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Zum dreihundertsten Geburtstag von Immanuel Kant – Teil 2

Versuch einer Darstellung und Würdigung seines Werkes
(Zweiter von fünf Teilen)

Kants politisches Vermächtnis: „Zum ewigen Frieden“

Gemessen an der praktischen Wirkungsmacht reicht kein Werk Immanuel Kants an sein Spätwerk Zum ewigen Frieden heran. Lange ignoriert, belächelt, als Spleen eines senilen alten Mannes abgetan, zählte es für Konservative, Nationalisten, Imperialisten und auch für viele Liberale zu dem ungeliebten „Unwerk“ eines „großen Deutschen“. Von den deutsch-nationalen Philosophen und Politikern wurde es bei den Gedenkfeiern zu seinem hundertsten Todestag 1904 und auch zwanzig Jahre später zu seinem zweihundertsten Geburtstag schlicht übergangen. Nichts verdeutlicht diesen „Zeitgeist“ vor hundert Jahren deutlicher, als die Ankündigung der Königsberger Studenten, anlässlich der Kantfeiern zu seinem zweihundertsten Geburtstag 1924 ihre Teilnahme davon abhängig zu machen, dass Kants Friedensgedanke nicht erwähnt werde. (Adler, 270)

So ergab es sich, dass es zu dieser Zeit rund um den Ersten Weltkrieg ausgerechnet die reformistischen Sozialisten waren, die sich nicht nur auf Kants Ethik bezogen, sondern auch explizit seine Friedensschrift würdigten. Die revolutionäre Linke, insbesondere die Bolschewiki in Russland, wusste mit diesem Werk wie mit allem anderen von Kant nichts anzufangen. Lenins „sozialistische Weltrevolution“ wurde zum weltpolitischen Alternativentwurf, als gegen Ende des Ersten Weltkrieges der amerikanische Präsidenten Woodrow Wilson mit seiner „14 Punkte-Erklärung“ für den Kriegseintritt der USA warb. Wilson hatte damit, noch verstärkt mit seiner Idee eines „Völkerbundes“, das Fundament für das „liberale Modell der Friedenssicherung“ im Geiste Kants gelegt. Mit Lenin verband ihn – wie mit Kant – die tiefe Abneigung gegen eine Neuauflage eines „Gleichgewichts der Mächte“ und den „Antipoden“ war ein weiterer wichtiger Punkt gemeinsam, der von Kant stammte: Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden war eine grundlegende Änderung der inneren Verhältnisse in den Staaten. Hier lag allerdings auch zugleich die entscheidende Differenz. Während Wilson die „Welt reif machen wollte für die Demokratie“ als Garant des Friedens, forderte Lenin die Überwindung des kapitalistischen Imperialismus als Ursache der Welttragödie durch die „sozialistische Weltrevolution.“

Was Kant 1795 in seiner Broschüre vor dem Hintergrund des Krieges der „Koalition der Fürsten und Könige“ gegen das revolutionäre Frankreich in die öffentliche Debatte warf, war keinesfalls eine weitere Utopie in der Tradition anderer Friedensschriften, die zumeist einen alten Menschheitstraum beschworen. Davon war Kant weit entfernt. Er war kein Pazifist, lehnte in seinen früheren Werken den Krieg nicht kategorisch ab, gewann ihm in seiner Kritik der Urteilskraft sogar Leistungen als Triebfeder der Kultur ab. (V. 555 f.) Zum Frieden trieb ihn nicht das Leid und Elend, das er über die unschuldigen Menschen brachte, sondern das Unrecht, das mit dem Krieg um sich greife. Aber schon hier ist anzumerken, dass es in den 1790er Jahren ein erkennbares Umdenken in dieser Frage gab. In seiner letzten Schrift Der Streit der Fakultäten von 1798 heißt es unmissverständlich. „Krieg (sei) Quelle aller Übel und Verderbnis der Sitten.“ (VI. 359)

Dennoch reflektierte er nicht auf eine menschliche Sehnsucht nach Frieden, sondern ganz in Sinne seiner geschichtsphilosophischen Grundannahme sah er Kräfte am Werk, die in ihrer Summierung den Krieg in seiner Entwicklung einerseits obsoletieren und andererseits Bedingungen schaffen, wo sich „das Böse“ zum „Guten“ wandle. So wie die Menschen in ihrer „ungeselligen Geselligkeit“ sich dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft unter der Herrschaft des Rechts annähern, so wird die analoge Staatenwelt ihre Anarchie durch eine neue Rechtsgemeinschaft zu überwinden suchen. Damit wurde Kant für einen Teil seiner Interpreten und Anhänger zum Vordenker eines Systems kollektiver Sicherheit im weitesten Sinne und des Völkerbundes sowie der UNO als konkrete organisierte Form.


Das weltpolitische Denken vor und jenseits Kants oder die Logik des Staatensystems

Natürlich bewegt sich Kant in einer langen Tradition des Nachdenkens über eine Kernfrage des menschlichen Zusammenlebens. Man kann dabei bis in die Antike zurück gehen und wird bei Platon wie Aristoteles fündig, für das Christentum insbesondere bei Augustinus und im Hochmittelalter finden sich mindestens zwei große Werke, die sich dem Friedensthema umfassend widmeten. Das waren Dantes (1265 – 1321) Monarchia und das weniger beachtete große Werk Defensor Pacis (Verteidiger des Friedens) des Marsilius von Padua (1275 – 1342). Beide forderten ein säkulares Universalreich und wiesen die weltlichen Ansprüche des Papsttums entschieden zurück. Während Dante das römische Weltreich unter Kaiser Augustus als wieder zu erlangendes Vorbild vorschwebte, plädierte Marsilius für einen „Ruhezustand“, der in Anlehnung an sein Vorbild Aristoteles Züge eines autarken Gemeinwesens erhielt, das er allerdings mit der absoluten Herrschaft einer Gewalt ausstattete.

Der Friedensgedanke war bis zur Neuzeit stets mit der Reichsidee oder einer Universalmonarchie verbunden. Darin spiegelte sich in Westeuropa der Dauerkonflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht und Herrschaft, also von Kaisertum und Papsttum. Diese universalen Ordnungsprinzipien verloren mit der Reformation und dem Aufstieg der Territorialstaaten um 1500 an Bedeutung. Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, dem Westfälischen Frieden von 1648 konstituiert sich eine Welt souveräner Staaten, die nun die Subjekte der Politik in einer neuen Weltordnung wurden. Dass ein Staat als existent und damit auch als ein Völkerrechtssubjekt bezeichnet wird, ergibt sich nicht daraus, dass man sich bei einer „Weltbehörde“ meldet und um Zulassung und Anerkennung bittet. Genau solch eine überstaatliche Instanz gibt es nicht. So wie das Völkerrecht sich aus einer Summe von mehr oder weniger bilateralen Verträgen konstituiert, erfolgt die formelle Staatlichkeit durch die Anerkennung der anderen Staaten, die sich als Vertragspartner im Friedensschluss von 1648 wechselseitig ihre Anerkennung als souveräne Staaten zugestanden. Fortan erfolgt die Anerkennung eines Staates durch die Anerkennung der anderen. Einklagen kann man sie nicht, einen Rechtsanspruch gibt es auch nicht, selbst wenn die drei Elemente der Staatlichkeit, also Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt in Form einer Regierung vorhanden sind. Aktuell ist das beispielsweise das Problem Taiwans, dass von der „Staatengemeinschaft“ überwiegend nicht als eigener Staat anerkannt wird.

