Das blutige Ende einer großen Hoffnung
Nine-Eleven, da denkt man an qualmende und einstürzende Twin-tower in New York im Jahre 2001. Amerika, das Opfer eines grausamen Terroranschlags. Es gibt aber noch ein Nine-Eleven. Da war das gleiche Amerika in der Rolle des Täters, zumindest des Mittäters.
Militärputsche gab und gibt es reichlich. Aber wohl keiner hat eine größere Bedeutung erlangt und sich tiefer in das Gedächtnis eingeprägt, als das blutige Ende der sozialistischen Regierung Salvador Allendes in Chile am 11. September 1973 durch den Putsch des chilenischen Militärs und die dann folgende siebzehnjährige Diktatur der Militärjunta unter der Führung General Augusto Pinochets.
Es war weltweit für die reformsozialistische Linke ein Schock. Allende war eine Symbolfigur, die für das Experiment eines friedlichen, demokratisch-parlamentarischen Weges zu einer Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, für einem demokratischen Sozialismus stand. War es möglich, auf diesem Weg die ökonomischen und sozialen Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus durch Reformen zu überwinden? Oder hatten diejenigen Recht, die das für eine Illusion hielten, weil sich das weder die herrschende Klasse Chiles noch die interessierten internationalen Mächte, in diesem Falle die USA, gefallen lassen würden. Hat der (bürgerliche) demokratische Rechts- und Verfassungsstaat nicht genügend Schutzmauern, um solche Experimente zu begrenzen?
In gewisser Weise war Salvador Allendes Experiment das westliche Gegenstück zu Alexander Dubczeks „Prager Frühling“ in der CSSR 1968.
Der Vorlauf oder der Wandel in den 1960er Jahren
Das seit 1818 von Spanien unabhängige Chile war wegen seiner Rohstoffe und Bodenschätze (vor allem Salpeter und Kupfer) ein relativ reiches Land. Aber es war ein Reichtum, der sehr ungleich verteilt war.
Um dieses sattsam bekannte Problem zu mildern und die sich daraus ergebenden politischen Turbulenzen zu verhindern, vollzog sich in den1960er Jahren in Lateinamerika insgesamt und in Chile speziell ein Wandel. Nach den Erfahrungen mit der erfolgreichen Revolution in Kuba und dem gescheiterten Versuchen der USA, sie wieder rückgängig zu machen, stellte die Kennedy-Administration zu Beginn der 1961 Jahre ihre Strategie um. Mit einem großangelegten „Reformprogramm“ unter dem Titel „Allianz für den Fortschritt“ flossen mehr als zehn Milliarden Dollar in diesem Jahrzehnt als Hilfe für Entwicklungsprogramme in den „Hinterhof“ der USA.
Zwei Gründe waren dafür entscheidend. Erstens verlagerte sich der Ost-West-Konflikt als „Wettkampf der Systeme“ von Europa, wo durch das atomare Patt die Einflusssphären zwischen den nuklearen Supermächten abgesteckt waren, auf den Rest der sich dekolonisierenden Welt. Eine Sonderrolle nahm für die USA hier Lateinamerika ein. Lateinamerika galt seit der nach dem damaligen amerikanischen Präsidenten benannten „Monroe-Doktrin“ aus dem Jahre 1823 als Teil der „westlichen Hemisphäre“, die einseitig unter amerikanischen Schutz gestellt wurde und sich gegen das Eindringen auswärtiger Mächte richtete. Faktisch waren das damals die europäischen Kolonialmächte.
Kennedys „Allianz für den Fortschritt“ war aber vor allem die amerikanische Antwort auf die unübersehbare Attraktivität marxistischer und sozialistischer Bewegungen in dieser „westlichen Hemisphäre“. Deren Erfolge ließen sich nicht wie 1954 in Guatemala allein mit einem Staatsstreich verhindern. Unter dem Eindruck des 1960 kläglich gescheiterten Versuchs, mit der Invasion in der Schweinebucht Fidel Castro zu stürzen, galt es nun, der für die USA wichtige Region Lateinamerika ein alternatives Entwicklungsmodell anzubieten.
Das Projekt fiel auf fruchtbaren Boden. Zu den wichtigsten Zielen der 1961 in Punta del Este Uruguay von allen Mitgliedsstaaten der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) unterzeichneten ‚Erklärung an die Völker Amerikas‘ gehörten: Stärkung der Demokratie, Förderung der Integration privater Unternehmen, Agrarreform, Ausbau des Gesundheits- und Bildungswesens und des Wohnungsbaus.
Gemäßigte Parteien und Gewerkschaften wurden von den USA besonders gefördert. Das waren neben sozialdemokratischen die christlich-demokratischen Parteien. Die öffneten sich 1961 auf der III. Weltkonferenz der Christdemokratie in Santiago dem Gedanken eines maßvollen und kontrollierten sozialen Wandels. Entscheidend dafür war neben Kennedys Angebot die Reform der katholischen Soziallehre, die Papst Johannes XXIII. mit seiner gerade erschienen Sozialenzyklika Mater et magistra (deren Leitbild die Arbeitermitbestimmung war) am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils angestoßen hatte.
Im Rahmen der „Allianz für den Fortschritt“ nahm Chile eine herausragende Position ein. Die christdemokratische Partei (DC), die mit Eduardo Frei von 1964 bis 1970 den Präsidenten stellte, wurde zur stärksten politischen Kraft Chiles. Der Reformprozess lief unter der Parole „Revolution in Freiheit“ als dezidierte Alternative zur kubanischen Revolution, aber auch als Abgrenzung zu den traditionell-konservativen Kräften. Zentraler Programmpunkt war die „beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung“ als Basis einer „gerechteren Einkommensverteilung“, nationale Kontrolle der Bodenschätze, insbesondere des Kupfers, eine Agrarreform sowie sozialer Wohnungsbau und Ausbau des Bildungswesens.
