Politisches Denken in der Nachkriegszeit
Wieder eine Demokratie ohne Demokraten?
Die Nazi-Herrschaft wurde nicht von innen gestürzt, sie brach durch den Krieg zusammen. Es gab kein handlungsfähiges politisches Subjekt, dass vom Volk anerkannt und getragen von einem Programm den Neuaufbau hätte starten können. Es gab keine politisch vereinende Idee, die als Quelle des Neuen gelten könnte. Das musste auch Kurt Schumacher erfahren und zur Kenntnis nehmen. Es gab Antifa-Gruppen, die im Widerstand überlebt hatten und sogleich aktiv werden wollten, aber die wollten die Besatzungsmächte weder im Osten noch im Westen. In der kritischen Literatur zur Aufbereitung der Nachkriegszeit in den siebziger Jahren wurden diese Strömungen stärker hervorgehoben und gewürdigt, dabei aber zuweilen in ihrer effektiven Bedeutung auch überschätzt. Aber im Unterschied zur vorherigen Geschichtsschreibung wenigsten erwähnt und gewürdigt.
Sicherlich hätte niemand in der „Stunde Null“ den Optimismus aufgebracht (abgesehen davon, dass niemand keine Ahnung davon haben konnte, dass „Bonn“ einmal ein politischer Begriff werden könnte wie „Weimar“), dass schon zehn Jahre später der Buchtitel eines Schweizer Publizisten namens Fritz René Allemann nicht nur zum geflügelten Wort der Hoffnung wurde, sondern die weitere Geschichte seiner kühnen Prognose recht gab: Bonn ist nicht Weimar. Aber war die Geschichte der BRD deshalb eine reine Erfolgsgeschichte ohne alternative Ideen?
Die Wirtschaftsordnung setze sich mehr „hinter dem Rücken“ des Volkes als durch bewusste kollektive Entscheidung durch. Mit der Kontinuität der Eigentumsordnung wurden Pflöcke eingeschlagen, die nur noch schwer zu verändern waren. Dass der Wandel innerhalb der CDU, das Erstarken der bürgerlichen Kräfte, die sich mit Konrad Adenauer durchsetzen, hier eine wesentliche Rolle spielte und die BRD-Wirtschaftsordnung den Anforderungen und Wünschen der Führungsmacht USA entsprach und somit nicht als ein Oktroi von außen, sondern als selbstgewählter Weg erschien, das war und ist für ihre Legitimität sehr wichtig, Aber die Diskussion, ob hier Chancen verpasst wurden und wie viel „Souveränität“ den Deutschen auch im Westen zugebilligt wurde, ist zwar nicht mehr so intensiv, aber keinesfalls am Ende.
Das gilt auch für die Institutionalisierung des demokratischen Systems. Nach dem Blick zurück, wie es zu dem Vergangenen kommen konnte, verändern wir nun den Blick nach vorn aus den Anfängen. Hier begegnen wir auch anspruchsvollen Ideen von Demokratie, die grundsätzlicher Art waren.
Zwei Modelle der Demokratie
Demokratie als Staatsform gibt es nicht nur im Singular, sondern es gibt viele Formen und Ausprägungen von demokratischen Strukturen. Dass in Deutschland eine „föderale Struktur“ favorisiert wurde, ergab sich zum einem aus einer insbesondere bei den Christdemokraten weiter gepflegten deutschen Tradition. Ein Föderalimus entsprach auch am ehesten allen Deutschlandplänen der Alliierten nachdem die „Zerstückelung“ nach der Konferenz von Jalta im Februar 1945 ad acta gelegt worden war. Aus der eigenen Struktur heraus waren vor allem die USA Befürworter einer ausgeprägten dezentralen föderativen Struktur.
Dem schlossen sich die Briten und Franzosen dann an. In der „Sowjetischen Besatzungszone“ (SBZ) stellte sich diese Frage nicht in vergleichbarer Weise, weil die SBZ einerseits als föderaler Teil eines Ganzen galt und deren Teilgliederungen in der späteren DDR-Struktur keine wirksame föderale politische Funktion erhielten. In den Kategorien von Zentralismus vs. Föderalismus war die DDR für sich ein zentralistischer Staat.