Das Besondere der neuzeitlichen und zunächst auf Europa begrenzten Staatenordnung, die sich im Zuge von Kolonialismus und später dem Imperialismus dann auf die gesamte Erde ausdehnte, ist, dass diese Ordnung im Kern eigentlich eine Anarchie ist. Da jeder Staat souverän ist, unterliegt und untersteht er keiner höheren Instanz, denn Souveränität schließt genau das aus. Selbst wenn der Staat Teile seiner Souveränität abgibt, so liegt es in seiner Hand, dass er diese Entscheidung jederzeit wieder rückgängig machen kann, außer er gibt sich selbst als Staat auf.

Fasst man den Friedensbegriff weiter, dann ermöglicht der souveräne Staat mit dem dazu gehörenden Gewaltmonopol zunächst nur das friedliche Zusammenleben der Menschen innerhalb des Staates. Der englische Philosoph Thomas Hobbes hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in England im 17. Jahrhundert eine Vertragstheorie entwickelt, wie in einem fiktiven rechtlosen Naturzustand die Menschen ein Recht auf alles haben. Das betrifft alle Sachen und auch das Recht, über Leben und Tod anderer zu entscheiden, also auch das Recht zu töten. Da dieser Zustand der absoluten Regellosigkeit auch absolute Unsicherheit für alle schafft, denn auch die Stärksten sind gegen List und Tücke machtlos (wie der Kampf Davids gegen Goliath beispielhaft zeigt), entschließen sich die Menschen, um des Überlebens und der Sicherheit willen, auf das Recht zur Gewalt (also zu töten) zu verzichten und übergeben es an eine zentrale Autorität. Es handelt sich hierbei um einen Herrschafts- oder gar „Unterwerfungsvertrag“, wo die Gewalt in einer Person vereint wird und ihr die Aufgabe zufällt, allein Recht zu setzen und es auch durchzusetzen.

Hobbes lieferte die logische Begründung des staatlichen Gewaltmonopols in absolutistischer Form. Kann der Herrscher den inneren Frieden nicht gewähren, was etwa in einem Bürgerkrieg, den Hobbes in England gerade erlebt, der Fall war, wird er vertragsbrüchig und ein neuer Vertrag muss geschlossen werden, um den wieder ausgebrochenen Naturzustand der Rechtlosigkeit, wo jeder gegen jeden nach eigenem Recht kämpft, zu überwinden. Die Herstellung der gesetzlichen, der bürgerlichen Rechtsordnung suchen die Menschen nach Hobbes nicht aus Vernunftgründen, die treibende Kraft ist allein der Überlebenswille und das daraus resultierende Bedürfnis nach Sicherheit, um den unerträglichen Zustand des „bellum omnium contra omnes“, des Kriegs aller gegen alle zu überwinden.

Dieser Übergang vom fiktiven Naturzustand in den bürgerlichen Rechtszustand schließt nun im Innern alte Rechtsprinzipien wie die Fehde aus. Der Staat, personifiziert im jeweiligen Herrscher, setzt das Recht und erzwingt es. Mit der Weiterentwicklung zum Rechtsstaat wird der Staat dann selbst an das Recht gebunden und schließlich als Republik „unpersönlich“. Realiter ist das der Übergang vom Absolutismus, der in etwa die Phase vom Westfälischen Frieden bis zur Französischen Revolution (also 1648 bis 1789) umfasst und sich dann in West- und Mitteleuropa mehr und mehr in konstitutionelle Monarchien oder Republiken als Folge unterschiedlicher Interessenlagen und Kräfteverhältnisse der sozialen Stände und Klassen innerhalb der Länder entwickelt.

Ungelöst bleibt das Problem, dass der durch Staatsbildung überwundene Naturzustand im Innern sich auf der höheren Ebene der Staatenwelt reproduziert. Die Lösung wäre ein Weltstaat, der aber weit außerhalb der Reichweite des Möglichen liegt. Jeder Staat sucht zuallererst nach Sicherung seiner Existenz und seiner Souveränität. Dazu bedarf es der Macht, also Mittel, um sich gegen andere zu behaupten oder „seinen Willen auch gegen widerstrebende andere Willen“ (so die klassisch gewordene Definition der Macht von Max Weber) durchsetzen zu können.

Das Streben nach Macht entspringt keinesfalls dunklen seelischen Kräften im Menschen, das gilt insbesondere für Staaten. Macht ist die Bedingung zur Optimierung von Sicherheit. Und in diesem essentiellen Sicherheitsbedürfnis verbirgt sich (nicht nur) für die Staatenwelt ein Dilemma, denn da man nie sicher genug sein kann, streben alle Staaten insgeheim nach absoluter Sicherheit. Die aber besteht in einer Stärke und Macht, die wiederum potenzielle Bedrohung und Unsicherheit für alle anderen bedeuten kann. In Erscheinung tritt dieses Sicherheitsdilemma in der Gestalt von Rüstungen und Streben nach militärischer Macht. Da man Waffen aber nur selten ansieht, ob sie (nur) der Verteidigung oder (auch) dem Angriff dienen und das eine das anderen auch nicht ausschließt, ist eine Sicherheit gewährende militärische Stärke für andere eine potenzielle Bedrohung. Folglich entsteht zunächst ein höchst fragiles Gebilde formell gleichberechtigter, aber faktisch an Macht gemessen ungleicher Staaten, die alle über ihre Souveränität wachen, diese aber wegen der realen Ungleichheit der Staaten nicht immer selber garantieren können. Macht ist erkennbar die Währung der Politik.

Auf der Grundlage dieser Konstellation konkurrieren nun zwei „realistische“ Ordnungsmodelle miteinander, wie das originäre Bedürfnis eines jeden Staates nach Sicherheit ermöglicht werden kann. Das eine Ordnungsmodell ist die Hegemonie eines führenden Staates, der über die ausreichenden Machtmittel verfügt, die Spielregeln des Staatensystems für alle akzeptabel zu entwickeln und auch zu garantieren. Das andere Modell ist das Gleichgewicht mehrerer Mächte. Dieses der Mechanik entliehene Modell geht davon aus, dass mehrere Großmächte sich die Waage halten und dadurch den Frieden sichern, weil keine Seite das Risiko eines größeren Krieges eingehen will. Voraussetzung ist, dass es ein Minimum gemeinsamer Regeln geben muss, die von allen akzeptiert werden. Vereinfacht ausgedrückt, es bedarf einer gemeinsamen Sprache. Das war in der europäischen Diplomatie damals französisch und darin zeigte sich zugleich die herausragende Bedeutung Frankreichs für die Politik und Stabilität auf dem europäischen Kontinent.


Der Einbruch der Französischen Revolution

Dieses hier nur grob skizzierte Ordnungssystem funktionierte bis zur Französischen Revolution. Sie sprengte nicht nur die morsch gewordene innere Ordnung Frankreichs, beseitigte zuerst die Reste des Feudalismus, den Absolutismus und die Monarchie, sie sprengte damit aber auch die internationale Ordnung in Europa. Mit dem Ausscheren der Großmacht (strittig ist, ob auch Hegemonialmacht) Frankreich durch die revolutionäre Machterübernahme des Dritten Standes, dem Bürgertum, bricht Frankreich aus dem Konzert der Mächte der Monarchien aus und damit gingen die gemeinsame Sprache und die gemeinsamen Wertvorstellungen der nun alten Ordnung verloren. Die Revolution revolutionierte auch das internationale System mit der Folge, entweder verändert die Revolution die internationale Ordnung und schafft eine neue (unter Führung Frankreichs?) oder die Verfechter der alten Ordnung beseitigen den Unruhestifter.