Eduardo Frei siegte 1964 in der Präsidentschaftswahl gegen den Sozialisten Salvador Allende, der auf fast 40 Prozent der Stimmen kam, nur durch die Unterstützung der Rechtsparteien, die ihren Kandidaten zugunsten Freis zurückzogen. Frei war ein enger Vertrauter der USA. Seine Aufgabe und sein Ziel war es, grundlegende Strukturreformen in Angriff zu nehmen, ohne dabei die demokratische Ordnung zu gefährden. Denn die besonders strittigen Punkte, die überfällige Landreform und die Nationalisierung bzw. Verstaatlichung des Kupferbergbaus erforderten einen Spagat zwischen den Linken, denen die Reformen nicht weit genug gingen und den konservativen Rechten, die darin den Einstieg in den Kommunismus sahen.
Zwar gelang eine einundfünfzig prozentige nationale Staatsbeteiligung in der Kupferindustrie, Landlose und Landarbeiter durften sich nun in Gewerkschaften organisieren, was ihre „Herren“ ihnen zuvor verboten hatten, es gab auch Ansätze einer „substanziellen Landreform“ und eine Erweiterung der Zugänge zum Bildungssystem, aber zugleich auch eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft. Die erreichte auch die „Volkspartei“ DC. Ihr von der „Theologie der Befreiung“ beeinflusster linker Flügel war mit dem Reformergebnis weder in der Verstaatlichung der Kupferindustrie noch der Landreform zufrieden. Ein Teil spaltete sich von der DC ab und gründete eine eigene linke Reformpartei, die bei den Wahlen 1970 zu Allendes Wahlbündnis Unidad Popular stieß. Die Kritik an dem Einfluss und der Abhängigkeit von der USA war ein weiteres wichtiges Motiv für die Trennung von der DC. Insgesamt, so lautete der kritische Befund, erfülle das Reformprogramm nicht die Erwartungen des Volkes.
Das große Problem der sozialen Ungleichheit lastete weiterhin auf Chiles Gesellschaft. Von den 10 Millionen Einwohner zählten 1,5 Mio. zu den unterernährten Kindern, eine halbe Millionen Menschen waren obdachlos, 8,2 Prozent arbeitslos und 80 Prozent des Nutzlandes gehörten immer noch lediglich 4,2 Prozent der Bevölkerung als Großgrundeigentümer. Der Großteil der Kleinbauern, Landlosen und Tagelöhner lebte dagegen weiterhin in Armut. Die Bodenschätze, insbesondere die Kupferminen gehörten überwiegend multinationalen Konzernen, die zu achtzig Prozent in amerikanischen Besitz waren.
Allendes Wahlsieg 1970 – eine Revolution?
Der 1908 in Valparaiso geborene Salvador Allende entstammte einer Familie des liberalen Bürgertums. Er studierte Medizin, wurde Arzt und früh politisch aktiv. Er war 1933 Mitbegründer der Sozialistischen Partei (PS), wurde 1937 Kongressabgeordneter und von 1939 bis 1942 Gesundheitsminister in einer liberalen Regierung. Seit 1945 war er Mitglied des Senats, 1952 kandidierte er erstmals für das Präsidentenamt, 1958 und 1964 folgten zwei weitere Kandidaturen. Beim vierten Anlauf 1970 hatte er Erfolg, wenn auch einen äußerst knappen.
Als Kandidat der Unidad Popular, einem Bündnis aus seiner Sozialistischen Partei, der moderaten Kommunistischen Partei sowie einem breiten Spektrum mehrerer kleiner christlichen und linken Parteien lag er bei der Präsidentschaftswahl am 4. September 1970 mit 36,3 Prozent nur knapp vor dem Kandidaten des konservativen, rechten Lagers Jorge Alessandri mit 35,7 Prozent und dem Christdemokraten Radomiro Tomic mit 27,9 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Da keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit errang, musste gemäß der Wahlordnung das Abgeordnetenhaus in einer Stichwahl zwischen den beiden bestplazierten Kandidaten entscheiden, wer in den Präsidentenpalast La Moneda einzieht. Das gewichtige Zünglein an der Waage waren also die Christdemokraten (DC) und sie votierten am 24. Oktober 1970 für Allende.
Allende setzte darauf, dass sich seine Gegner ebenfalls an die vorgegebenen politischen Spielregeln halten würden. Aber schon vor seiner Amtseinführung, am 22 Oktober 1970, wurde der verfassungstreue General René Schneider, der als Oberbefehlshaber des Heeres ein Eckpfeiler für Allendes Machtabsicherung war, bei einem durch die CIA unterstützen Entführungsversuch angeschossen. Er starb drei Tage darauf. Der mit der CIA abgestimmte Plan rechter Gruppen sah vor, die Entführung der Linken in die Schuhe zu schieben, um so in „letzter Minute“ Allendes Amtsantritt zu verhindern.
Über die Undercoveraktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes, gab es zwar Vermutungen, aber keinerlei Belege. Allende ging aus der „Schneider-Affäre“ gestärkt heraus. Der neugewählte Präsident erfreute sich großer Sympathien in weiten Teilen der Bevölkerung. Sein Reformprogramm schloss an das der Vorgängerregierung an. Es wurde nun aber radikaler umgesetzt. Die Nationalisierung und Verstaatlichung der Großindustrie erfolgte teilweise mit Zustimmung auch der rechten Parteien, die nicht als unpatriotische Vasallen auswärtiger Interessen erscheinen wollten. Neben nun entschiedener in Angriff genommenen Reformen wie die Intensivierung der Landreform,  die Umverteilung der Landnutzungsfläche zugunsten kleiner Bauern, kamen neue hinzu: Verstaatlichung der Banken und weiterer Großbetriebe, die Mindestlohnerhöhung um 35 Prozent, Einfrierung der Preise für Grundnahrungsmittel, die tägliche Ausgabe eines halben Liters Milch für alle Kinder unter 12 Jahren (sie senkte die Kindersterblichkeit um ca. 20 Prozent), der Ausbau des sozialen Wohnungsbaus, ein erweiterter Zugang zur Bildung und ein kostenloses Gesundheitswesen für alle. Das war der Kern des Reformpakets.