Welche weiteren Ideen von Demokratie gab es über die „formale“ Staatsrechtsordnung in West-Deutschland hinaus? Da wir hier nicht die Debatten im Kontext der Entstehung des Grundgesetzes rekonstruieren wollen – und können, beschränke ich mich auf eine grundsätzliche und kontroverse Frage der Bedeutung und Funktion der Demokratie, die sich in der Nachkriegszeit andeutete.
Demokratietheorie war im Deutschland der großen Denker kein Thema. Seit Hegel und Marx spielte die Politik in der Philosophie in Deutschland keine herausragende Rolle mehr. Eine Politikwissenschaft als eigene wissenschaftliche und akademische Disziplin gab es hier noch nicht und wäre ohne den Drang der Alliierten – als Teil des Reeducation-Programms – hier auch gegen den überwiegend erbitterten Widerstand der Juristen und Historiker nicht eingeführt worden. (s. dazu insgesamt Bleek 2001)
Politik, als die „Kunst des Möglichen“ oder als „Machtpolitik“, war keine Wissenschaft. Politik wurde identisch gesetzt mit „Staat“ und der war als „Staatsrecht“ ein Gegenstand für Juristen. Dieser so verstandenen „Politik“ wurde die akademisch heimatlose „Ökonomie“ zur Seite gestellt und beide gemeinsam als eine „Staatswissenschaft“ in die juristischen Fakultäten eingliedert.
Als empirischer Gegenstand wurde die Politik historisch betrachtet und wurde aus dieser Perspektive das Eigentum der Historiker. Hier reduzierte man sie zumeist auf „Haupt- und Staatsaktionen“, das wurde – wenn überhaupt – theoretisch ganz im Geiste der dominanten „Ranke-Schule“ mit einem Primat der Außen- vor der Innenpolitik begründet. Der Einzug von wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Aspekten in die Geschichtsforschung findet sich zwar schon vermehrt spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, aber das waren Außenseiter und in den westdeutschen Universitäten müssen sie auf ihre Akzeptanz noch bis in die 1970er Jahre warten.
So blieb das theoretische Nachdenken über Politik eine Aufgabe, die keine akademische Zuständigkeit hatte. In der universitären Philosophie in Deutschland hatte politisches Denken im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nur unter den „Neukantianern“ einen bescheidenen Platz erhalten, als insbesondere Hermann Cohen dort eine Verbindungslinie von Kant zum Sozialismus suchte. Mit Beginn der Weimarer Republik wurde mit der Gründung der „Hochschule für Politik“ in Berlin zwar der Versuch unternommen, Politik zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin zu institutionalisieren, aber zu mehr als einer Art „Volkshochschule“ auf hohem wissenschaftlichem Niveau, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven der politischen Analyse widmete und der Fortbildung des zahlreicher werdenden Personals in Parteien, Verbänden und sonstigen Organisationen widmete. Von der inhaltlichen Zusammensetzung war der Lehrkörper so pluralistisch, dass neben Demokratieverfechtern auch ihre Antipoden von der „Konservativen Revolution“ hier vertreten waren.
Für die Nazis war es dennoch keine erhaltenswerte Institution. Auch Karl Jaspers gehörte nicht zu den „politischen Philosophen“. Interessanterweise übernahmen diesen Part in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aber zwei bekannte Persönlichkeiten, die seinem akademischen Umfeld zugerechnet werden können. Die im amerikanischen Exil lebende Jüdin Hannah Arendt, die in den fünfziger Jahren mit ihrem einflussreichen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft in die Theoriegeschichte der Politik einging, hatte er promoviert und mit ihr verband ihn eine lebenslange enge Freundschaft.
Vor Ort in Heidelberg war es Dolf Sternberger, der spätere (erste) Professor der Politikwissenschaft an der dortigen Universität, der mehr ein indirekter Schüler von ihm war und der sich mit politischen Fragen aus philosophischer Perspektive beschäftigte.