Als sich dann die Mächte des Adels, der Monarchien, der alten Regimes 1792 im „Ersten Koalitionskrieg“ entschlossen, dem Generalangriff auf ihre Ordnung und Privilegien ein gewaltsames Ende zu bereiten und der Revolution den Krieg erklärten, den der französische Adel überwiegend gegen das eigene Land unterstützte, geriet er in Frankreich zugleich zum erbitterten Bürgerkrieg. Gegen den abtrünnigen Adel konstituierte sich die Revolution zur Nation und nahm den Kampf gegen die alten Mächte auf.

Militärisch betrachtet schienen damit die Tage der Revolution gezählt. Hier zeigte sich, dass der 14. Juli 1789 keine „Palastrevolution“ war, sondern dass die Revolution vom Volk getragen wurde. Gegen die „ordentlichen“ Heere der alten Mächte, die ihre Krieger wie Figuren auf einem Schachbrett auf den Kriegsschauplatz führten, bewaffnete die Revolution aus der Not heraus das Volk und revolutionierte mit der levée en masse auch noch die Kriegsführung. Was an disziplinierender Kriegsausbildung für eine „ordnungsgemäße Kriegsführung“ fehlte, kompensierte der Enthusiasmus der Krieger, die nicht für Sold oder unter Zwang, sondern für sich und für eine Idee, die neue Trinität von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und damit für ihre Nation kämpften. Schon durch die Wehrpflicht wurden aus den Kabinettskriegen Volkskriege, wobei letztere noch einen Schub dadurch erhielten, dass es sich hier zugleich um einen Revolutionskrieg handelte.

Kriegsgeschichtlich war das der Anfang vom Ende jener Kriege, wo unmotivierte Soldaten im Auftrag ihrer Herren für begrenzte Kriegsziele leidenschaftslos ihr Kriegshandwerk in klar geregelten Formationen möglichst sparsam erledigten. Diese geordneten Kampfverbände stießen nun auf das direkte Gegenteil. Wie eine Horde Wilder brachen sie in die starren Schlachtordnungen ein und brachten damit ein neues Element in die Kriegsführung, der Gegner wurde zum Feind und ihm galt die Vernichtung, denn nur dadurch konnte seine Wiederkehr verhindert werden. Die Revolutionäre verfolgten fliehende Soldaten, massakrierten sie, was bis dahin als unanständig galt, denn irgendwie war man auch „Kollege“. Man nannte bis hierher nicht ganz zu Unrecht den Krieg den „Sport der Könige“. Damit war es nun vorbei. (Delbrück, 517 ff.)

Das adelige Europa sah mit Entsetzen und Abscheu auf die Barbarei auf den Schlachtfeldern, wo alle „Einhegungen“ einer geregelten Kriegsführung außer Kraft gesetzt wurden. Die Empörung änderte nichts am Erfolg der Revolutionäre. Sie bezwangen zwar die alten Mächte nicht, aber sie retteten die Revolution gegen die Zerstörung von außen. Damit war zwar die alte Ordnung der Staatenwelt am Ende, aber eine neue noch nicht in Sicht, denn das revolutionäre Frankreich fügte sich nicht in das alte System ein.

Der entscheidende Wandel vollzog sich nun im Inneren Frankreichs. Als Napoleon dann als Erbe der Revolution sie zugleich beendete, aber den entfachten Enthusiasmus in domestizierter Form für seine imperialen Zwecke militärisch so nutzbar machte, um damit ganz Europa einer von Frankreich bestimmten neuen Ordnung militärisch zu unterwerfen, erlebte die Zeitgenossen gleichzeitig bei den Gegnern Frankreichs einen Lernprozess, der darin bestand, Teile des erfolgreichen Feindes so zu kopieren, dass man ihn damit besiegen konnte. Die vielgerühmten „Stein-Hardenbergschen Reformen“ in Preußen gelten als ein Paradebeispiel dafür.

Wie diese Ereignisse zeigen, hatte die Revolution noch eine weitere in die Zukunft weisende Veränderung im Gepäck. Bis dahin begrenzte sich die Politik auf die „Große Politik“ und das war allein die Außenpolitik der Staaten. Diplomatie und Krieg waren die zentralen Erscheinungs- und Kommunikationsformen. Sie war die alleinige Domäne der jeweils Herrschenden. Das Volk spielte darin, wie in der Politik insgesamt, keine Rolle. Lediglich bei Hungerrevolten meldete es sich zu Wort, um beruhigt zu werden.

Das änderte sich schlagartig mit der Revolution. Die „Volksmassen“ mischten sich nicht nur ein, sie übernahmen das Zepter und bestimmten fortan mehr oder weniger auch die Außenpolitik. Der Einfluss des Volkes, die innere Ordnung der Staaten wurde zu einem (tendenziell entscheidenden) Faktor der internationalen Politik. Erfolge der Nachahmung der Revolution, veränderten die Machtverhältnisse und die Revolutionäre verbrüderten sich als Freunde der Revolution über die Staatsgrenzen hinweg gegen die sich ebenfalls formierenden Feinde der Revolution. Der entscheidende Effekt war insgesamt, dass die Trennung von Außen- und Innenpolitik sich auflöste. Die Außenpolitik wurde von den inneren Verhältnissen abhängiger, wenn nicht sogar durch sie bestimmt und die Verhältnisse im Innern, der Kern der Souveränität, wurde zum Gegenstand der internationalen Beziehungen.

Ein wichtiges politisches Ereignis in dieser turbulenten Zeit gilt als Auslöser für Kants Schrift Zum ewigen Frieden. Mit dem Baseler Frieden von 5. April 1795 schied Preußen aus dem 1792 begonnenen „Ersten Koalitionskrieg“ gegen das revolutionäre Frankreich aus der Allianz der Mächte des „Ancien Régime aus militärischen Gründen aus. Der Friedensschluss bedeutete die völkerrechtliche Anerkennung der Französischen Republik und damit der Revolution durch eine monarchische Großmacht Europas. Kants daraus resultierende Absicht kann so interpretiert werden, den Friedensschluss dieses Krieges mit der Bedingung der Möglichkeit eines Friedensschlusses zur Beendigung aller Kriege mit einer weltpolitischen Perspektive zu verknüpfen, wo das „Menschenrecht“ zur Basis künftiger Politik wird. Der Frieden wird aus dieser Perspektive zum Resultat und zur notwendigen Bedingung einer neuen Politik. Aus dieser Sicht ist Kants Traktat nicht der Abschluss, sondern der Beginn einer neuen umfassenden Theorie der Politik. Kant stand mit dieser Erwartung nicht allein. Zahlreiche Revolutionäre und ihre intellektuellen Zulieferer „träumten“ in diesen Tagen von einer großen Lösung eines Menschheitsproblems und der Realisierung eines Traumes.