Aus den Exporteinahmen der verstaatlichten Kupferindustrie sollten die Sozialprogramme finanziert werden. Die Lohnerhöhungen sollten zur Erhöhung der Kaufkraft führen und die Wirtschaft so ankurbeln, dass die Enteignungen der Landbesitzer aus den steigenden Steuereinnahmen entschädigt werden konnten. Dieses hier grob skizzierte                                                                Konzept schien zunächst aufzugehen. Nach anfänglichen Erfolgen mit einem Wachstum von 11 Prozent sank die Arbeitslosigkeit auf 3 Prozent. Die UP ging aus den Kommunalwahlen im April 1971 mit 51 Prozent der Stimmen gestärkt hervor.
Doch dann verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in Chile in den Folgejahren durch eine galoppierende Inflation und zahlreiche Streiks, die überwiegend von Allende-Gegnern inszeniert wurden. In der sich zuspitzenden inneren Konfrontation war es eine Frage der Zeit, wie lange sich Allende im Rahmen der Legalität, die durch eine überwiegend konservative Justiz nicht zu seinen Gunsten stand, den Attacken seiner Gegner widersetzen konnte.
Die Widersacher waren zunächst die ökonomischen Opfer der Reformen, das heimische Kapital und die Großgrundbesitzer, die um die ökonomische Basis ihrer Herrschaft fürchteten. Hinzu kam noch Widerstand aus der privaten Medienwelt. Sekundiert wurden sie von Teilen des Militärs und Kleinunternehmern. Betroffen waren amerikanische Beteiligungen an Industriebetrieben, die Opfer der Nationalisierungen wurden. Verstärkt durch die Streichung internationaler Kredite auf Druck der USA geriet Chile in eine Wirtschaftskrise. Im November 1971 führte eine Nahrungskrise zu Nahrungsengpässen. Eine legendäre Demonstration der „leeren Kochtöpfe“ des Bürgertums und seiner Bediensteten erregte große Aufmerksamkeit. Die Regale waren leer, weil der kaufmännische Teil des Mittelstandes es vorzog, angesichts der Inflation Güter für den lukrativeren Schwarzmarkt zu hamstern.
Der Anfang vom Ende des Reformexperiments war im Oktober 1972 der einmonatige Streik der für die Versorgung im Lande wichtigen Lastwagenfahrer und Fuhrunternehmer. Sie wurden unterstützt von den Christdemokraten und finanziert von der CIA. Es war ein Meilenstein in der Destabilisierung des Landes und besorgte den künftigen Putschisten ein breites soziales und ökonomisches Fundament der Unterstützung. Als dann die Junta an der Macht war, merkte diese „Lumpen-Bourgeoisie“, wie sie auch genannt wurde, dass das nicht die Anwälte ihrer Interessen waren und die neoliberale Wirtschafsdiktatur für sie keinen materiellen Gewinn erbrachte.
Parallel zur wirtschaftlichen Krise erlebte das Land eine dramatische Zunahme der Gewalt. Ca. 600 Anschläge auf Infrastruktureinrichtungen wie Eisenbahnen, Brücken, Hochspannungsleitungen und Pipelines wurden gezählt, die der 1970 gegründeten „Patria y Libertad“ als Sammelbewegung rechtsradikaler Straßenkämpfer zugerechnet wurden. Als die Streiks im Herbst 1972 in offenen Straßenschlachten eskalierten, rief Allende den Notstand aus.
Politisch war die Lage für die Regierung dadurch erschwert worden, dass die Christdemokraten 1972 zur rechten Opposition wechselten. Anlass des Frontwechsels war die Ermordung des früheren christdemokratischen Ministers Pérez Zújovic 1971, für die eine linksradikale Gruppe verantwortlich gemacht wurde. Ob das stimmt, ist bis heute umstritten. Jedenfalls endete damit die Unterstützung für Allende, zugleich spaltete sich ein weiterer kleinerer linker Flügel von der DC ab.
Allen Widrigkeiten zum Trotz konnte bei den turnusmäßigen Parlamentswahlen im März 1973 die Unidad Popular ihren Stimmenanteil gegenüber 1970 um fast 7 Prozent auf 44 steigern. Innerhalb der UP gewann die Sozialistische Partei, als die damals radikalste, am meisten hinzu. Aber es reichte nicht für die absolute Mehrheit. Die Folge war, dass eine geeinte Opposition fortan sämtliche Vorlagen und Gesetzesinitiative der Regierung boykottieren konnte und das auch tat. Damit war der Plan der Reaktion aufgegangen. Auf die erfolgreiche Destabilisierung folgte nun auch noch die Unregierbarkeit. Die Pattsituation in den politischen Institutionen wurde begleitet von einer Zuspitzung der Konfrontation, die die außerparlamentarischen Kämpfe anheizte und zur Gewalteskalation führte. Die Situation wurde so krisenhaft, dass es der Ruf lauter wurde, in einer Krise sei das Wichtigste, dass eine Entscheidung fällt, nicht wie. Letztlich kam die Macht nun aus den Gewehrläufen.
Damit schlug die Stunde des Militärs, das Allende bis zuletzt mit großen Zugeständnissen in Form der Aufnahme der führenden Offiziere der Teilstreitkräfte ins Kabinett für sich gewinnen bzw. neutralisieren wollte. Ein Ergebnis war auf der anderen Seite des politischen Spektrums der Austritt der linksradikalen MIR aus der UP. Angesichts einer faktisch existierenden „Doppelherrschaft“, einem unmittelbar bevorstehenden Bürgerkrieg rief sie das Ende der „Legalismus“ aus und zum bewaffneten Kampf als letztes Mittel auf.