Er startete wie viele andere als politischer Schriftsteller mit Aufsätzen in politischen Zeitschriften. Davon gab es unmittelbar nach dem Krieg so viele, dass man von einer „Zeitschriftenflut“ sprach. Mit der Währungsreform und der Aufgabe der Lizenzvergabe durch die Besatzungsmächte geriet nach der Staatsgründung 1949 dieser Bereich von der Flut in eine kräftige Ebbe. Nur wenige überlebten und begleiteten die Geschichte der BRD über lange Zeit. Die einflussreichen Frankfurter Hefte, die von den „Linkskatholiken“ Eugen Kogon und Walter Dirks gegründet und herausgegeben wurden, vertraten einen europaorientierten und antiklerikalen „christlichen Sozialismus“. Sie hielten sich bis ans Ende der 1980er Jahre und fusionierten dann mit der dem sozialdemokratischen Theorieorgan Neue Gesellschaft.
Die von dem Amerikaner Malvin J. Laski seit 1949 herausgegebene Zeitschrift Der Monat war bis Ende der 1970er Jahre das Zentralorgan überwiegend linksliberaler Intellektueller. Das mit etlichen kommunistischen Konvertiten ausgestattete Blatt war ein dezidiert „antitotalitäres und antikommunistisches“ Blatt, das – wie sich 1967 offenbarte – vom CIA finanziert wurde. Das einzige Blatt, das bis heute überlebt hat, ist der Merkur, der sich dem Europagedanken verpflichtet sieht und immer noch eine der anspruchsvollsten Zeitschriften in Deutschland ist.
Zu den Zeitschriften, die verheißungsvoll starteten, aber noch vor der Gründung der BRD ihren Geist aufgaben, gehörte Die Wandlung, Sie wurde von Karl Jaspers mit seinem Heidelberger Kollegen Alfred Weber, dem Kultursoziologen und jüngeren Bruder des berühmten Max Weber 1946 gegründet und herausgegeben. Dolf Sternberger war ihr Chefredakteur.
Er gehört zu den mittlerweile weniger bekannten Vertretern des politischen Denkens in der BRD, obwohl die von ihm entwickelte Idee des „Verfassungspatriotismus“ allgemein bekannt ist. Weniger bekannt ist, dass Sternberger der Autor einer anspruchsvollen Theorie der Demokratie ist, die als „paradigmatisch“ zu benennen ist.
In seinem grundlegenden Beitrag, der Die Wandlung 1946 unter dem Titel Herrschaft der Freiheit 1946 erschien, versuchte er in einer Bestandsaufnahme der „Situation der Zeit“ einen gehaltvollen Begriff der Demokratie zu entwickeln. Seine Gegenwartsdiagnose ist uns zwar schon vertraut, aber sie soll für seinen Begründungszusammenhang nochmals zitiert werden. „Irgendein revolutionäres Pathos würde uns Deutschen heute (…) übel anstehen, denn wir haben keine innere Revolution vollzogen; wir sind von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft nicht durch eine innere Revolution, sondern (…) durch eine äußere Revolution befreit worden, durch den Krieg nämlich.“ (Sternberger 1946, 66)
Sternberger erinnert an die Verfehlungen und Verirrungen der internationalen Politik, des Völkerbundes und der westlichen Demokratien im Umgang mit den Faschisten, den Fehlern des „Westens“ im Spanischen Bürgerkrieg, in der Sudentenkrise und den Missverständnissen des Selbstbestimmungsrechts der Völker nach dem Ersten Weltkrieg. Angesichts des Scheiterns aller neuen Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg – mit der Ausnahme der Tschechoslowakei – zieht er daraus wesentliche Schlussfolgerungen für die Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien die wichtigsten hier kurz notiert:
„Wenn Freiheit herrschen soll, kann keine Freiheit denen gewährt werden, welche sie benutzen, um die allgemeine Freiheit zu zerstören. Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!“ (Sternberger 1946, 75) Ebenso keine „Duldung den Unduldsamen“ und „keine Kompromisse mit den Kompromisslosen“ und kein „gleiches Recht für die Feinde der Rechtsgleichheit“ und „kein Wahlrecht für die Gegner des allgemeinen Wahlrechts.“
Dieser Katalog einer „wehrhaften Freiheit und Demokratie“, der uns heute noch und wieder vertraut klingt, ist aber nur die „negative, ausschließende Seite der Sache“. Ließe man es dabei bewenden, bestünde die Gefahr, dass Freiheit in Unfreiheit und Demokratie in Diktatur umschlage. Um den Lastern des Missbrauchs der Freiheit zu entgehen, bedürfe es einer bürgerlichen „Anstandslehre“, auf die man als vorhandene Sittlichkeit aber nicht zurückgreifen könne. Vielmehr müsste sie eingeübt, erlernt und gelehrt werden. Auch das ist immer noch hochaktuell: Erinnert sei an Ernst-Wolfgang Böckenfördes vielzitiertes Diktum: Der moderne demokratische Rechtsstaat lebe von Voraussetzungen, die er selber nicht herstellen und garantieren könne.