Kants Idee der föderalen Staatenwelt und deren Interpretationen

Als Immanuel Kant 1795 seine Broschüre Zum ewigen Frieden in die Öffentlichkeit schickte, war Napoleon noch eine unbekannte Größe. Im Untertitel fügte Kant „Ein philosophischer Entwurf“ hinzu. Es ist auch ein Werk gespickt mit feiner Ironie. Das beginnt mit dem hintersinnigen Titel. Kant verweist in einer Vorbemerkung auf das Schild eines Wirtshauses, auf dem ein Friedhof und darunter der Name Zum ewigen Frieden erkennbar ist. Der Friede als „Friedhofsruhe“? Was ist das für eine Botschaft?

Sie beginnt konsequenterweise nicht mit einer Jeremiade über das Elend des Krieges, seinen Fluch für die Menschheit und die tiefe Sehnsucht derselben nach dem Frieden, sondern ganz pragmatisch analog zu „echten Friedensverträgen“ mit sechs „Präliminarartikeln“ zum ewigen Frieden unter Staaten. Das Ganze erscheint als eine Art Entwurf für einen damals üblichen Friedensvertrag zwischen Staaten.

Erstens dürfe es keinen Friedensschluss geben, „der mit dem geheimen Vorbehalt des Stoffs für einen künftigen Krieg gemacht worden“. Denn ein solcher wäre lediglich ein Waffenstillstand, nur ein Aufschub der Feindseligkeiten, würde aber kein Ende der „Hostilität“ bedeuten und so dem Beiwort „ewig“ widersprechen.

Zweitens „soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können.“ Da der Staat keine dem Boden gleiche „Habe“ sei, also kein einfaches Stück Land als Besitztum, sondern „eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten und zu disponieren hat“, verbiete sich eine solche Übertragung, weil sie die Existenz einer moralischen Person aufhebe und zu einer Sache mache, was der „Idee des ursprünglichen Vertrags“ widerspräche, „ohne die sich kein Recht über ein Volk denken läßt.“  (VI, 197) Der ursprüngliche Vertrag beruht nach Kant auf der Freiheit und Gleichheit aller.

Drittens sollen „stehende Heere“ mit der Zeit ganz abgeschafft werden, denn sie „bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen“. Zudem setzen sie Rüstungswettläufe in Gang, durch die der Friede kostspieliger werde als ein kurzer Krieg. Da die Soldaten zudem zu bloßen „Maschinen und Werkzeugen des Staates“ entrechtet werden, plädiert Kant ersatzweise für eine Wehrpflicht für Staatsbürger. (VI, 197 f.)

Viertens sollen „keine Staatsschulden in Beziehung auf äußere Staatshändel gemacht werden.“  Was nach Kant für die Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur eine „unverdächtige Hülfsquelle“ ist, wird andernfalls zu einem „Schatz zum Kriegführen“ und sogar zu einer Erleichterung zum Kriegführen und somit ein großes Hindernis zum ewigen Frieden.

Fünftens soll sich kein Staat in die „Verfassung und die Regierung eines anderen Staates gewalttätig einmischen“. Diese unbedingte Hochachtung der staatlichen Souveränität gilt auch für den Fall einer „inneren Verunreinigung“ mit Spaltung in zwei Teile, wenn einer den Anspruch auf das Ganze erhebt, so lange der innere Streit unentschieden ist, würde eine „Einmischung von äußeren Mächten“ die „Autonomie aller Staaten unsicher machen“. Selbst bei einem Bürgerkrieg gilt also: heraushalten! (VI, 199)

Sechstens sollte sich „kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen“. Die angeführte Sammlung solcher Tatbestände können wir hier verkürzt als „Kriegsverbrechen“, also Verbrechen im Krieg zusammenfassen, die jegliches Vertrauen in die betreffende Partei untergraben würde.

In einem zweiten Abschnitt folgt nun mit drei „Definitivartikel zum ewigen Frieden unter Staaten“ der eigentliche Kern des „Weltverfassungsvertrages“, also des Friedensschlusses zur Beendigung aller Kriege überhaupt. Der besteht ganz kurz aus nur drei Artikeln:

  1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll eine republikanische
  2. Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein.
  3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.

In der gesamten Abhandlung verschwindet dieser Kern zwar etwas in einem „Gestrüpp“ von Präliminarien, Erläuterungen, Zusätzen etc. Sie klären den Unterschied zwischen dem Naturzustand, der ein Kriegszustand ist und der überwunden wird durch den Eintritt der Rechtspersonen in eine aufsteigende Reihe von Rechtsordnungen, die ihren Ausgang mit dem Staatsbürgerrecht nimmt, in dem sich ein Volk unter dem gemeinsamen Recht des Staates vereint. (Kant nennt es das ius civitatis) Die nächste erforderliche Rechtsstufe ist die Vereinigung der Staaten und Völker in einem Völkerrecht, welches den Verkehr der Völker als Staaten untereinander regelt. (ius gentium) Die dritte und höchste Stufe ist die des Weltbürgerrechts (ius cosmopliticum). Hier werden Personen als „Bürger eines allgemeinen Menschenstaats“ angesehen. Diese drei Teile sind, nur zusammen erfüllt, notwendige Elemente der Idee zum ewigen Frieden. (VI, 203 sowie auch IV. 429)

Die hier formulierten Bedingungen der Möglichkeit – um eine vertraute Sprachform Kants zu bedienen – eines ewigen Friedens, finden bei Kant weitere mehr oder weniger umfassende Erörterungen. Wir sehen uns gezwungen sie hier zu begrenzen, um ihre fortwährende Bedeutung und Rezeption sowie den Bezug auf die Gegenwart stärker hervortreten zu lassen.

Wenn wir die grundsätzliche Kritik, die das gesamte Ansinnen als unsinnig, unrealistisch, illusionär und sogar gefährlich zurückweist, zunächst ausklammern, lassen sich zwei konträre Positionen finden. Sie vermischen sich heute mit der Frage, was an Kants Entwurf noch tragfähig ist und was zu tun bleibt.

Mit dem Schwerpunkt auf den zweiten Artikel stellt sich pragmatisch die Frage, welche institutionelle Form Kant vorschwebte. Gegenüber dem handlungsunfähigen Völkerbund wird die UNO heute unbestritten als ein wesentlicher Fortschritt gewürdigt. Insbesondere im Bereich der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Sibylle Tönnies hat in diesem Sinne die UNO sogar als die Realisierung der Forderungen Kants angesehen, die mit seinem Projekt den Mangel gemeinsam habe, dass es an einem Welt-Gewaltmonopol fehle. In allen anderen weiterführenden Fragen erkennt sie bei Kant sich widersprechende Positionen. Dem Universalreich steht er nicht nur wegen der drohenden Despotie ablehnend gegenüber, es widerspreche auch der Natur, denn die wolle eine Teilung der Welt in Staaten, die sich durch deren Eigenarten wie Sprache und Religion als unüberwindbare Substanzen auszeichnen. Dem widerspreche auch ein „Weltstaat“, den Kant als Despotie eruieren würde. (siehe dazu VI. 225 f.) Schon in Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte sah er in dem Versuch des „Zusammenschmelzen der Völker“ ein Unheil. (VI. 98) Der Krieg, nicht als der gewesene, sondern als der in Permanenz mögliche sei mit den damit verbundenen „Zurüstungen“ ein größeres Übel, weil dadurch „alle Kräfte des Staats, alle Früchte seiner Kultur, die zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten“, verschlingt würden. (VI.99)