Ein erster Putschversuch scheiterte am 29. Juni 1973 noch an der Loyalität der in die Regierung einbezogenen Militärs. Im Juli scheiterte Allendes Versuch, mit den Christdemokraten eine Einigung zu erzielen. Mitte August erlebte Santiago de Chile dann noch eine der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. 700.000 Menschen gingen für die Regierung Allendes auf die Straße. Am 10. September, einen Tag vor dem Putsch, bot Allende an, sich einem Plebiszit zu stellen, um die politische Pattsituation zu überwinden. Es war zu spät.
Am 11. September war alles vorbei. Augusto Pinochet, den Allende für verfassungstreu hielt, entpuppte sich als das Haupt der Putschisten. Allende verweigerte die angebotene Ausreise für sich und seine Familie. Er ergab sich auch nicht. In dem vom Militär bombardierten Präsidentenpalast La Moneda finden die Putschisten den toten Präsidenten. Der langandauernde Streit, ob er erschossen wurde, ist mittlerweile entschieden. Allende war seinen Mördern zuvorgekommen und hatte den Freitod gewählt.
Die Aktivitäten der USA und die Rolle Nixons und Kissingers
Die Entwicklung und das Scheitern des Experimentes des chilenischen Weges zum demokratischen Sozialismus bleibt unvollständig und unverständlich, wenn – wie schon angedeutet – die Bedeutung des äußeren Einflusses durch die USA ausgeblendet wird. Selbst wenn eine „unmittelbare“ Teilnahme am Putsch durch die USA bzw. ihres Geheimdienstes CIA nicht nachweisbar ist, so steht doch fest, dass die USA ganz entschieden auf ein Scheitern dieses für sie als gefährlich interpretierten Experiments hinwirkten.
Dass man hier nicht auf „Verschwörungstheorien“ zurückgreifen muss, verdanken wir einem anderen Teil der USA. Angetrieben durch die Enthüllungen in der Watergate-Affäre, die Richard D. Nixon am 9. August 1974 schließlich zum Rücktritt zwangen, um einem „Amtsenthebungsverfahren“ zuvorzukommen, verlangte eine kritische Öffentlichkeit nach all den offenkundigen Lügen des Präsidenten auch einen Blick auf die sonstigen „Geheimdiensttätigkeiten“ zu werfen. Was über die „Verstrickungen“ der USA in die Entwicklung in Chile bekannt ist, verdanken wir einem 1975 eingesetzten Senatssonderausschuss, der nach seinem Vorsitzenden Frank Church auch als „Church Commitee“ bekannt wurde. 1)
Zu den Befürchtungen der USA, mit Chiles Sozialismus wandere der sowjetische Einfluss in Amerikas Hinterhof, steht so viel fest: Allende reiste einmal nach Moskau und ersuchte im Moment höchster Not um wirtschaftliche Hilfe, doch Moskau zeigte ihm die kalte Schulter. Chile war aktives und entschiedenes Mitglied der „Bewegung der Blockfreien“. Auf deren Vierten Gipfelkonferenz vom 5. bis 9. September 1973 (!) in Algier konnte Allende wegen der sich dramatisch zuspitzenden Krise zu Hause zwar nicht teilnehmen, aber Chile setzte sich dafür ein, die Blockfreien-Bewegung solle für eine neue Weltwirtschaftsordnung kämpfen.
Die Befürchtungen der neuen Herren im Weißen Haus waren zunächst anderer Art. Der „Kommunistenfresser“ Präsident Nixon und sein zum Politstar aufsteigender Sicherheitsberater Dr. Henry A. Kissinger sahen sich gleich zu Beginn ihrer Amtszeit 1969 durch den drohenden Wahlsieg Allendes mit einem neuen Kuba konfrontiert. Der charismatische Allende erschien ihnen gefährlicher als Fidel Castro, weil er sich nicht auf die sonst in Lateinamerika üblichen Guerilleros stützte, die sich gemäß ihrem Idol Ernesto Che Guevara mit Gewalt an die Macht kämpften. Allendes demokratischer Weg barg bei Erfolg die Gefahr der Ermutigung zur Nachahmung für andere. Kandidaten in Lateinamerika gab es dafür genug. Also galt: Wehret den Anfängen!
Nixon und der gelernte Historiker Kissinger, ein großer Fan der Staatskunst Metternichs und Bismarcks, bewegten sich in ihrem Verhältnis zu Lateinamerika ganz selbstverständlich in der außenpolitischen Tradition der USA. Für sie galt die schon erwähnte Monroe-Doktrin von 1823 als selbstverständliche Grundlage der Beziehungen zu den anderen Ländern des Kontinents. Allerdings mit einer wesentlichen Änderung. Da die Gefahr feindlicher Einflussnahme seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr von den klassischen Kolonialmächten ausging, veränderte sich die Doktrin dahingehend, dass auf dem Kontinent nichts passieren dürfe, was der Sicherheit oder den Interessen der USA entgegenstünde. Jeder „Versuch, eine Washington als unerwünscht angesehene Regierung einzusetzen“ wurde unmittelbar mit einer Intervention beantwortete. (Stöver, 361 sowie König, 711 f.))
Als das Musterbeispiel, wie man mit Verstößen gegen dieses Gebot verfährt, gilt der Staatsstreich in Guatemala im Jahre 1954, als sich Guatemala aus dem sprichwörtlichen Zustand einer „Bananenrepublik“ befreien wollte. Die Regierung beging das Verbrechen, den amerikanischen Lebensmittelkonzern „United Fruit Company“, der die gesamte Bananenproduktion in Guatemala und den Handel kontrollierte, zu nationalisieren und zu verstaatlichen. Das überlebte die Regierung nicht. Was die USA hier betrieb, war die für ihren „Hinterhof“ Lateinamerika selbstverständliche „Einflusssphärenpolitik“, die man ansonsten – vor allem im Falle der UdSSR – aufs Schärfste verurteilte.
Kissinger hatte schon im Juni 1970, als sich Allendes Sieg abzeichnete, sein vernichtendes Urteil über Chile gefällt: „Ich sehe nicht ein, daß wir tatenlos zusehen sollen, wie ein Land durch die Verantwortungslosigkeit seines Volkes kommunistisch wird.“ (SPIEGEL 2/1987, S.118) Man lernt an diesem Statement etwas von der Weite seines Kommunismusbegriffs und noch mehr über Dr Kissingers Demokratieverständnis.