Sternberger stellte fest, aus einer Bildungsaufgabe entstehe noch keine „Sittlichkeit“. Es komme vielmehr darauf an, politische Institutionen zu erschaffen, die eine solche „Versittlichung“ des „anständigen Umgangs“ ermöglichen. Und das sei unter anderen eine Aufgabe der Politik als Wissenschaft. „Nur wenn die Politik unter die Wissenschaften aufgenommen wird, ist die Politisierung der Wissenschaften wahrhaft zu verhüten.“ (Sternberger 1946, 77)
Womit Sternberger nicht seine spätere Professur einklagt, sondern inhaltlich begründet, was die Einführung der Politik als eigene wissenschaftliche Disziplin an deutschen Universitäten erforderlich macht. Im Kern ist es eine normativ ausgerichtete Demokratiewissenschaft.
Die macht deutlich, dass das Parlament nicht aus Parteien entsteht, denn die bilden sich erst im Parlament. „Die Demokratie beruht nicht auf Parteien, sondern Parteien beruhen auf der Demokratie, entwickeln sich in ihr.“
Noch prinzipieller heißt es: „Demokratie ist nicht Eigensinn Aller oder Eigensinn verschiedener Gruppen und Formationen, sondern Gemeinsinn Aller, Diskussion, Verhandlung, Vertrag der Gruppen und Formationen.“ (Sternberger 1946, 78) Und im Anschluss an seinen Lehrmeister Karl Jaspers ist „innerhalb der Diskussion Wahrheit das, was uns miteinander verbindet, Meinung aber das, was uns trennt. Meinungsfreiheit kann daher nur unter dem Gesetz der Wahrheit, unter der Pflicht der Wahrhaftigkeit ihren Sinn erfüllen.“ (Sternberger 1946, 79)
Der Übergang von einer formellen zu einer substanziellen Demokratie verlangt von einem freien Gemeinwesen, dass sie seinen „Angehörigen nicht bloß, individuelle Freiheit gewährt bis zur Grenze des Gesetzes, sondern wenn sie Freiheit selber schafft, bildet, lehrt, hütet und verteidigt.“ (Sternberger 1946, 79)
Wir finden hier die Skizze eines gehaltvollen Begriffs von Demokratie, der in der Theoriegeschichte – wie der von Hannah Arendt – als ein „republikanischer“ definiert wird. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass Hannah Arendts Begriff von Politik sich auf die antike Tradition der „Polis-Lehre“ des Aristoteles bezieht. Hannah Arendt stellt das „Miteinander-Handeln und Reden in der Öffentlichkeit“ als das Wesen des Politischen ins Zentrum ihrer politischen Theorie, die sie übrigens explizit nicht als „politische Philosophie“ begreift. (s. dazu Wortmann 2019) Gemeinsam ist beiden, dass Demokratie als eine „Lebensform“ begriffen wird, die auf aktiven, sich um das „Gemeinwohl“ kümmernde Bürger beruht.
Schumpeters Demokratie als ökonomische Theorie der Elitenauswahl
Diesem normativ anspruchsvollen Verständnis vom Wesen der Demokratie steht eine pragmatisch realistische Theorie gegenüber, die für sich reklamiert, die Menschen so zu nehmen, wie sie nun einmal sind. Sie ist heute die herrschende Lehre und hat ihren Ausgangspunkt in einem 1942 in seiner Wirkungsstätte USA erschienenen Werk des Österreichers Joseph A. Schumpeter unter dem Titel Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Schumpeter war neben John Maynard Keynes der bedeutendste Ökonom seiner Zeit und stand sehr zu seinem Leidwesen in dessen ewigen Schatten.