Aber schließlich sei für Kant, so Tönnies, eine rechtlich geordnete „Staatengemeinschaft“ doch wohl besser als ein neuer Leviathan Hobbesscher Provenienz. Es fehlt allein die sanktionierende Autorität der Rechtsdurchsetzung, oder das zentrale Gewaltmonopol für die gesamte Menschheit. Dass Formen der „Kollektiven Sicherheit“ wichtige Schritte und Elemente sein können, um (statt des ewigen Friedens zu garantieren) wenigstens Kriege zu verhindern, ist heute relativ unstrittig, Kant hat später in der Metaphysik der Sitten explizit darauf hingewiesen. (IV. 478)

Deutlich ist, dass Kant die Universalität der Menschheit allein auf die Gleichheit der Rechte bezieht. Dementsprechend regelt der dritte Artikel mit dem „Weltbürgerrecht“ die Rechte des Menschen gegenüber dem Staat und die Pflichten der Staaten gegenüber dem Menschen. Für Kant haben alle Erdenbürger das Recht, überallhin zu reisen und auch ein Gastrecht, aber sie genießen kein Bleiberecht.

Was es mit diesem dritten Artikel auf sich hat, erschließt sich nicht sogleich. Kurt von Raumer weist auf den historischen Kontext hin, auf die die Beschränkung der „allgemeinen Hospitalität“ zielt. „Kant tritt damit in Schärfe der herrschenden Kolonialpraxis entgegen, mit der die Seemächte aus der Fiktion eines internationalen Gastrechts die Befugnis ableiteten, auf außereuropäischen Boden sich nicht bloß niederzulassen, sondern Herrschaft zu gründen.“ (Raumer, 169)

Wenig beachtet wird dagegen, dass Kant zwar stets darauf hinweist, dass es die Staaten als Träger des Rechts sind, die eine Föderation bilden, er aber nirgends eine organisierte Form dafür erwähnt. Eine Erklärung dafür bietet eine andere Gewichtung der drei Artikel. Rückt man den ersten in die vorderste Front der Begründung, verlagert sich das Gewicht auf die innere Ordnung, die republikanische Verfassung. Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg beispielsweise hält den ersten Artikel für allein entscheidend. Er sieht in Kants Entwurf Zum ewigen Frieden einen politischen Handlungsentwurf, der gestärkt durch die Französische Revolution seine politische Radikalisierung zum Ausdruck bringt. Die Republik stehe als Rechtsstaat mit Gewaltenteilung im Gegensatz zur direkten Demokratie, deren ungeteilte Volkssouveränität für Kant eher ein umgekehrter Absolutismus sei. Nur in der Form der Republik als Rechtsstaat mit Gewaltenteilung sind die Staaten in der Summe durch ihre innere Ordnung die Träger und Garanten eines ewigen Friedens, die allerdings mit einer repräsentativen Demokratie erweitert werden müsse. Denn die Gewähr für den Willen zum Frieden gäbe es nur, wenn das Volk selbst über Krieg und Frieden entscheide. Angesichts der bekannten Folgen von Kriegen sei die Entscheidung unzweifelhaft.

Aber Kant sieht nun in einem Verbund von Staaten mit einer eigenen Organisation, an die das Souveränitätsrecht über Frieden und Krieg zu entscheiden delegiert würde, keinen Ersatz für die Ausübung des Gewaltmonopols gegenüber den Staaten, weil das lediglich ein fragiler Überstaat wäre, der das alte Elend auf noch höherer Ebene reproduziere. Die Staaten mit ihrer republikanischen inneren Ordnung als Träger des Rechts werden zum alleinigen Garanten des ewigen Friedens. Sie bleiben souveräne Einheiten und nur kraft ihrer inneren Verfassung geben sie in der Summe die Gewähr für einen ewigen positiven Frieden als definitive Überwindung des Krieges. Ob und wieweit ein Völkerbund für Kant schließlich eine Zwischenlösung wäre, bleibt für Kielmansegg offen.

Gegen diese Interpretation lässt sich allerdings einiges einwenden. Kant hatte schon 1784 in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht explizit die Idee eines Völkerbunds entwickelt, „wo jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlichen Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte.“ (VI. 42) Ebenso argumentiert er in der zur gleichen Zeit erschienen Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Falls der Eintritt in die „weltbürgerliche Verfassung“ noch nicht möglich sei, müsse zur Not der steigende Hang zum Kriege durch einen „rechtlichen Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht“ überbrückt werden. (VI.169 f.) Dies sei allemal hilfreicher als jene „Balance der Mächte in Europa“, die Jonathan Swift satirisch als ein „reines Hirngespinst“ entlarvt habe. Kant verteidigt zwar auch den allgemein belächelten Friedensplan von Rousseau im Anschluss an den Abbé von St. Pierre, aber Kant hielt an seiner Theorie fest, die von Rechtsprinzip ausgehe, wie das Verhältnis unter den Menschen und den Staaten sein solle nach der Maxime: „Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis“. (VI. 172) Und in der Metaphysik der Sitten findet die Föderation noch einmal als ein Schritt zum Frieden eine ausführliche Würdigung. (IV. 467 ff.)

Denkbar wäre, dass Kant nach und durch die Französische Revolution seine Position insofern radikalisierte, dass er die Möglichkeit der Realisierung schon als gekommen sah und deshalb insbesondere der erste Artikel des Weltfriedensvertrages nun von zentraler Bedeutung wird, weil mit der Revolutionierung der inneren Verhältnisse in der Summe die Idee eines ewigen Friedens überhaupt erst eine dauerhafte Chance bietet. Daran war vor 1789 nicht zu denken und dass die Revolution eine Kettenreaktion auslösen könnte, das war nach erfolgter Revolution zwar eine sehr optimistische Annahme, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Denn der „Revolutionsexport“ durch Nachahmung hatte in Europa kurzfristig Konjunktur. Das aber rief überall auch eine über den Adel hinausgehende Gegenrevolution auf den Plan, weil die alten Mächte und ihre Profiteure eine zu radikale Veränderung fürchteten und so lieber dem unkalkulierbaren „Spuk“ ein Ende bereitet wollten.


Die Quellen des Optimismus Kants

Wenngleich die Zeitumstände einiges erklären, woher Kant seinen Optimismus nahm, dass es sich hier nicht um Träumereien oder eine weltfremde Utopie handele, so muss man dazu auch noch etwas tiefer in die Begründungsstruktur bei Kant eindringen. Kants Hoffnung auf die Möglichkeit des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit beruhte auf einem eher „realistischen“ Menschenbild und einer optimistischen Geschichtsphilosophie.

Er unterstellte einen Antagonismus in der Natur des Menschen. An sich war der für ihn weder gut noch böse, weder Engel noch Teufel. Beides war in ihm vorhanden und aus solch „krummen Holze“ ließ sich eben „nichts Gerades zimmern“. Er ist ein Einzelwesen und zugleich auf die Anderen angewiesen, also auch ein Sozialwesen. Kant nennt das Ergebnis dieser widersprüchlichen Zweiteilung „ungesellige Geselligkeit“, die ihn dazu treibt, Dinge zu tun, die man ihm gar nicht zutraut. Dazu gehört die freiwillige Einordnung in eine Rechtsgemeinschaft, so würde selbst „aus einem Volk von Teufeln“ bei nur etwas Verstand eine Ordnung in einem allgemeinen Interesse entstehen. Kant verlangt keinen neuen Menschen. Es ist des Menschen wohl ewige Natur, dass er sich zuweilen selbst überlistet und zu einer Kraft wird, die vielleicht das Böse will, aber doch das Gute schafft. (VI. 224 f.)