Präsident Nixon hatte zwar öffentlich erklärt, Allendes Wahl zu respektieren und sich nicht in die inneren Angelegenheiten Chile zu mischen. Aber wie sich später herausstellte, waren das nur ein Teil seines umfangreichen Lügenregisters, denn schon während des Wahlkampfes 1970 hatte die CIA eine ganze Reihe von Undercoveraktivitäten unternommen, um Allendes Gegner zu unterstützten. Das war allerdings nicht ganz einfach, denn Allendes Gegenkandidaten waren für die US-Strategie suboptimal. Der Kandidat der Christdemokraten (eine erneute Kandidatur Freis untersagte das Gesetz) galt als zu farblos, um den beliebten Allende das Wasser reichen zu können und der Kandidat der Rechten war zu reaktionär und als korrupt bekannt.
Als Allendes Wahlsieg nicht verhindert werden konnte, erteilte Nixon an allen zuständigen Gremien vorbei dem CIA-Chef Helms die streng geheime Order, alles daran zu setzen, Allendes Amtseinführung zu verhindern. 10 Millionen Dollar wurden für zwei Varianten bereitgestellt. Die eine setzte auf Stimmenkauf, die andere auf die Inszenierung eines Militärputsches. Ziel war die „Beseitigung“ des als verfassungstreu geltenden Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte General René Schneider. Die geplante Entführung des Generals am 22. Oktober, die dann der Linken in die Schuhe geschoben werden sollte, misslang und endete nach einem Schusswechsel mit dem Tod, faktisch der Ermordung Schneiders. (Gaddis 216 sowie Winkler, 537)
Eine Tat, die zunächst nach hinten losging. Sie stärkte die Sympathien für Allende und sicherte zwei Tage später die Bestätigung seiner Wahl durch das Parlament, der auch die Christdemokraten als stärkste Partei zustimmten. Zwar hatten die Geheimaktionen des CIA ihr unmittelbares Ziel verfehlt, aber wie sich später zeigte, war mit der Ermordung Schneiders eine für die Machtabsicherung Allendes gegenüber dem Militär wichtige Persönlichkeit beseitigt. (Stöver 361 f.)
Nachdem nun auch noch alle Versuche, die Amtsübernahme Allendes zu verhindern, ebenfalls gescheitert waren, erfolgte ein Strategiewechsel. Ziel war nun eine breit angelegte Destabilisierung Chiles. Die „Chaosstrategie“ setzte an der ökonomischen Front an. „Washington strich seine Wirtschaftshilfe von ehemals 110 Millionen Dollar auf drei Millionen Dollar zusammen; die U.S. Export-Import Bank, die unter Allendes Vorgänger 280 Millionen Dollar an chilenische Privatinvestoren weitergereicht hatte, vergab seit September 1970 weder Kredite noch Anleihen; die Weltbank, vorher mit 31 Millionen Dollar auf dem chilenischen Markt engagiert, folgte diesem Beispiel.“ (Greiner, Was die USA, 93) Es wurde erfolgreich ein Boykott für chilenisches Kupfer, dem Hauptexportgut Chiles und zentrale Einkommensquelle, organisiert. Mit dem sinkenden Weltmarktpreis und anderen US-Sanktionen fehlten im chilenischen Haushalt die dringend erforderlichen Einnahmen für die Finanzierung der Sozialreformen.
„Binnen eines Jahres sanken die kurzfristigen Kredite für das Land von 220 auf 40 Millionen Dollar, die Devisenreserven schrumpften von 377 auf 25 Millionen Dollar.“ (DER SPIEGEL 119) Was zuvor an Undercoveraktionen misslang, glückte auf wirtschaftlichem Gebiet umso besser. Das Resultat aller Aktionen war eine sich verschärfende Wirtschaftskrise mit den schon genannten Folgen von Nahrungsengpässen, steigender Arbeitslosigkeit und galoppierender Inflation. Damit war der Nährboden für eine umfassende Krise bereitet, die nach einer Lösung verlangte.
Zwar ist eine unmittelbare Beteiligung der USA bzw. der CIA am Militärputsch vom 11. September nicht feststellbar, sie war auch nicht erforderlich. „Nixon und Kissinger haben im Nachhinein jede Beteiligung an diesem Umsturz abgestritten. Um den Verdacht einer Komplizenschaft gar nicht erst aufkommen zu lassen, verzögerte die US-Regierung die Anerkennung des Putschistenregimes, dem sie allerdings schon unmittelbar nach dem Staatsstreich ihre Sympathie versichert hatte.“ (Schwabe, 384)
Der 1975 eingesetzte Untersuchungsausschuss des Senats brachte auch die Menschenrechtsverletzungen der Militärjunta in Chile ins kritische Blickfeld der Öffentlichkeit. Obwohl klar war, „dass die CIA in Chile Dinge getan hatte, die nach eigenem Eingeständnis dem ‚Tageslichttest‘ nicht standgehalten hätten“ und in der „Öffentlichkeit nicht zu rechtfertigen waren“, wurden Nixon wie Kissinger in ihren Memoiren nicht müde, ihre „Unschuld“ zu beteuern. (Gaddis, 221) Zum Verhängnis wurde beiden, dass Nixons Tonbandmitschnitte der Gespräche und Telefonate, die er mit Kissinger und anderen Mitarbeitern führte, das Gegenteil dessen belegten, was sie in ihren Hinterlassenschaften zu beteuern versuchten.
Als besonders peinlich erweisen sich die Rechtfertigungsversuche der „Lichtgestalt“ der amerikanischen Außenpolitik. Henry A. Kissinger wurde am 27.9.1973 nach (aber nicht wegen) dem Putsch am 11. September Nixons Sicherheitsberater und Außenminister in Personalunion. Sein unmittelbares Wissen und sein politischer Anteil an den Destabilisierungsaktivitäten in Chile erfolgten in seiner Funktion als Sicherheitsberater des Präsidenten.