Er war wie sein Gegenspieler ein großer Anhänger des Kapitalismus, hielt ihn aber anders als Keynes nicht nur für krank, sondern für unheilbar dem Untergang geweiht. Sein Untergang erfolgt nicht aus einer aus dem Dunstkreis des Marxismus konstruierten „Zusammenbruchstheorie“, im Gegenteil: Er wird das Opfer seines Erfolgs, denn im Konkurrenzkampf hebe er sich selbst auf und verwandle sich monopolistisch in eine bürokratische Planwirtschaft.
Der Demokratie wies er die Rolle zu, darüber zu entscheiden, welche Elite herrschen solle. Der Wähler ist das Äquivalent zum Konsumentensouverän, der nach seinen nutzenmaximierenden Präferenzen darüber entscheidet, wie die politischen Geschäfte gewichtet werden und wer sie führt. Damit wurde Schumpeter der Begründer jener heute nicht nur im angelsächsischen Sprachraum dominanten Schule der Ökonomischen Theorie der Politik und der Rational-Choice-Theorie, die sich ganz an den Kriterien der mikroökonomischen Nutzenkalküle souveräner Konsumenten orientiert. (Wortmann 2018)
Parteien degenerieren darin zu Anbietern von Themen und Interessen im Wettbewerb um Wählerstimmen, die sich wie ein Markt analysieren lassen. Als eine reine Elitenauswahl verstanden die Demokratie auch andere wie beispielsweise Max Weber. (Wortmann 2015)
Der Unterschied zu Dolf Sternbergers „gemeinwohlorientierten“ Aktivbürgern dürfte deutlich sein. Er fordert den aktiven, politisch bewusst und verantwortungsvoll handelnden Staatsbürger, den der humanistische Bildungsidealismus Wilhelm von Humboldts zur Vollendung des allumfassend gebildeten Menschen „vergessen“ hatte. Das war freilich weder Friedrich Meineckes Ideal mit seinen „Goethe – Gemeinden“, es war auch nicht das Ideal eines Konrad Adenauer. Ob bei ihm eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem real-existierenden deutschen Volk oder gegenüber dem Menschen an sich federführend war, lassen wir offen. Fakt ist, dass Sternbergers Forderungen für die weitere Entwicklung der BRD nicht maßgebend waren.
Und aus dieser Perspektive ist Walter Dirks (vor allem von den Anhängern Adenauers) viel kritisierte These aus dem Jahre 1950 von dem „restaurativen Charakter der Epoche“ und der „verpassten Gelegenheiten“ durchaus berechtigt, wenngleich man ihm bezüglich des Volkes als Träger der Demokratie zu viel Hoffnung vorwerfen kann.
Ob diese Skepsis aber angesichts der sich gerade in den fünfziger Jahren massenhaft regenden Widerstände gegen die Politik Adenauers, genannt seien nur die „Wiederbewaffnung“ sowie die außenpolitischen Westorientierung insgesamt, berechtigt ist, darf man auch bezweifeln.
Bei allem Ruhm für das Bonner Grundgesetz atmet es aber auch mehr vom Geist der Skepsis als vom Vertrauen in den mündigen demokratischen Bürger. Alle zarten Elemente direkter Demokratie sind – im Unterschied zur auch diesbezüglich überwiegend negativ beurteilten Weimarer Verfassung – getilgt. Der Politikwissenschaftler und Verfassungstheoretiker Jan-Werner Müller (Müller 2019) nennt das Bonner Grundgesetz ein Werk, dass das Volk vor sich selber schützt. Die Stärkung des Rechts, des Bundesverfassungsgerichts als Hüter der Verfassung, setzte mehr Hoffnungen auf Gewähr der Demokratie durch Institutionen des Rechts als durch den freien Willen des Volkes.