Diese List entdeckt Kant vor allem in dem „Handelsgeist“, auf dessen Entwicklung er große Hoffnungen setzt. Denn hier führt der Eigennutz die Menschen zu einem gemeinsamen Interesse zusammen. Es werden Regeln zum allgemeinen Nutzen entwickelt, die den Verkehr der Bewohner der Erdkugel, der man durch Ausdehnung nicht entweichen kann, erleichtern und ermöglichen. (VI. 226 f.)

Dieser „Glaube“ an die List des Fortschritts, den Kant im Prinzip in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht im Novemberheft 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erstmals entwickelt hatte, erhielt durch die Französische Revolution einen gewaltigen Schub. Was er zuvor als mehr oder weniger kontrafaktische Ideen formulierte, wird hier über Nacht Wirklichkeit und liefert den realen Beweis, dass es sich nicht um weltfremde Träumereien handelt, sondern um neue Wirklichkeiten. Und die nehmen 1795 mit dem Baseler Frieden noch größere weltliche Gestalt an, weil für Kant mit diesem Friedensvertrag durch die Anerkennung der Französischen Republik und damit der Errungenschaften der Revolution durch die alten Mächte, der Friedensschluss für den ewigen Frieden, das ist die Abschaffung aller Kriege zwischen den Staaten, vorweggenommen wird.

In einem zusätzlichen Geheimen Artikel zum ewigen Frieden, der seinem Gebot widerspricht, solches aus tatsächlichen Friedensverträgen wegen der Publizitätspflicht zu streichen, bringt er die Rolle der Philosophen ins Spiel, denn schließlich handelt es sich laut Untertitel des Traktats um einen philosophischen Entwurf. Gefordert wird als Zusatz: „Die Maximen der Philosophen über die Bedingungen der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Kriege gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden.“ (VI. 227) Da kein Staat in seiner unendlichen Weisheit öffentlich einräumen würde, sich bei seinen Untertanen Rat in solchen Angelegenheiten zu holen, dies ihm aber zu empfehlen sei, solle er dies „stillschweigend (also ein Geheimnis daraus macht)“ erfolgen, indem der Staat dazu auffordert, „sie frei und öffentlich über die allgemeinen Maximen Kriegsführung und Friedensstiftung reden (zu) lassen (denn das werden sie schon von selbst tun, wenn man es ihnen nicht verbietet).“ Und darüber herrsche ohne besondere Verabredung zwischen den Staaten kraft der Menschenvernunft Einigkeit. Damit sei keine Präjudizierung der Philosophen weder gegenüber den Juristen noch dem Staate gefordert, sondern nur, dass man sie höre. Worum es Kant geht, ist die Publizität, die freie Entfaltung des öffentlichen „Räsonnierens“ über solch elementare Angelegenheiten wie Krieg und Frieden.

Süffisant fügt er hinzu: „Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ (VI. 228) Damit hat Kant das Problem des Spannungsverhältnisses von Macht und Moral, von Wahrheit und Lüge in der Politik wie auch das Verhältnis der Philosophen und anderer „Räsonnierer“ zur Macht und Verantwortung thematisiert. Und diesem Thema widmet er einen Anhang zu seinem Traktat, den wir hier übergehen.

Kant stand mit seiner Erwartung, die Französische Revolution könnte der Ausgangspunkt eines epochalen Wandels der Menschheitsgeschichte zur Freiheit und zu einem ewigen Frieden sein, nicht allein. Viele Revolutionäre und ihre geistigen Anwälte hofften darauf und glaubten an eine baldige Realisierung. Nun war Kant kein enthusiastischer Träumer, sondern sein Traktat hieß bewusst „zum“ und nicht „vom“ ewigen Frieden. Frieden ist für ihn das Ziel aller Politik, aber keine chiliastische „Naherwartung“ eines kommenden Himmelsreichs auf Erden.

Bevor Kants Idee „unsterblich“ wurde, erlebte sie ihre Beerdigung durch Napoleon, als dieser sich selbst zum Kaiser krönte und damit an die Stelle einer französischen Hegemonialmacht gleich die alte Universalmonarchie wiederaufleben lassen wollte. Vor diesen Rückfall ins Hochmittelalter bewahrte uns zwar Waterloo, aber den Sieg trug keine neue Friedensordnung davon, sondern der Versuch. die alte Ordnung zu restaurieren. Die Monarchen und Diplomaten verhandelten nach wie vor auf französisch und der Wiener Kongress 1815 kehrte zum vertrauten System des Gleichgewichts der Mächte unter Einbeziehung Frankreichs zurück. Pikanterweise war der geistige Architekt dieses Systems, der enge Vertraute des österreichischen Staatskanzlers Clemens Fürst Metternich und spätere Sekretär des Wiener Kongresses ein gewisser Friedrich Gentz, der einst Kants Lieblingsschüler, sogar Gast seiner Tafelrunde und für eine sehr kurze Zeit ein glühender Anhänger der Französischen Revolution war.


Max Adler oder der Sozialismus als Erbe Kants

Gemessen an diesen Fakten, war die Idee eigentlich schon vor ihrer Geburt gestorben. Aber die Hoffnungen beruhten auf einer Zukunft, die in verschlungenen Wegen Besserung bescheren sollte und könnte. Versucht man nach über zweihundert Jahren eine Bilanz zu ziehen, sieht das Ergebnis deprimierend bis zwiespältig aus, weil in Kants Entwurf vieles keinen Eingang finden konnte, was wir als spätgeborene Besserwissen einspeisen können und müssen.

Kant kannte die Geiseln jener modernen Welt noch nicht, die ihm folgte. Weder die grausamen Folgen des Nationalismus, des Rassismus und Imperialismus, der den „guten Handelsgeist“ ins Gegenteil verkehrte. Er wusste nichts von der neuen Ökonomie.  die den größten Teil des Volkes als Träger der Arbeitskraft in eine ordinäre Ware verwandelt und ganz andere soziale Spannungen erzeugt. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg war der Glaube an den Fortschritt, der sich bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr auf die Technik und Ökonomie beschränkte, als Humanitätsidee in den Schützengräben begraben worden. Und Kant erlebte zwar noch eine „soziale“ und politische Revolutionierung der Kriegsführung, von der er zwar nicht wie Goethe sagen konnte, er „sei dabei gewesen“, aber die Entfesslung der Kriegsführung durch die moderne Technik hin zum „totalen Krieg“ blieb ihm erspart.

Selbst nach diesem ersten gewaltigen zivilisatorischen Einschlag hatte die Idee des Friedens keine uneingeschränkte Hochachtung. Gegen „Nie wieder Krieg“ stand in Deutschland die Rache für den „Schandfrieden von Versailles“ und übernahm die Deutungsmacht. Selbst die grausigsten Erinnerungen an das Kriegsgemetzel, dieser „Maschine des Todes“ wie es treffend genannt wurde, änderte nichts grundlegend an der weiterhin betriebenen Verherrlichung des Krieges und seiner politischen Notwendigkeit, um Deutschlands verlorene Größe wieder herzustellen.

