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Gava, Kühnert – und kein Ende?

Was wir alle aus der aktuellen Debatte in der Osnabrücker SPD lernen können

Die anstehende Kampfabstimmung über die beiden SPD-Bewerber für die Bundestagskandidatur des Wahlkreises Osnabrück, Manuel Gava (MdB) und Thomas Vaupel, ist nicht nur ein Thema für die Sozialdemokratie. Hintergründe offenbaren die Gnadenlosigkeit des Politikalltags, der überall, nicht nur in der SPD, zu finden ist. Zugleich droht falscher Applaus von denen, die AfD wählen oder von solchen, die allein Politikverdrossenheit predigen. In Wahrheit muss es darum gehen, jederzeit Demokratie und politische Prozesse zu stärken. Darum sollten wir auch unschöne Beispiele politischer Streitkultur nutzen, um daraus für alle zu lernen.


Demokratischer Disput als Lebenselixier

Programm- oder Personalentscheidungen zählen zum Lebenselixier einer politischen Partei. Nirgendwo weiß man das besser als in der 161 Jahre alten deutschen Sozialdemokratie. Die gesamte Historie der SPD besteht aus harten Debatten um den richtigen Weg. Triumphe, grundlegende soziale und demokratische Errungenschaften, aber auch Irrwege und Tragödien sind dabei eingeschlossen. Es ist halt die „alte Tante SPD“, über die sich Menschen immer mal wieder freuen oder auch furchtbar ärgern können – und in der sich Genossinnen und Genossen wie in keinem vergleichbaren Diskussionsforum im Lande streitbar, solidarisch und engagiert zugleich betätigen können.

Der Parteivorstand der Osnabrücker SPD hat nun mehrheitlich beschlossen, den in der SPD-Bundestagsfraktion tätigen und in Osnabrück geborenen Berliner Thomas Vaupel zum Kandidaten für die nächste Bundestagswahl vorzuschlagen. Hier wird naturgemäß ein demokratisches Recht wahrgenommen. Zu entscheiden haben alles am Ende die gewählten SPD-Mitglieder einer Wahlkreiskonferenz, die am 24. Oktober stattfindet. Beiden Kandidaten ist ohne Umschweife zuzugestehen, dass es sich um kompetente, integre und an den Grundwerten der SPD orientierte Genossen handelt.


Reale und angebliche Hintergründe

So weit, so gut, könnte man meinen. Entscheidend am Mehrheitsvotum des Osnabrücker Unterbezirksvorstandes war allerdings, was nur zwischen den Zeilen des Beschlusses zu lesen war: Manuel Gava, 33 Jahre alt, anno 2021 mit sensationeller Mehrheit direkt gewählter Bundestagsabgeordneter für den Osnabrücker Wahlkreis, wurde mit sechs von zehn stimmberechtigten Vorstandmitgliedern das Vertrauen entzogen, das nötig gewesen wäre, um erneut nominiert zu werden.

Wer über Vermutungen oder Hintergründe der Entscheidung nachdenkt, könnte angesichts einer historisch gewachsenen Streitkultur der Sozialdemokratie zunächst annehmen, dass der beschlossene Personalvorschlag mit jeweils anderen, also deutlich alternativen Inhalten jeweiliger Kandidaten zu tun hat. Wer steht für was? Was unterscheidet beide? SPD-Insider erinnern sich noch gut an die Aufstellung des Kandidaten zur Bundestagswahl 2005, als der vormalige Karmann-Betriebsratsvorsitzende und entschiedene Hartz-4-Gegner Harald Klausing am Ende vergeblich gegen den glühenden Anhänger der Agenda 2010 Gerhard Schröders, Martin Schwanholz, angetreten war. Vor dem Wahlgang 2013 wiederholte sich eine personelle Alternative zum damals neoliberalen und großkoalitionären SPD-Kurs. Der Sozial- und Gesundheitsexperte Ramis Konya hatte am Ende, ebenfalls vergeblich, versucht, Schwanholz mit einem weitaus sozialeren Profil abzulösen.

