Wieder einmal trog der Schein. Der ewige Kriegsherd Naher und Mittlerer Osten schien eine Ruhepause eingelegt zu haben.
Die Zeichen standen auf weitreichende Veränderungen der Machtkonstellationen und auf neue bislang unvorstellbare Annäherungen zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten. Nicht dass die Krisen-, Konflikt- und Kriegsursachen gelöst wären. Sie sollten mit dem von den USA maßgeblich unterstützten „Abraham-Abkommen“ neu justiert werden. Am Anfang stand nicht mehr die „Zweistaatenlösung“ für Palästina als Voraussetzung für einen Frieden, sondern der Friede zwischen Israel und den arabischen Staaten sollte die Basis für eine Lösung des „Palästinaproblems“ – wie auch immer – werden. Dagegen standen zuvörderst der Iran und die radikal-islamische Hamas, die den Gaza-Streifen kontrolliert. Ihre Lösung des Problems besteht bekanntlich in der Vernichtung Israels, dem sie das Existenzrecht absprechen.
Das Abkommen rückt nun wohl in weite Ferne. Denn am letzten Samstag, den 7. Oktober, fast auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Ausbruch des Jom-Kippur-Kriegs, wiederum wie aus dem Nichts, kam diesmal vom Gaza-Streifen ein Schlag gegen Israel durch die vom Iran unterstützte Hamas, die sich mit einer unvorstellbaren Brutalität gegenüber israelischen Zivilisten als Terrororganisation entpuppte.
Sollten die Hamas und die Mullahs im Iran darauf spekuliert haben, der seit Monaten währenden Streit in Israel um die Justizreform der rechten Regierung signalisiere eine innere Schwäche, die zu einem solchen Angriff einlade, dann haben sie sich genauso geirrt wie Putin bei der Ukraine. Ihre Klugheit steht offenkundig im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Brutalität. Das geteilte Israel wurde über Nacht geeint. Auch wenn das nicht unbedingt eine nachhaltige Stärkung Netanjahus und seiner Rechtsregierung zur Folge haben muss, denn das sicherheitspolitische Versagen, das diesen Überraschungsangriff erst ermöglichte, wird die rechte Regierung wohl kaum in die Verantwortung anderer delegieren können.
Was die Hamas wahrscheinlich erreichen wollte, ist die Verhinderung einer Annäherung Israels an Saudi-Arabien und andere arabischer Staaten. In der Verschiebung des Zankapfels „Palästina“ liegt die begründete Gefahr, dass die „Sache der Palästinenser“, genauer eine Zweitstaaten-Lösung politisch beerdigt wird. Mit ihren Gräueltaten haben sie aber den berechtigten Anliegen der Palästinenser zumindest im Westen einen Bärendienst erwiesen.
Viel wird nun davon abhängen, wie Israels Führung auf dieses „Pearl Harbor“ oder „Nine/Eleven“, wie es in Israel wahrgenommen wird, antworten wird. Sollte Israel mit der anvisierten Bodenoffensive in Gaza die „Beseitigung“ der Hamas anstreben, droht dort nach Einschätzung von Militärexperten ein Straßen- und Häuserkampf, der unser Vorstellungsvermögen übertrifft.
Der in Deutschland bekannte israelische Historiker Tom Segev befürchtet in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau am 10 Oktober 2023 eine „zweite Nakba“, also Vertreibung der Palästinenser, von der in Israel viel gesprochen werde. Für die rechte Regierung unter Netanjahu läge das durchaus im Rahmen des Erwartbaren, denn an eine einvernehmliche Zweitsaatenlösung glaubt man hier schon lange nicht mehr oder wie viele vermuten, habe man sie in konservativen Kreisen auch nie ernsthaft gewollt.
Aber was das neu installiertes, aber nur begrenzt parteiübergreifendes „Kriegskabinett“ Israels auch immer zum Kriegsziel erklärt, es muss bedenken, dass der Krieg kein rein innerisraelischer ist und somit das Zeug zu einem unkontrollierbaren Flächenbrand hat. Denn hier stehen auf den verschiedenen Seiten der Kriegsparteien noch mächtige Akteure bereit, die sich noch zurückhalten. Somit fällt ausgerechnet Israels „Kriegskabinett“ die schwer vermittelbare Aufgabe zu, auch angesichts der Gräuel im „höheren Interesse“ bei ihrer Antwort die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ zu wahren.
Die Journalisten Jörg Lau und Michael Thumann schrieben in DIE ZEIT vom 12. Oktober 2023 unter dem Titel „Es droht ein großer Krieg“: „Dieser Krieg ist, wie auch Russlands Angriff auf die Ukraine, Teil eines globalen geopolitischen Wandels, für den es noch keinen treffenden Begriff gibt.“ Dass Putin diesen neuen Kriegsschauplatz als Ablenkung von der Fokussierung auf die Ukraine begrüßt und eine Ressourcenkonkurrenz bei der westlichen Unterstützung mit Kriegsmaterialien erhofft, ist ein Nebeneffekt.
Falls sich jemand an die Zeit nach dem Jom-Kippur-Krieg erinnert, der fünf Jahre später zum Camp-David-Abkommen zwischen Israel und Ägypten führte, sollte als prophylaktische Enttäuschungsverarbeitung nicht auf eine Wiederholung hoffen.