Gegen diese Geisteshaltung setzte der österreichische Sozialist Max Adler, einer der bedeutendsten Marxisten seiner Zeit (und darüber hinaus), einen Kontrapunkt, indem er mit Rekurs auf den „eigentlichen Geist der Kantschen Friedensidee“ nach einer Erklärung dafür sucht, warum man noch immer keinen Schritt vorangekommen sei.

Adler begreift Kants Schrift als integralen Bestandteil seiner praktischen Philosophie, als eine „Anwendung ihres Leitmotivs“, „keinen Menschen bloß als Mittel, sondern jeden auch als Zweck zu behandeln.“ (Adler, 272) Kants Ethik baue an einem „Reich der Zwecke“, in dem die „berechtigten Zwecke eines jeden gefördert werden durch die des anderen“. Ein Rechtsstaat sichert die freie Entfaltung eines jeden ohne Schaden anderer und im Gedanken des Völkerbundes wiederhole sich, was auf der Staatsebene erfolgreich vollzogen wurde. Dies alles ist für Adler konsequenter Ausfluss Kantscher Geschichtsauffassung, die wir oben schon skizziert haben. Sie ist für ihn der Vorläufer jener „Dialektik des gesellschaftlichen Lebens“, die von Hegel „mystifiziert“ und von Marx „soziologisch fundiert“ wurde. Am Ende entstünde aus diesem „Plane der menschlichen Natur“ schließlich ein „Bund der Völker“. Der Vorteil Kants liege darin, dass seine Idee sich realisiere, gerade weil die Menschen keine Engel seien. Damit konterkariere er von Beginn an den trivialen Einwand, das Ziel sei unerreichbar, weil es eben diese Engel voraussetze.

Aber eine für Adler fundamentale Voraussetzung ist die Erfüllung des Demokratiegebots für alle Staaten, wobei er Kants Unterscheidung von Demokratie und Republik als unwesentlich suspendiert. Es gehe Kant um drei Grundsätze: Das Prinzip der Freiheit aller, der gleichen Gesetzgebung für alle und dies als Basis der Gleichheit aller Staatsbürger. (Adler, 277) Das sei die innere Voraussetzung für den Frieden, denn wenn alle darüber entscheiden, ob sie die Drangsale des Krieges erleiden wollen, stünde es um eine Zustimmung zu ihm schlecht, weil erkannt werde, dass der Krieg ein Rückfall in den Naturzustand der Wildheit, also jene „gesetzlose Freiheit“ des Menschengeschlechts sei, den man sich lieber erspare. Adler notiert als institutionelle Schwäche der existierenden Demokratien, dass über Krieg oder Frieden eben nicht das Volk entscheide. Friedensfördernd sei zudem der mit dem Handelsgeist einher gehende Kosmopolitismus. Er verkleinere die Erdkugel, sodass die „Rechtsverletzungen an einem Platz der Erde an allen gefühlt“ wird.

Dass nun offenkundig Kants gechichtsphilosophisch begründeten Erwartungen (noch immer) nicht eingetreten sind, liegt für Adler daran, dass Kant zu seinen Lebzeiten keine Ahnung davon haben konnte, was die nach ihm folgende Epoche der bürgerlich-kapitalistischen Welt mit sich bringen würde. Kant lebte in einer Zeit, in der das Ideal der bürgerlichen Welt mit den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft sich im Kernbegriff des Weltbürgertums manifestierte. Dass sich die Völker in dieser Gesellschaftsordnung innerhalb der Staaten in neue Klassenformen spalten, die sich auch auf die Welt als Interessengegensätze erstrecken und den friedensfördernden Handelsgeist in sein Gegenteil verkehren, bewirkt eine negative Dialektik der Entwicklung, die Kant nicht ahnen konnte. Nicht der Handel an sich, sondern seine kapitalistische ins imperialistische sich steigernde Form, verändert seinen Charakter und Funktion. Mit Kant gesprochen entsteht eine neue Stufe der „ungeselligen Geselligkeit“, deren Überwindung Adler zur Aufgabe des internationalen Sozialismus macht. Recht behalte Kant damit, dass der „Völkerfriede wirklich als das Produkt der Entwicklung aus Kampf und Streit notwendig hervorgeht.“ (Adler, 285 f.) Dass dies nun zur weltgeschichtlichen Mission des Proletariats im Kampf für den Sozialismus als Überwinder des Kapitalismus wird, überrascht bei dem praktizierenden Sozialisten Adler nicht, aber die sich an Kant anlehnende Argumentation ist erwähnenswert.

Und sie hatte und hat noch eine Aktualität im Gepäck. Adler fordert von den Sozialisten eine Revision zur Einstellung zum Pazifismus. Der verlange keine Abstinenz im Klassenkampf, sondern andere Akzente zu Krieg und Frieden. Adler hält die Parole „Nie wieder Krieg!“ für den Staatenkrieg für unabdingbar und ebenso eine Ausrichtung der Politik, die den Frieden zum höchsten Ziel und Wert erklärt. In diesem Sinne wäre der Sozialismus der „Vollstrecker des Vermächtnisses von Immanuel Kant.“ (Adler, 289)


Kants Aktualität in der Gegenwart

Mit Max Adlers Würdigung Kants nach dem Ersten Weltkrieg wurde die sich verändernde Bedeutung der Idee Kants Zum ewigen Frieden und die Möglichkeit ganz anderer Antworten auf die veränderten Problemlagen deutlich. Adlers Sozialismus mit einem Proletariat als sozialen Träger scheint sich mittlerweile definitiv überlebt zu haben. Anknüpfungspunkte ergeben sich verstärkt mit der Betonung der Menschenrechte, die mit dem Weltbürgerrecht in Verbindung gebracht werden. Habermas‘ Versuch von hier aus mit der Stärkung der individuellen Grundrechte die Position der demokratischen Rechtsstaaten zu stärken, findet seine Widersacher in den Vertretern autoritärer bzw. totalitärer Ordnungsvorstellungen, in Deutschland in exponierter Form in dem berühmt-berüchtigten Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt. (Habermas, 226 ff.)

Problematisch geworden ist der Grundsatz, die republikanische Verfassung sei die notwendige Voraussetzung für einen ewigen Frieden. Habermas verweist darauf, dass schon unmittelbar nach Kant die Entstehung auch demokratischer Nationalstaaten zwar der Form nach den republikanischen Ansprüchen nahegekommen seien. Auch sei die Bedeutung der Nation sei als Vehikel zur Mitwirkung breiter Bevölkerungsteile in der Politik, dem Prozess vom Untertan zum Bürger, nicht zu unterschätzen, aber ebenso wenig sei zu übersehen, dass unter de Begleitphänomen des Nationalismus nicht nur das Weltbürgerrecht, sondern auch die Friedfertigkeit der Staaten litt. Keinesfalls waren die Demokratien unter der Dominanz des Nationalismus friedlicher als die dynastischen Obrigkeitsstaaten. (Habermas, 200)

Die Veränderungen des Kriegswesens, die schon oben skizziert wurden, stellen uns heute mit Blick auf die Entwicklung der Waffentechnik (Nuklearwaffen) vor völlig andere Probleme. Wer nun in dem System der Staaten selbst die Quelle allen Übels und für die Permanenz des Krieges erblickt, muss bedenken, dass gerade in unserer Gegenwart der Zerfall von Staatlichkeit der Weltpolitik „schwarze Löcher“ beschert, die „neue Kriege“ verbunden mit neuen Formen des Terrorismus hervorbringen.