Und nun? Manuel Gava, dessen Abgeordnetentätigkeit, wie man schnell hört, in vielen gesellschaftlichen Bereichen von Stadt und Region deutliche Spuren hinterlassen hat, erfährt den Vorwurf von Verfehlungen: Ganz offenkundig war er mehrere Monate lang nicht ausreichend präsent. Er fehlte in Sitzungen, sagte kurzfristig Teilnahmen ab, zuweilen vielleicht auch unentschuldigt. In Berlin und Osnabrück mehrten sich Klagen, die zuvor nicht zu vernehmen waren.

Anfang September unternahm Manuel Gava allerdings zur großen Überraschung aller einen Schritt, der bei anderen Mandatsträgern völlig undenkbar gewesen wäre: Er gab die Verfehlungen unumwunden zu. Und er machte den Grund für seine Versäumnisse öffentlich. Danach leidet er an der für Männer seltenen, schwer zu erkennenden Autoimmunkrankheit Lupus. Gava auf Instagram:

„Seit rund 1,5 Jahren kämpfe ich selbst mit den Symptomen dieser Krankheit und habe vor wenigen Monaten endlich die Diagnose erhalten. (…) Weil ich immer wieder auf meine Symptome oder gelegentliche Ausfälle angesprochen wurde, die auf diese Krankheit zurückzuführen sind, habe ich mich entschieden, das offen zu thematisieren. (…) Lupus verläuft in Schüben, und jeder Mensch ist anders betroffen. Natürlich muss man sein Leben etwas anpassen, aber momentan bin ich fit, treibe Sport und lerne, mit dieser Veränderung umzugehen.“

Die Erklärung krankheitsbedingter Hilflosigkeit lag somit offen auf dem Tisch. Was aber blieb, waren die Vorwürfe zu den genannten Versäumnissen. Gepaart waren sie mit weiteren Mutmaßungen zur Gesundheit. Gava kontert alles mit Verweis auf seine öffentlich gemachte Diagnose, gepaart mit dem unbedingten Willen, an seine bereits einmal erfolgte Direktwahl anzuknüpfen und in Berlin, mit deutlich verbesserter Gesundheit, weiter den Osnabrücker Wahlkreis zu vertreten.


Lehren für alle: Menschen wie Kühnert und Gava 

Im aktuellen Disput offenbart sich weit mehr als ein provinziell anmutender Streit um geeignete Personen. Deutlich wird, was politisch für das Allgemeinwohl tätige Menschen mittlerweile zugemutet und sogar als selbstverständlich angesehen wird. Eingefordert wird der ständig präsente, fitte, fügsame, rundum funktionsfähige Mandatsträger ohne menschliche Schwächen. Einer, der sich gefälligst merken soll, was man ihm mit auf den Weg gibt. Eine Politvariante der legendären eierlegenden Wollmilchsau eben.

Blicken wir einmal, jenseits von Osnabrück, auf das Geschehen der letzten Wochen zurück. Der Zoom fällt auf Berlin. Da erklärt das wohl größte Talent der deutschen Sozialdemokratie, MdB und Generalsekretär Kevin Kühnert, seinen sofortigen Rückzug aus der Politik. Totales Burnout infolge restloser Erschöpfung ist in aller Munde. Was wäre umgekehrt passiert, wenn Kevin konfus und abwesend bei Markus Lanz gesessen hätte? Wenn ein Generalsekretär trotz Ankündigung nicht als Vortragender auf einem Unterbezirksparteitag erschienen wäre? Wenn er gar als Redner der SPD im Bundestag aufgerufen worden wäre und die Kamera hätte ihr Objektiv allein auf das leere Rednerpult geschwenkt? Kevin Kühnert hätte ein politisches Waterloo erlebt. Er hat das vermieden und die Reißleine gezogen. Fertig. Aus.


Die Mär vom vielen Geld

„Ach, die sollen sich nicht so haben. Verdienen viel Geld und machen einen auf Herumjammern.“ So oder ähnlich könnten nun manche reagieren, wenn sie Kevin Kühnerts, aber auch Manuel Gavas Fallbeispiele beleuchten. Stimmt. Wenig Geld verdient wird während der befristeten Mandatstätigkeit nicht. Ein gutes Richtergehalt etwa, oder das eines kommunalen Sparkassendirektors. Dass Vorstandmitglieder von DAX-Konzernen, auch bei VW, mindestens eine Null an jenes Monatseinkommen anhängen können, Millionenerben gar hämisch lachen, sei nur nebenbei bemerkt.