Peinlich ist der Rechtfertigungsversuch für den Militärputsch. Wenn Allende wirklich deshalb zur Gefahr wurde, weil Kissinger ihm als Marxisten die Absicht unterstellte, die demokratische Verfassung außer Kraft setzen und ein totalitäres Regime errichten zu wollen, dann wären Unterstützungen für jene Kräfte, die die Verfassung erhalten wollten, in dieser Logik, die das prinzipielle Recht der USA auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chiles allerdings voraussetzt, noch begründbar gewesen. Nun war nichts zynischer, als die Parole der Putschisten, sie wollten die „Wiederherstellung der Demokratie“. Tatsächlich waren Pinochet und sein Gefolge genau diejenigen, die das vollbrachten, was Kissinger Allende unterstellte. Das Ziel der Putschisten war gerade nicht die Wiederherstellung bzw. Sicherung einer bedrohten Ordnung, sondern die Beseitigung der Verfassung und Demokratie durch eine völlig neue Ordnung. Ihre Diktatur war nicht ein „Ausnahmezustand“, um die alte Ordnung wieder herzustellen, sondern der Beginn einer neuen Ära.
Das Neue dieser Ära war sogleich erkennbar. Sie verfolgten ihre politischen Feinde mit einer Brutalität, die bis dahin selbst in Lateinamerika ihresgleichen suchte. Die Schätzungen variieren, aber von 2000 bis 5000 Todesopfern durch Folter etc. und ungezählten „verschwundenen“ Personen ist die Rede. Rein quantitativ kann in Sachen Brutalität nur die 1976 ebenfalls die Macht ergreifende Militärjunta in Argentinien mit ca. 30 000 Opfern mithalten.
Als sich angesichts der Menschenrechtsverletzungen durch Pinochets Mörderbande kritische Stimmen in den USA mehrten, sicherte der „Superhenry“, wie Kissingers Fanclub in der Weltpresse ihn nannte, im März 1976 der Junta nicht nur volle wirtschaftliche Unterstützung zu, er dankte Pinochet ausdrücklich für seine große Hilfe. „Mit dem Sturz Allendes haben Sie dem Westen einen großen Dienst erweisen. Andernfalls wäre Chile den Weg Kubas gegangen.“ (Greiner: Was die USA, 99)
Für Kissinger war Allende aber nicht nur als Herausforderung für Lateinamerika. Er sah ihn als einen Teil der „Bedrohung des freien Westens“ durch „die Linke“ bis in Europa. Ein Erfolg Allendes hätte viel weitere Kreise ziehen können. Denn überall herrschte Krise, Aufruhr und die Gefahr von Umsturz mit unkalkulierbaren Ausgängen. In der Tat stapelten sich Mitte der 1970er Jahre die politischen Krisen und Umbrüche auch in Europa. Die „Nelkenrevolution“ in Portugal, wo ausgerechnet Militärs eine linke Macht in einem geostrategisch enorm wichtigen Mitgliedsland der Nato stellten, hinzu kam das Schwächeln des spanischen Franco-Regimes, dem verlässlichen antikommunistisches Bollwerk und es zeichnete sich das Ende des Obristenregimes in Griechenland ab.
Ein besonders heikler Fall war Italien. Als der Stimmenzuwachs der Kommunistischen Partei (PCI) bei den Parlamentswahlen auf weit über 30 Prozent stieg und sie fast gleichauf mit der christlich-demokratischen DC brachte, läuteten (nicht nur) in Washington die Alarmglocken. Kommunisten in der Regierung eines Nato-Mitgliedes? Mit ihrem charismatischen Parteichef Enrico Berlinguer, dem Protagonisten eines von Moskau gelösten „Eurokommunismus“, der wie Allende die parlamentarische Demokratie als Weg zum „demokratischen Sozialismus“ propagierte, wurde die PCI besonders gefährlich. Verschärfend kam hinzu, dass Berlinguer mit seinem „historischen Kompromiss“ perspektivisch sogar ein Bündnis mit den Christdemokraten für möglich hielt, um Italien politische Stabilität mit einer grundlegenden Reformagenda zu verschaffen. Der Christdemokrat Aldo Moro galt als sein potenzieller Verbündeter. Don Camillo und Peppone in einer Regierung und das als Nato-Mitglied? Für Henry Kissinger war das des Schlimmen zu viel. Bernd Greiner sieht in Kissingers Chile-Politik auch ein Signal an den „Eurokommunismus“, „dass der Wille von Wählern Washington egal war.“ (Greiner: Kisssinger, 262)
Pinochets neoliberale Verfassung der Reaktion
Die auf Allendes tödliches Ende folgende Militärdiktatur war nicht nur wegen ihrer Brutalität ein besonderer Fall. Sie war, wie schon erwähnt, auch nicht als ein Übergangsphänomen zur „Wiederherstellung der Demokratie“ konzipiert. Sie wurde politisch, gesellschaftlich und vor allem wirtschaftlich ein neues Ordnungsgebilde, das paradigmatischen Charakter erhielt.
Das sofortige Verbot aller Parteien und politischen Betätigungen, Verbot der Gewerkschaften und oppositioneller Medien jeglicher Art gehörten noch zum „üblichen Repertoire“ eines Militärputsches. Das politische Programm der Junta ging aber viel weiter. Die Rücknahme aller Nationalisierungen, Verstaatlichungen, Landreformen und Sozialprogramme, also alles, was Allendes Reformprogramm umfasste, war zugleich der Auftakt für eine neue Gesellschaft, deren Kern die Ökonomie wurde, die unter dem Label „Neoliberalismus“ bekannt wurde.
Alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen von der Forcierung der „Privatinitiative“ durch Steuer- und Zollsenkungen, Abschaffung des Mindestlohns, freie Entwicklung der Preise, Deregulierung und insbesondere die Privatisierung öffentlicher Güter waren Elemente eines neuen Modells einer Wirtschaftsgesellschaft, die die Gesellschaft in den Markt einbettete und nicht umgekehrt. Chile wurde das El Dorado des auswärtigen und heimischen Kapitals. es wurde das Versuchslabor des „Neoliberalismus“, der dann in den1980er Jahren mit Thatcher und Reagan zur führenden Wirtschaftsdoktrin des Westens wurde.
Das Besondere war, dass diese Neuordnung der Wirtschaft mit dem Primat des Privaten vor dem Öffentlichen 1980 Verfassungsrang erhielt. Diese Verfassung, die in Teilen bis heute noch fort besteht, weil eine neue noch keine Mehrheit gefunden hat, schreibt die Entmachtung des Staates und damit der Politik und der Demokratie fest. Der Staat erhält eine rein „subsidiäre Rolle“. In Bereichen, wo private Akteure handeln, darf er nicht agieren. Bis auf die Luft wurden alle Güter privatisiert und in Waren verwandelt. „Jeder Tropfen Wasser in Chile, in allen Flüssen, Seen und Gletschern gehört heute internationalen Konzernen.“ (Luis Sepúlveda: Explosion in Chile, Le Monde diplomatique, Dezember 2019) Wo es Widerstand gab und sich eine aufmüpfige Zivilgesellschaft noch zu Wort meldete, Studenten ein öffentliches und kostenloses Bildungssystem verlangten, begegnete ihnen der verbliebene Rest des Staates in Gestalt seiner repressiven Gewalt.
Sicherheit, vor allem des Privateigentums, ist die letzte und entscheidende Funktion des Staates. In Chile wurde auf einem speziellen Wege der Beweis erbracht, dass Kapitalismus und Demokratie keine Zwillinge sind. Im Gegenteil: ein vollentfalteter neoliberaler Kapitalismus funktioniert am besten auf diktatorischer Basis, weil anders die marktwidrigen politischen Gestaltungswünsche der Gesellschaft gar nicht in Schach zu halten sind. Um den Glauben an den sich selbst regulierenden Markt zum Wohle aller zur vollen Entfaltung zu bringen, müssen alle nicht marktkonformen Störgrößen ausgeschaltet werden. Dazu gehören neben staatlichen Engriffen die systemwidrigen Gewerkschaften, die nach der reinen Lehre des Neoliberalismus die freie Konkurrenz unter den Lohnabhängigen aushebeln.
Aber die anfänglichen Wachstumserfolge, die Basis der Mär vom „chilenischen Wirtschaftswunder“, erlebten ihre Dellen und Krisen. Die Begeisterung und dann die Unterstützung sank als die Arbeitslosigkeit auf bis zu 30 Prozent stieg. 1982 erhob sich erster Widerstand gegen die Wirtschafts- und Finanzpolitik. 1988 unterlag die Junta bei einem Plebiszit über die Verlängerung der Amtszeit der Regierung. Damit wurde der Weg zu einem erneuten Anlauf zur Demokratie frei. Nach siebzehn Jahren Diktatur wurde 1990 die christdemokratische Regierung unter Patricio Aylwin gewählt.
Erst im November 2000 konnte sich die mächtige Katholische Kirche Chiles dazu durchringen, „Verfehlungen“ während der Militärdiktatur zuzugeben. Deren Kopf, Augusto Pinochet, entging einem Gerichtsverfahren, weil es wegen seiner Altersdemenz ausgesetzt wurde. Eine Entschuldigung der USA für ihre Undercovertätigkeiten gegen Allende und Unterstützung des Regimes Pinochets sucht man bis heute vergebens.
In Deutschland war die Reaktion auf den Putsch wie in nahezu allen Ländern des Westens gespalten. Die Linke war entsetzt, die Sekten der Linksradikalen sahen sich bestätigt, weil für sie Allendes Weg ohnehin zum Scheitern verurteilt war. Die Konservativen waren erleichtert, dass dieses Experiment vorüber war und sahen den Putsch als Befreiung und Rückkehr zur Ordnung und Normalität. CSU-Chef Franz-Josel Strauß schrieb nach dem Putsch im CSU-Zentralorgan „Bayernkurier“ vom 22. September 1973, das „Wort Ordnung“ hätte für das „chilenische Volk plötzlich wieder einen süßen Klang“. Und er damalige CDU-Generalsekretär Bruno Heck reist noch 1973 als Zeichen der Solidarität mit der ordnungsstiftenden Junta nach Chile. Auf die Frage, ob Berichte stimmten, dass das Nationalstadion von Santiago von Pinochet in ein Gefangenenlager verwandelt worden sei, antwortete er nach seiner Rückkehr gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter angenehm.“
Der BND wurde einige Tage vor dem Putsch vom CIA unterrichtet. Er hielt es nicht für nötig, den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt darüber zu informieren. Aber ein Doppelagent überbrachte der DDR diese Information, die sie an Allende weiterreichte, als es schon zu spät war.
Lehren aus der chilenischen Tragödie
Allendes friedlicher Weg zum Sozialismus im Rahmen der verfassungsmäßigen parlamentarischen Demokratie war in doppelter Hinsicht riskant. Erstens schien es unwahrscheinlich, dass es dafür überhaupt eine demokratisch legitimierte Mehrheit geben könnte. Ferner stand die Frage im Raum, wenn man mit den Eingriffen, den Reformen in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Herrschaftsgefüge ernst macht, bis wohin wird die „herrschenden Klasse“ sich das bieten lassen? Über welche rechtlich gezogenen Mauern verfügte der liberale bürgerliche Rechtsstaat gegen einen solchen Systemwandel und was war von den fremden Mächten, also hier den USA zu erwarten?
