Am Anfang des 19. Jahrhunderts war Wittenberge eine unbedeutende Kleinstadt mit gerade mal 1000 Einwohnern
Dann kam Salomon Herz …
… 1791 in Bernburg geboren (den Familienname Herz hatte sein Vater Levin Wolff angenommen, dessen Vorfahr Hirsch Wiener Ende des 17. Jahrhunderts aus Österreich vertrieben worden war), erhielt 1820 „von der Herzoglich Anhaltinischen Landesregierung gegen Erlegung des üblichen Schutzgeldes die Genehmigung zur Fortführung seines in keine Innung schlagenden Handelsgeschäftes“. Nachdem er 1822 Louise Wolfs, eine Tochter des Bankiers Moses Wolfs aus Halle geheiratet hatte, erlaubte ihm die üppige Mitgift seiner Frau eine neue Unternehmung:
In einem Brief an die Königlich Preußische Regierung in Potsdam schrieb er später: „Bis zum Jahre 1823 ließ ich auf fast allen Oelmühlen an der Saale von Calbe bis Merseburg Oel fabriciren. Bei der damaligen Unvollkommenheit der inländischen Mühlen (…), welche eine den Bedarf erreichende Production nicht zuließ, mußten indeß alljährlich zur Deckung des inländischen Consumes große Quantitäten Rüboel aus den Niederlanden und aus Hamburg bezogen werden. Deshalb entschloß ich mich im Jahre 1823 in Wittenberge eine große Oelmühle anzulegen. “
Die Zeit und der Standort waren klug gewählt. 1806 war die Gewerbefreiheit in Preußen eingeführt, 1820 die sog. Mühlengerechtigkeiten aufgehoben und Herz 1823 als preußischer Staatsbürger naturalisiert worden, so dass er nun frei agieren konnte. Wittenberg lag verkehrsgünstig direkt an der schiffbaren Elbe, vor den Toren der Stadt gab es ein großes Anbaugebiet für Lein, Rapst, Rüben und Sonnenblumen, und es standen genügend Arbeitskräfte zur Verfügung…
Herz kaufte also 1823 in Wittenberge ein Dünengrundstück an der Elbe, ließ dort seine Ölmühle bauen und gründet die erste Ölhandlungsgesellschaft Deutschlands. Das „Comptoir“ dieser Gesellschaft befand sich zunächst noch in Berlin, von wo aus das Geschäft geleitet wurde. „Die Fahrt von Berlin nach Wittenberge dauerte mit Extrapost oder in eigener Kalesche etwa 14 Stunden, mit der Bahn nach Potsdam, von dort mit dem Dampfboot nicht viel weniger“, so Amtsgerichtsrat Dr. Ludwig Herz, sein Enkel.
Für Wittenberge war es die erste Industrieanlage überhaupt, mit der Herzschen Ölmühle war der Grundstock für die weitere städtische Entwicklung gelegt und die industrielle Revolution eingeläutet. Salomon Herz ließ hier also aus allem, was die Flora hergab, Rohöl herstellen, vor allem für technische Zwecke, als Schmiermittel für die steigende Zahl von Fahrzeugen und Fabrikmaschinen, zur Beleuchtung und in geringem Umfang auch für Speisezwecke (später wurde das mehr, als es noch keine Margarine gab und sich Pflanzenfett als billigstes Fett für Nahrungszwecke etablierte).
1825 erhielt Salomon Herz den Bürgerbrief von Wittenberge, 1827 das Bürgerrecht von Berlin und wirbelte in Wittenberge weiter. 1835 ließ er einen Hafen anlegen, 1837 kaufte er von der Stadt „ein Revier auf der sogenannten Edelmanns-Mäsche… zur Anlage eines Canals … zum Treiben einer Wasser-Mühle“ und ließ hier 1838 zwischen der Stepenitz und dem Stadthafen einen drei Kilometer langen Kanal bauen, so dass nicht nur der Transport der Güter leichter vonstatten ging, sondern die drei Mühlräder, die vorher mit Pferdekraft bewegt wurden, nun mit Wasserkraft betrieben werden konnten, die wiederum 16 Ölpressen antrieben.
