Sie ist die wichtigste Kinderbuchautorin der Weimarer Zeit, ihre Bücher verkaufen sich in sieben Millionen Exemplaren, ihre „Nesthäkchen“-Bände stehen in jedem deutschen Mädchenzimmer. Umgebracht wird sie trotzdem …
johanna else ist eines von vier kindern des jüdischen tabakfabrikanten emil ury und seiner frau franziska schlesinger. die urys wohnen zunächst am alex, 1905 werden sie in ein großbürgerliches haus in die charlottenburger kantstraße umziehen und dort fast 30 jahre lang leben. es geht ihnen gut, sie können sich eine köchin, ein kinder- und ein stubenmädchen leisten, ihre kinder gehen auf angesehene gymnasien und else lernt nach dem lyzeum, was verheiratete frauen im haushalt gebrauchen können (sollen).
statt zu heiraten, beginnt sie zu schreiben, erst märchen und reiseberichte für die vossische zeitung, 1905 ihr erstes (märchen)buch, 1906 das zweite – mit einem „modernen“ thema: frauenbildung („studierte mädel“), bald fortsetzungs- und „backfisch“-geschichten, und ab 1918 die reihe um die blonde arzttochter annemarie, die vom „nesthäkchen“ zur jungen frau, medizinstudentin, arztgattin, mutter und schließlich großmutter wird, und die sie berühmt und reich macht – während else ury weiter zuhause wohnt, zusammen mit ihrer inzwischen verwitweten mutter und dem ebenfalls unverheirateten bruder hans, und ein unauffälliges leben führt.
urys jugendbücher treffen den zeitgeist, sie sind mit humorigen episoden gespickt, aber doch recht brav, konventionell und bedienen das erwünschte bild von der „heilen familie“. kaum jemand weiß, dass die autorin jüdin ist. jüdische themen kommen so gut wie nicht vor, religion oder gott sind bei ihr „universell“ und auch die politik bleibt außen vor, mit zwei ausnahmen:
im ersten weltkrieg verfällt auch die kaisertreue else ury dem grassierenden hurra-patriotismus, bejubelt deutsche soldaten, verteufelt die gegnerischen und preist den krieg. wer sich das antun will – „nesthäkchen und der weltkrieg“ kann man hier online studieren: www.projekt-gutenberg.org/ury/nestkrie/nestkrie.html
und 1933, in ihrem letzten buch („jugend voraus“), in dem es um die hohe arbeitslosigkeit nach dem krieg und den inflationsjahren geht, feiert sie die „aufbauwilligen deutschen“, die sich unter führung des reichskanzlers hitler“ zusammengeschlossen hätten, um dem „elend der nachkriegsjahre ein ende zu bereiten.“
else ury, die sich in erster linie als deutsche versteht, von deutscher kultur und deutschem „wesen“, ist damit in guter jüdischer gesellschaft. viele schließen die augen vor der aufziehenden gefahr – ob aus naivität, ob aus liebe zur ihrer heimat und ihrer sprache, oder weil sie einfach nicht glauben können, dass es noch schlimmer kommen kann…
doch bald übertrifft die realität stück für stück alles bis dahin denkbare. 1935 schließen die herrenmenschen die berühmte autorin aus der reichsschrifttumskammer aus, verbieten ihre bücher und ihr die betätigung als schriftstellerin. ihr ferienhaus in schlesien wird beschlagnahmt und 1937 bringt sich ihr bruder hans aus verzweiflung um, nachdem man ihm die approbation als arzt entzogen und er sie erfolglos gedrängt hatte, mit ihm und der betagten mutter in die schweiz zu ziehen. 1938 unternimmt else ury noch einmal eine kurze reise zu ihrem neffen nach london – und kehrt zurück zu ihrer hilfebedürftigen mutter. nach der pogromnacht fliehen ihre beiden verbliebenen geschwister aus deutschland. im gleichen jahr, so berichtet der bankbeamte, der ihr restliches vermögen verwaltet, später, habe er ihr dringend geraten, das land zu verlassen und sie geantwortet: „wenn meine glaubensgenossen bleiben, dann habe ich so viel mut, charakter und die feste entschlossenheit, ihr los zu teilen.“
am 6. januar 1943, ihre mutter war inzwischen verstorben, wird die 75-jährige else ury von der gestapo in die deportationssammelstelle große hamburger straße gebracht, am 11. januar wird ihr offiziell die deutsche staatsbürgerschaft ent- und ihr gesamtes vermögen eingezogen, am 12. wird sie nach auschwitz deportiert, am 13. endet sie in der gaskammer. alles was von else ury übrig bleibt, ist ein koffer mit ihrem namen und der letzten adresse, dem judenhaus in der solinger straße 10, in dem sie die letzten jahre hatte leben müssen.
(Wer es genauer wissen will, lese Marianne Brentzels Biografie „Nesthäkchen kommt ins KZ“)