Wie in jedem Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung wurde auch Allendes Regierungsbündnis mit dem Problem konfrontiert, dass die Veränderungen den einen nicht weit und schnell genug, den anderen zu weit und zu schnell gingen. Schon zwischen den beiden großen Parteien, den Sozialisten und den Kommunisten bestanden in der strategischen Ziel- wie auch der Umsetzung erhebliche Unterschiede. Aber anders als zu vermuten wäre, unter umgekehrten Vorzeichen. Gegen die radikaleren Sozialisten, die auf schnelle Umsetzung der Maßnahmen zum Sozialismus drängten, plädierten die Kommunisten für maßvolles Vorgehen und eine möglichst breite gesellschaftliche Absicherung der einzelnen Schritte. Sie favorisierten eine Streckung des Prozesses ohne allzu starke Konfrontationen.
Aber vor allem die Landreform wurde mit selbstorganisierten Aktivitäten, überwiegend von linksradikalen Gruppen forciert und unterstützt, konfrontiert, die die berechtigten Ansprüche mit Mitteln einforderten, die in Konflikt mit der restriktiven Legalität gerieten. Sie brachten die Regierung mehrfach in die Bredouille, Gesetz und Ordnung zur Freude ihrer Feinde gegen ihren eigenen Anhang auch mit der Gewalt des Staates durchsetzen zu müssen.
Das Kernproblem wurde für Allende deutlich, als mit dem Zuwachs der Stimmen bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 1973 auf 44 Prozent die Politik zwar mehr als bestätigt, aber zugleich die für eine weitere Gestaltung der Politik erforderliche absolute Mehrheit verfehlt wurde. Rechnet man das Ausscheren der Christdemokraten aus der zumindest partiellen Unterstützung hinzu, dann fehlte der Regierung die für die Gesetzgebung erforderliche Mehrheit. Und nach ihrer eigenen Logik die demokratische Legitimation für ihr weiterhin ambitioniertes Reformprogramm. Aus dieser politischen Sackgasse herauszukommen, war eine kaum lösbare Herausforderung, da auf der anderen Seite die Erwartungen wie auch die Zustimmung stiegen. Den steigenden Erwartungen der Anhänger standen sinkende Handlungsoptionen in der politischen Realität gegenüber. Als Allende am 10. September dann  die Flucht nach vorn antrat und sich für ein Plebiszit über seine Präsidentschaft zur Verfügung stellte, war es schon zu spät. Was im Falle eines Sieges daraus gefolgt wäre, bleibt Spekulation.
In Italien hatte der Chef der Kommunistischen Partei (PCI), Enrico Berlinguer für eine vergleichbare Entwicklung mit seinem schon erwähnten „historischen Kompromiss“ strategisch vorgebaut. Ohne ein breiteres Bündnis bis hinein in das reformbereite Bürgertum, das war parteipolitisch der progressive Teil der Christdemokraten, waren unter den gegebenen Bedingungen gesellschaftliche Strukturreformen, die auch die Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse tangieren, nicht möglich. Aber so richtig diese Schlussfolgerungen Berlinguers im Lichte des chilenischen Dramas erscheinen mag, auch er hätte mit einer auswärtigen Macht rechnen müssen, die gerade wegen der Nato- Mitgliedschaft schwer kalkulierbar gewesen wäre.
In Falle Chiles dürfte bei einer selbstkritischen Analyse der Eigenanteil am Scheitern des Experimentes strategische Fehler offenbaren. Das Problem der Differenzen innerhalb der UP stieg mit der Krise, schwerwiegend waren Fehleinschätzungen über die Loyalität des Militärs, umstritten war wie weit die Versuche reichen sollten, weitere gesellschaftliche Gruppen und Schichten einzubeziehen, auch wenn das möglicherweise zu Abstrichen am Reformprogramm geführt hätte. Das aber sind Grundprobleme eines jeden politischen Reformprozesses, die sich immer wieder neu stellen.
Es wäre aber auch zu einfach, allein die Machenschaften und den Druck der USA zum entscheidenden Faktor des Scheiterns zu erheben. Aber sicher ist auch, dass es ohne diesen Druck andere Chancen gegeben hätte. Weniger durch die direkte Unterstützung der Gegner Allendes in Chile, als durch die massive Einflussnahme der USA auf die ökonomischen Rahmenbedingungen Chiles, die zu Lasten der wirtschaftlichen Entwicklung gingen und die dann von Fehlern der Regierung zwar noch verstärkt wurden, gelang es mit der erfolgreichen ökonomischen Destabilisierung Chiles, den Grundstein dafür zu legen, dass das Experiment als Tragödie endete. Und genau das war das Ziel.
So bleibt der chilenische Versuch eines demokratischen Sozialismus ein lehrreiches Beispiel für alle politischen Reformversuche, die auf eine Veränderung der bestehenden sozialen und ökonomischen Herrschaftsverhältnisse abzielen.
[1] Weitere Enthüllungen erfolgten durch Christopher Eric Hitchens: Die Akte Kissinger. Stuttgart 2001; im Jahre 2020 veröffentlichte das „Nationale Sicherheitsarchiv“, eine Einrichtung zur Erforschung der politischen Geschichte der USA eine Sammlung von Dokumenten, die belegen, dass Nixon und Kissinger entgegen ihren Bekundungen eine Destabilisierungspolitik gegenüber Chile verfolgten; sowie in DER SPIEGEL von Heft 51/1986 bis Heft 3 /1987 erschien eine Serie über die außenpolitischen Aktivitäten amerikanischer Präsidenten und ihres Geheimdienstes CIA unter dem Titel: „Du sollst dich nicht erwischen lassen“, die sich in Heft 2/1987, S. 118-123 speziell mit den Aktivitäten in Chile beschäftigt.
Zit. Literatur:
DER SPIEGEL: „Du sollst dich nicht erwischen lassen“, Nr. 51/1986 – Nr.3/1987, hier Nr. 2/1987, S. 118-123
Gaddis, John Lewis: Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte. München 2007
Greiner, Bernd: Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021
Greiner, Bernd: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. München 2020
König, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Stuttgart 2006
Schwabe, Klaus: Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1889 bis zur Gegenwart. Paderborn u.a. 2007
Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947 – 1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München 2007
Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. München 2014