denken.

Die von mir so genannte „Europäisierung Europas“ ist nicht zwingend identitätsstiftend. Die Aufgabe ist mit einem von Identitätskrisen und inneren Differenzen geschwächten Europa konfrontiert. Es taumelt zwischen Zerfall in nationale Egoismen und supranationalen Träumen hin und her. Ein Europa jenseits der Nationalstaaten, gar eine „europäische Republik“ wäre in der Tat ein kühner Sprung, aber er überwindet mitnichten die angeblich überholte Staatenwelt, in die sich das größere Europa dann global einreihen würde. Ein europäisches „Wir-Gefühl“ wird sich nicht gegen die Nationen herausbilden, sondern nur mit ihnen und durch sie.“, so hat der Historiker Heinrich August Winkler den Prozess einmal auf den Punkt gebracht. Schließlich ist Europas Vielfalt das Ergebnis gewachsener Nationalstaaten, deren kulturellen Besonderheiten gerade durch die Neumitglieder nach der Wende neue Bedeutung erlangen. Die Vereinigten Staaten von Amerika können für Europa dabei kein Vorbild sein.

 

Und welche Rolle soll Deutschland dabei spielen?

Mit der Notwendigkeit einer Vertiefung des vereinten Europas wird von Deutschland eine führende Rolle in Europa erwartet und verlangt. Deutschland steht nicht mehr im Verdacht eines Rückfalls in die Barbarei, mittlerweile gilt es als das stabile Musterland des liberalen Westens. Seine ökonomische Potenz weckt die Erwartungen an einen klassischen Hegemon, der kollektive Güter für die Allgemeinheit bereitstellt. Abseits der deutschen Bedenken, ob man dergleichen  aufbringen könne und wolle, kommt mit einer deutschen Führungsrolle in Europa dennoch eine Befürchtung auf, die der amerikanische Politikwissenschaftler Robert Kagan ins Spiel bringt. Eine Renationalisierung Europas würde die deutsche Frage erneut aufwerfen.

 

Wie ist das gemeint?

Nato und die EU waren durch die Kontrolle der geopolitischen Machtposition zwischen Ost und West die Antwort auf die alte deutsche Frage. Um der Sorge einer Wiederbelebung nationaler Macht zu begegnen, ist hohe politische Kunst gefordert, damit „Deutschland zum Subjekt des europäischen Systems“ wird, „ohne dass die anderen europäischen Länder dadurch in Objekte verwandelt werden“, formulierte es der britische Historiker Brenden Simms. Es dürfte kein deutsches Europa werden, aber sollte die EU scheitern, stände in Europa die von Robert Kagan eruierte neue deutsche Frage auf der Tagesordnung. Die EU ist neben der Nato die einzige Möglichkeit, Deutschlands Macht einzubinden und dies müsste Deutschland als Führungsmacht selber gewährleisten.

 

Mit welchen weltpolitischen Konstellationen zu rechnen ist, bleibt zwangsläufig spekulativ. Aber was ist Deiner Einschätzung nach wahrscheinlich?

Ich habe versucht, die Bedeutung der Ukraine in ihre weltpolitische Rolle einzubinden und damit sollte klar werden, dass dieses Problem noch dadurch verstärkt wird, dass wir zugleich in einem Prozess der Übergangs zu einer anderen, noch offenen Weltordnung sind. Meine Befürchtung ist, dass das ungemütlich wird. Wir gehen eher stürmischen, krisenanfälligen Zeiten von Umbrüchen und Konflikten einer instabileren Welt(un)ordnung entgegen, wo um Neues gekämpft wird. Von der „Internationalen Staatengemeinschaft“ oder der „Weltgemeinschaft“ wird man schlimmstenfalls nichts mehr hören.

Dabei bräuchten wir genau das Gegenteil, um die großen Herausforderungen der Menschheit, Klimawandel, Armut und Hunger, die ungeheure Ungleichheit zu überwinden. Stärkung internationaler Institutionen statt ihrer Schwächung, das alles wären „Ziele, auf’s Innigste zu wünschen.“

 

Und wie ließe sich die Frage nach dem Ende des Westens beantworten?

Die Zukunft des westlichen Modells wird maßgeblich davon abhängen, ob es gelingt, die großen Herausforderungen wie den Klimawandel, wachsende soziale Ungleichheiten, Kriege und Massenmigration mit ihren Folgen für den reicheren Norden zu bewältigen. Das bestehende Welthandelsregime muss zu einem fairen Handel entwickelt werden, um die globalen sozialen Ungleichheiten zu reduzieren und den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu sichern. Die Chancen dafür stehen gut, denn die Globalisierung, wie wir sie in den letzten Jahrzehnten erlebten, neigt sich als ökonomisches Ordnungsmodell dem Ende zu. Die Weltentwicklungsziele im Geiste nachhaltigen Wirtschaftens sind gute Ansätze. Er müsste ein zukunftweisendes politisches und gesellschaftliches Projekt entwickeln, das attraktiv ist und andere zum Mitmachen einlädt. Das wäre eine ganz neue Form der Hegemonie und ein guter Beitrag zum neuen Wettkampf konkurrierender Systeme gegenüber den autoritären Rivalen.

 

Dieses ehrbare Ziel verlangt eine zukunftsfähige Demokratie als Alternative zu autoritären Systemen. Wie sollten die Strukturen eines solchen Modells aussehen?

Es müsste eine „starke“ Demokratie sein, die getragen von einer lebendigen Zivilgesellschaft mit dem Primat der Politik die erforderliche gesellschaftliche Gestaltungmacht auch auf Lebensbereiche ausdehnt, die immer noch demokratiefreie Zonen – wie die Wirtschaft – sind.  Es müssten die Opfer der jahrzehntelangen Ökonomisierung aller Lebensbereiche im Interesse einer gemeinschaftsorientierten und humanen Lebensgestaltung im Geiste  einer solidarischen Gemeinwohlökonomie neu gestalten. Sie muss ermöglichen, dass alle ihre individuellen Freiheitsrechte auch leben können. Kurzum: Es müsste eine soziale Demokratie der Teilhabe aller sein.

 

Wie sähe eine solche Vision denn angesichts der aktuellen internationalen Einbettung Deutschlands und Europas aus?

Die Zukunftsaufgabe einer sozialen Demokratie der Teilhabe aller geht einher mit der kulturellen Herausforderung, dass der Westen zur Lösung der globalen Probleme seinen Lebensstil, sein bisheriges ökonomisches Wachstumsmodell und das ihm zugrunde liegende ökonomische System unbedingt reformieren muss. Positiv gesagt: In der dafür erforderlichen Kraft, sich selbst zu revolutionieren, könnte der kulturelle Kern des Westens, die sich selbst reflektierende Aufklärung, nicht am Ende, sondern vor einem neuen Anfang stehen. Dieses Modell des Westens wäre gelebte Demokratie und die Wiedergewinnung des Politischen. Utopien sind vielleicht nicht immer hilfreich und ausreichend, aber die Suche nach Alternativen ist auch tagesaktuell zwingend und das Gebot der Stunde.

 

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