Dienstag, 30. April 2024

Judith Kessler erinnert an die in den 20er & 30er Jahren gefeierte Ausdruckstänzerin Tatjana Barbakoff

Tatjana Barbakoff, geboren am 15. August 1899* als Zipora Edelberg, Tochter des Fleischers Aisik Edelberg und seiner Frau Henna aus dem lettischen Aizpute, die sich als Künstlerin Tatjana Barbakoff nannte und als Celly Waldmann in Auschwitz starb, war eine der gefeiertsten Ausdruckstänzerinnen der 20er/30er-Jahre.

zipora, für die nichtjüdische umgebung zilla (nach der russischen kurzform für cecilia), hatte zwar keine formale tanzausbildung, soll aber schon als zehnjährige exotische tänze aufgeführt haben. mit 19, kurz vor der unabhängigkeit lettlands vom russischen reich, folgte sie georg waldmann, einem im baltikum stationierten deutschen offizier und unterhaltungskünstler nach berlin. sie heirateten im mai 1920 und tingelten zusammen – er unter dem namen „marcel boissier“, sie nun als „tatjana barbakoff“ – mit pantomimen und russischen tänzen durch kabaretts und kleinkunstbühnen. ihr frühester bislang belegte soloauftritt der tänzerin datiert auf den 28. märz 1921 in düsseldorf, mlt der performance „tatjana: eine aschermittwochsversion in sieben verwandlungen“.

barbakoff machte sich mit ihrer ausstrahlung bald in ganz deutschland und im ausland einen namen. sie trat u.a. in zürich und königsberg auf, im „corso cabaret“ in düsseldorf und im kölner „simplizissimus“. mitte der 20er-jahre erweiterte sie ihr „russisches“ repertoire um chinesisch, javanesisch und mongolisch anmutende tänze und nahm unterricht bei der diaghilew-ballerina catherine devilliers.

die deutsche zeitung 1925: „fremdheit, die auf ureigenes trifft, ist das, was den traum so reizvoll und so schreckhaft macht. die tänze der barbakoff waren träume. ihr gesicht, ihr minenspiel, so ganz sich in sich selbst bewegend, so ganz ohne jeden willen mit uns im zuschauerraum in verbindung zu treten. traumhaft. ihre tänze auch zauberische brücken, von stille zu stille geschlagen …“
der französische kritiker fernand divoire später: „es ist nicht nur tanz, es ist nicht nur pantomime, es ist fast eine animierte zeichnung (…) ihr neugieriges, kleines mondgesicht konnte entweder ausdruckslos werden oder auf außergewöhnlichste weise dramatische gefühle ausdrücken.“

zu diesem besonderen ausdruck kamen ihr charme, die phantasievollen choreografien, die meist selbst geschneiderten exotischen bühnenkostüme und raffinierte make-ups hinzu, die das publikum begeisterten und das „gesamtkunstwerk“ tatjana barbakoff zu einem beliebten motiv für maler und fotograf*innen wie otto pankok, eugen spiro, otti dix, yva, sasha stone oder gerti simon machte. sogar zigarettenhersteller nutzten das konterfei der tänzerin für ihre damals beliebten bunten sammelbildchen. bis 1933.

nach der machtübergabe an die nazis floh tatjana barbakoff im april 1933 nach paris, dank einer für mai dort geplanten aufführung samt aller ihre kostüme. gefolgt vom maler gert heinrich wollheim, mit dem sie nach der trennung von waldmann inzwischen liiert war. bis der krieg begann, hatte sie u.a. noch auftritte in paris an der von isadora duncans bruder raymond gegründeten tanzakademie, in der schweiz und den niederlanden.

nach dem einmarsch der wehrmacht wurde die tänzerin im mai 1940 mit vielen anderen emigranten aus deutschland in gurs interniert. nach dem waffenstillstand zwischen frankreich und deutschland kam sie wieder frei, konnte sich in nay bei lourdes im haus eines bauern verstecken und floh von dort nach nizza in die unbesetzte zone. nachdem 1942 erst die italiener und 1943 die deutschen die côte d‘azur besetzt hatten, wurde sie im januar 1944 erneut verhaftet, von drancy aus nach auschwitz deportiert und dort am 6. februar 1944 vergast. filmaufnahmen ihrer tänze wurden bisher keine gefunden; geblieben sind von tatjana barbakoff nur bilder.
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*geboren wurde sie allen sekundärquellen nach am 15.8.1899; der eintrag im geburtenbuch des rabbinats in aizpute, die erstquelle, lautet jedoch nach dem russisch-orthodoxen (julianischen) datum auf den 2.8.1899, was nach unserem kalender der 14.8. wäre, und nach dem hebräischen datum auf den 5. elul 5659, was umgerechnet wiederum der 11.8. wäre.
in vielen beiträge über die tänzerin ist außerdem zu lesen: „ihre mutter war chinesin“ bzw. „…kam aus china“ (womit auch ihr faible für chinesische tänze und kostüme erklärt wird). belege dafür sind nicht zu finden. ihre mutter war jüdin und wurde in lettland geboren. selbst wenn doch noch chinesische bezüge ihrer familie gefunden werden sollten, hätte sie die ihrer tochter kaum vermitteln können. sie ist im kindbett gestorben, als das mädchen knapp vier jahre alt war (der vater hat später neu geheiratet); bei ihrer eheschließung konnte die tänzerin nicht mal den mädchennamen ihrer mutter (hirschberg) angeben, der steht in der heiratsurkunde als „unbekannt“.

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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