Der Wittenberger Bürgermeister Salomon Anton jubelte: „Die Fabrik, welche der Kanal betreibt, ist die vorzüglichste und größte in ganz Europa. Ihre drei großen Wasserräder lassen keinen Tropfen unbenutzt. Eins von diesen Rädern ist hinreichend, um 16 hydraulische Pressen in Bewegung zu setzen, welche in 24 Stunden 16-18 Wispel Obstkerne verarbeiten, und es ist zu erwarten, daß Verbesserungen folgen. Der Betrieb bringt vielen Leuten Brot. Ebenso bringt der Anbau der Obstkerne und der Absatz aller Produkte dem Landmann viele Nahrung. An Nützlichkeit übertrifft daher diese Fabrik jede andere. Ebenso erhielten durch den Bau des Kanals viele Leute Arbeit und Verdienst…“
Der Fabrikant war noch nicht am Ziel. Der Transport fand ja vorerst auf dem Wasserweg statt. Doch Salomon Herz, der auch Aktionär der Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft war, gelang es als Financier und Lobbyist die Entscheidung der preußischen Regierung von 1845 beeinflussen, die im Bau befindliche Eisenbahnlinie Berlin-Hamburg über Wittenberge zu legen und eine Anschlussstrecke nach Magdeburg sowie eine Elbbrücke zu bauen. Dabei hatte es erst manche Widerstände und dann Jubel gegeben, wie Ludwig Herz berichtete: „Auch dass die Eisenbahnlinie von Hamburg nach Berlin über Wittenberge geführt wurde – Perleberg sträubte sich wie viele kleine Städte damals gegen die neumodische Erfindung – ist Salomon zu verdanken. Der Fackelzug, den ihm die Wittenberger dann brachten, war wohl verdient. Denn seinem regen und einsichtsvollen Unternehmungsgeist … sowie der Mitbegründung der hier sich kreuzenden Eisenbahn hatte die Stadt einen wesentlichen Aufschwung zu verdanken“.
Bald gab es jedenfalls Herzsche Importverbindungen bis nach Rumänien, Russland und Indien. Und seine Unternehmungen gelten zu Recht als Beginn der Industrialisierung Wittenberges. Auch wenn 1856 noch ein großes Unglück geschah. Aus einem zeitgenössischen Bericht: „Am 24. Februar 1856, abends 7 ¼ Uhr, kam es zu einem Großfeuer in der Ölfabrik. Das Feuer fand in den gestapelten Ölsaaten reiche „Nahrung“. Durch die abfließenden brennenden Öle glich der Wittenberger Elbehafen einem einzigen Flammenmeer, nachdem die im Hafen liegenden Schiffe ihre Liegeplätze in panischer Flucht verlassen hatten. Der Schreckensruf: „Die Elbe brennt!“ beherrschte die Stadt. Die durch den Großbrand entstandene Hitze war so groß, dass sich durch die entstehenden Winde die Flügel der nördlich der Mühlenstraße stehenden beiden Windmühlen in Bewegung setzten. Das Feuer dauerte mehrere Tage, der Feuerschein war bis nach Magdeburg zu sehen. Sämtliche Fabrikationsanlagen der Wittenberger Ölfabrik wurden vollständig zerstört.“
Doch noch im selben Jahr begann Salomon Herz im großen Stil mit dem Wiederaufbau seiner Fabrik, die in den Folgejahren noch ständig erweitert und modernisiert wurde.