Entscheidend ist dabei aber die Bewertung von „Diäten“. Erkämpft wurden die einst von Vertretern der Arbeiterbewegung in Parlamenten. Der Kampf tat not, weil Abgeordnete aus der Arbeiterklasse im Gegensatz zu reichen Kollegen der Konkurrenz, die aus Adel oder Großkapital stammten, aus dem Berufsleben ausscheiden mussten und über keine Millionen verfügten.


Schlag nach bei Martin Schulz – und bei Willy Brandt!

Die Kernfrage aber lautet: Kann man für jene „Diäten“ wirklich alles verlangen? Um einen Einblick in den Alltag von Berufspolitiker*innen zu gewinnen, reicht die Darstellung des ehemaligen SPD-Parteivorsitzenden Martin Schulz. Spiegel-Frontmann Markus Feldenkirchen hatte anno 2018 ein ganzes Buch namens „Die Schulz-Story“ über den Politalltag des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten im Wahlkampf geschrieben – und dabei dessen Innenleben brutal bloßgelegt.

Heraus kam dabei eine einvernehmliche Selbstentblößung, die im Berliner Alltag einmalig geblieben ist. Jetzt hat Martin Schulz einem anderen Spiegel-Redakteur in der aktuellen Magazin-Ausgabe dies über einen normalen Polit-Alltag eines Funktionsträgers, vom Bürgermeister bis zum Abgeordneten, offenbart:

„Du musst sieben Tage, die Woche 24 Stunden lang verfügbar sein. Du hast auch selbst das Gefühl, immer erreichbar sein zu müssen. Bist Du es einmal nicht, und es passiert etwas, haut man dir das gnadenlos um die Ohren. (…) Die Tage beginnen sehr früh am Morgen und enden oft spät in der Nacht. Du bekommst wenig Schlaf, kaum Ruhe, und in diesen 12-16 Stunden Arbeitszeit stehst du dauernd unter Druck. (…) Jedes noch so komplexe Problem soll nicht jetzt, sondern am besten schon gestern gelöst werden, jedenfalls auf keinen Fall erst morgen. Das ist unmöglich. Deshalb wirken Politikerinnen und Politiker oft wie Menschen, die zwar alle Probleme beschreiben können, aber nie liefern.“

Wir ahnen es: Handy, Social Media, auf Fehler lauernde Sensationsjournalisten und die Digitalisierung haben all jene Probleme noch massiv verschärft. Vergessen ist heute, dass vor fünf Jahrzehnten der weltweit angesehene Bundeskanzler Willy Brandt phasenweise an Depressionen litt. Tagelang musste er sich damals aus dem rauen Politikgeschäft zurückziehen. Geschadet hat es seinem Ruf, nehmen wir Springers Hetzpresse aus, nie.


Die Moral von der Geschichte

Es bleibt das gute Recht der Osnabrücker SPD, jetzt unter zwei personellen Alternativen wählen zu können. Eine wahre Meisterleistung dürfte es allerdings sein, den entstandenen Schaden so umzukehren, dass alles ein Lehrstück wird. Gemeint ist ein Lehrstück dergestalt, uns allesamt zu befragen, wie wir eigentlich menschlich in der Demokratie miteinander umgehen wollen.

Die AfD, auch Figuren wie Markus Söder, sollen hier einmal ausgenommen werden. Für die anderen bleibt die Lehre: Beleidigt sein oder gar Rückzüge, welcher der Beteiligten auch immer, wären die schlechtesten Alternativen. Egal, ob man jetzt einmal siegt oder verliert. Die gemeinsame Einsicht, dass politischer Disput im Interesse der Sache nötig, personelle Beschädigungen aber völlig fehl am Platze sind, zeigt ganz allein den richtigen Weg. Lernen wir also daraus! Dies wiederum gilt nicht nur für die „alte Tante“ SPD, sondern für alle, die sich demokratisch für das Gemeinwohl engagieren.

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