Die UNO ist als Weltorganisation zwar als Instrument zur Konfliktbeilegung gedacht, aber durch ihre innere Struktur, insbesondere durch das Vetorecht der immer stärker konfrontativen Positionen der Nuklearmächte im Sicherheitsrat wird sie ohne effektive Exekutivgewalt faktisch, je mehr sie gebraucht wird, zu einem „Papiertiger“. Sie ist jedenfalls weit davon entfernt, dem zu entsprechen, was Kant sich unter einer Föderation als Zwischenlösung vorgestellt haben könnte. Was nicht heißt, dass sie überflüssig ist. Sie umfasst fast alle Staaten unserer Erde und ist die Verkörperung eines mittlerweile kodifizierten und formal anerkannten Völkerrechts. Als „Weltparlament“ ist sie der Ort einer regulativen Idee, an der die Mitgliedsstaaten ihr Verhalten messen lassen und ihr Handeln begründen müssen.

Die größte Ernüchterung erfährt Kants erster Artikel. Die Demokratieforderung weist zwei Problemfelder aus. Wie Habermas geltend macht, belegen historisch-statistische Forschungen, dass Demokratien „nicht weniger Kriege führen als autoritäre Regime“, aber sie führen sie nicht gegeneinander als Demokratien und sie sind insgesamt auch im Verkehr unter sich weniger bellizistisch. „In dem Maße, wie die universalistischen Wertorientierungen einer in freiheitlichen Institutionen gewöhnten Bevölkerung auch die äußere Politik prägen, verhält sich ein republikanisches Gemeinwesen zwar nicht insgesamt friedlicher, aber die Kriege, die es führt, haben einen anderen Charakter. Mit den Motiven der Bürger verändert sich auch die Außenpolitik ihres Staates.“ (Habermas, 200) Und erschwert demnach den Einsatz militärischer Gewalt. Das ist mittlerweile der Kern dessen, was von der Idee der „idealistischen Schule“ der Internationalen Politik und ihrer Lehre vom „Demokratischen Frieden“ übriggeblieben ist. Man kann das als wachsenden Realismus bezeichnen, mit dem Zusatz, umso schlimmer für die Realität, aber gemessen an den Erwartungen und Hoffnungen, die in Kants Idee vom ewigen Frieden als reale Möglichkeit konzipiert wurden, stehen wir vor einem ideellen und realen Debakel.

Das wird noch dadurch gesteigert, dass seit einiger Zeit die globale Demokratisierungswelle, in die nach dem Ende des Kalten Krieges so große berechtigte Hoffnungen gesetzt wurden, einen eher gegenteiligen Verlauf in Richtung Vermehrung autokratischer Regime annimmt. Und die Liste der negativen Entwicklungen wird noch angereichert durch die unübersehbaren Krisentendenzen im Innern der etablierten liberalen Demokratien. Macht man heute die Friedenshoffnungen von der Stärkung der liberalen Demokratien abhängig, gerät man wohl in die Rolle Don Quichottes.


Ausblick und Fazit

Wir leben gegenwärtig in einer weltpolitische Umbruchphase, auf der erzwungenen Suche nach einer neuen Weltordnung. Die wird aber nicht von konkurrierenden Ideen und Weltentwürfen geprägt, sondern allein von Verschiebungen im Machtgefüge der Großmächte. Unklar ist nur, wer letztlich wie viel Macht in die Waagschale werfen kann, um die künftige Ordnung in welchem Umfang zu bestimmen. Wie und was für eine friedliche dauerhafte Ordnung dabei herauskommen soll, ist nicht einmal ein Diskussionspunkt. Fraglich ist eher, wer in welchem Umfang bereit ist, das Risiko des Einsatzes kriegerischer Mittel einzugehen, um seine Ordnungsinteressen durchzusetzen. Wir leben nicht mehr in einer Welt der Friedens- und Konfliktforschung, sondern der Herstellung von „Kriegstüchtigkeit“.

Seitdem wir jüngst durch Taten vor unserer europäischen Haustür belehrt wurden, dass Schillers Satz aus seinem Wilhelm Tell „Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ den Kern einer gegenwärtigen, aber traurigen friedenspolitischen Wahrheit enthält, hat die scheinbar ausgestorbene normative realistische Schule wieder die absolute Meinungsführerschaft. Si vis pacem, para bellum. Wer den Krieg verhindern will, der muss ihn vorbereiten. Das ist wieder der Wahlspruch der Gegenwart.

Nimmt der Wahnsinn uneinholbar seinen Lauf? Oder gibt uns der Realist Kant doch einen Hoffnungsschimmer? Wie war das noch mit dem „Volk von Teufeln“? Erwacht in uns etwas von einem Eigennutz, der zur Umkehr führt? Es wäre angesichts dessen, dass der Weg zum ewigen Frieden wohl noch unendlich lang wird, schon ein kleiner Fortschritt. Vielleicht muss sein Traktat auch weniger hoffnungsvoll gelesen werden. Die Idee zum ewigen Frieden gleicht den Sternen, die der Steuermann auf hoher See benötigte, um in den nächsten Hafen zu gelangen. Sie selbst sind unerreichbar, aber als Orientierungspunkte unverzichtbar.




Zit. Literatur:

Adler, Max; Kant und der ewige Frieden (1924), in: Immanuel Kant zu ehren. Hg. J. Kopper / R. Walter. Frankfurt a.M. 1974, S. 269 – 289

Delbrück, Hans; Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Bd. 4 Neuzeit. Berlin – New York 2000 (1920)

Gentz, Friedrich; Über den ewigen Frieden. (1800), in: ders. Revolution und Gleichgewicht. Hg. H.J. Hennecke, Leipzig 2010, S. 289 – 333

Habermas, Jürgen; Kants Idee des ewigen Friedens – au dem historischen Abstand von 200 Jahren, in ders. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a.M. 1996, S. 192 – 236

Kielmansegg, Peter Graf; Drei Regeln für den Frieden, in: Die Zeit v. 22. Dezember 2004

Raumer, Kurt von; Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. München 1953

Tönnies, Sibylle; Träumender Realismus. Überschätzt: Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. März 2004

Literatur von Kant:

Kant, Immanuel: Kant Werke. Hg. Wilhelm Weischedel, Bde. I. bis VI. Frankfurt a.M. 1964, römische Ziffern ist die Bandangabe, arabische Ziffern die Seitenzahlen. Die gleiche Seitenangabe findet sich jeweils in zwei Halbbände unterteilt in der 12 Bände umfassenden Ausgabe im Suhrkamp Verlag in der „stw“ Reihe, nach der hier zitierten Ausgabe gilt dann Band I. = 1. und 2, Band II. = 3. und 4. etc.

Die Metaphysik der Sitten (1797), IV. 303 – 634

Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), VI. 31 – 50

Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), VI. 51 – 62

Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschichte (1786), VI. 83 -102

Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), VI. 125-172

Zum ewigen Frieden (1795/6), VI. 191 – 252

Streit der Fakultäten (1798), VI. 261 – 394

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