Eine jüdische Gemeinde gab es in Wittenberge im 19.Jahrhundert nicht. Wollte die Handvoll Wittenberger Juden die Synagoge besuchen, mussten sie nach Perleberg (in Wittenberge wurde erst 1923 eine Gemeinde gegründet, als dort immer noch wenige Juden, aber zumindest zehn jüdische Männer, lebten). Salomon Herz verfuhr aber auch ohne Gemeinde nach den Prinzipien der jüdischen Zedaka. Er spendete regelmäßig den Zehnten für wohltätige Zwecke an die Stadt und wurde 1855 von der Wittenberger Kooperation der Kaufmannschaft Herz zu deren „Ältesten“ gewählt und 1863 von der Stadt Köthen zum Ehrenbürger ernannt (er betrieb dort einen jährlichen Saatenmarkt, und ließ die Herzstiftung zur Unterstützung der Armen in Köthen einrichten).
Als Salomon Herz 1865 starb und in Berlin auf dem jüdischen Friedhof Schönhauser Allee begraben wurde, hatte er das Geschäft schon an seine Söhne Wilhelm (1823–1914) und Hermann (1827–1917) übergeben. Und die führten die karitative Familientradition fort. Sie spendete ein „Maasserkonto“ („Armenzehnt“), richteten 1859 eine Unterstützungskasse für Fabrikarbeiter der Firma (eine Betriebskrankenkasse) ein, riefen 1873 zum 50jährigen Bestehen der Ölmühle die „S. Herz Jubelstiftung für Arbeiter“ zum Wohle der Armen ins Leben, finanzierten den Bau von 16 mietfreien Wohnungen für alte und erwerbsunfähige Arbeiter, und 1897 den Bau eines städtischen Waisenhauses. Aufgrund all ihrer Verdienste benannte die Stadt 1898 die Werkstraße zum Gelände der Ölmühle in Herzstraße.
Vor allem Salomons Sohn Wilhelm Herz, zu seiner Zeit als „Öl-Herz“ bekannt, sorgte für den Weltruf des Unternehmens und war auch in Berlin ein hochangesehener Mann. Er trug entscheidend zur Entwicklung der Speiseöl-Industrie in Deutschland bei, gründete in Berlin mit seinem Bruder Hermann darüber hinaus eine Gummiwarenfabrik, wurde zum Geheimen Kommerzienrat ernannt, war Präsident der Ältesten der Kaufmannschaft, dann Präsident der 1897 eingerichteten Handelskammer, Mitbegründer der Berliner Schultheiß-Brauerei AG, dort wie bei der Deutschen Bank Vorsitzender des Aufsichtsrates, Ehrenbürger der Stadt Wittenberge – und er war der erste Kaufmann und einer der beiden Berliner Juden, denen der Titel „Excellenz“ verliehen wurde (der eigentlich höchsten Beamten vorbehalten war). Als er 1914 starb, führten seine Söhne Max, Hans und Paul das Unternehmen weiter…
Doch die Weltwirtschaftskrise erwischte auch „Ölherz“. 1929 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, in der NS-Zeit „verlor“ es dann noch seinen Namen, auch die Herzstraße wurde in Bad Wilsnacker Straße umgenannt (wie sie heute noch heißt) und Luise Herz, die Tochter von Max Herz, dem letzten jüdischen Geschäftsführer der S. Herz GmbH, und ihr Mann Julius Grau, verloren ihr Leben. Sie wurden 1941 nach Litzmannstadt deportiert und kehrten nicht zurück, während sich ihre vier Kinder noch ins Ausland hatten retten können.
In der DDR-Zeit wurde die Ölfabrik zum Volkseigenen Betrieb, nach der „Wende“ privatisiert, dann die Ölherstellung aufgegeben und die Anlage abgerissen. Heute befindet sich im Rest des unter Denkmalschutz stehenden liebevoll sanierten Gebäudekomplexes ein Hotel, ein Festsaal, ein Tauchturm (ein Wasserbecken in einem der alten Eisentanks), ein Restaurant und eine Brauerei, die zu Ehren von Salomon Herz ein Bier Namens „Herzbräu“ braut (am besten zu trinken auf dem neugestalteten Platz vor dem historischen Bahnhofsgebäude in Wittenberge, der nun Salomon-Herz-Platz heißt). Ein Prost auf die Familie Herz!