Aber das ist eine Illusion. Ganz in Gegenteil: Über die Funktion des Rechts, die „Verrechtlichung“ als Schutz vor der Demokratie, als eine Art Schutzwall gegen den unkalkulierbaren „Volkswillen“ wird aktuell als Teil der Krise der „liberalen Demokratie“ offen diskutiert. (Manow 2024)
Die Demokratie kann den Rechtsstaat schützen, aber der Rechtsstaat nicht die Demokratie. Das muss das souveräne Volk schon selber machen. Das wirft für uns rückblickend zur Nachkriegszeit die Frage auf, auf welche Bürger traf damals Sternbergers Bild des „Bürgers“ bzw. die gewünschte „Bürgerlichkeit“?
Der Drang zur „Bürgerlichkeit“
Wer also waren die Adressaten der „Umerziehung“? Auf welche Resonanz stießen Freiheit, Demokratie und der Weg gen Westen? Wenn sich in den kulturellen Bemühungen ein Grundzug herausschälen lässt, dann stößt man auf einen „Drang zur Bürgerlichkeit“. Es handelte sich dabei um ein schwer fassbares Phänomen. Sozial- und kulturgeschichtlich schien die Sache längst klar: Das Bürgertum war eine Kategorie des 19. Jahrhunderts, ging im und mit dem Ersten Weltkrieg unter, wurde in der Weimarer Republik vor allem das ökonomische Opfer der Inflation, flüchtete sich in eine „machtgeschützte Innerlichkeit“ – wie sie Thomas Mann so trefflich auf den Begriff brachte – und erfüllte so ihr schon früher von Max Weber gegeißeltes Versagen in der Politik.
In der diktatorisch verordneten „Volksgemeinschaft“ des Dritten Reichs verlor das Bürgertum dann seinen in Deutschland historisch bedingten schwachen Rest. Ein verlässlicher Träger eines demokratischen Liberalismus war das deutsche Bürgertum nie.
Der Historiker Paul Nolte (Nolte 2000) stellte für die Nachkriegsgesellschaft einen etwas anderen Hang zu einer „Bürgerlichkeit“ fest, der sich mit Helmut Schelskys in den fünfziger Jahren entwickelten These von der „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ verbindet. (s. dazu Wortmann 2024) Das Leitbild ist nicht mehr eine kulturell gebildete Oberschicht, an dem sich Friedrich Meineckes Aufruf zur Gründung von „Goethe-Gemeinden“ orientierte, sondern ein „Kleinbürgertum“, dessen Ideal die Mitte durchaus als Mittelmäßigkeit, des Materialismus, der Sekundärtugenden und des rein privaten Glücks ist.
Es ist der fortgesetzte Sieg der Anpassung, des „Man“, eines Konformismus „nur nicht aufzufallen“. Es ist die Normalität des von David Riesman 1950 in den USA in Die einsame Masse beschriebene Typus des „außengelenkten“ Menschen. Nicht zufällig wurde die „Rollentheorie“ in dieser Zeit zum Zentrum der Soziologie. Seine Rolle zu finden und zu erfüllen, den gesellschaftlichen Erwartungen und Zuschreibungen gerecht zu werden, gilt als die wesentliche soziale Integrationsleistung, um seine „Rolle“ als nützliches Mitglied in der Gesellschaft zu finden und zu erfüllen und nicht nur zu „spielen“.
Es gibt für diesen Befund mehrere Indizien, die sich aus den Abweichungen ergeben. In gewisser Weise war der in Frankreich (oder sollte man besser sagen in Paris) gerade zur Mode aufsteigende Existenzialismus die prägende Philosophie und Lebenseinstellung der Jüngeren, vor allem des Bildungsbürgertums, in der Nachkriegszeit. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. In Paris dominierte der Star Jean-Paul Sartre die Szene mit seinem absoluten Freiheitsbegriff, jenem Entwurf, den sich jeder für sich und sein Leben selber macht. Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt und jedes Individuum ist für sich selbst und seinen Lebensentwurf verantwortlich.
Dass die zur absoluten Freiheit verurteilten bei ihren Projektentwürfen auf Andere stoßen, die dann „zur Hölle“ der eigenen Pläne werden, erkannte Sartre zwar auch und sein Versuch, dieses Problem mit einer Anleihe im Marxismus zu lösen, gelang nur bedingt. Dennoch wurde Sartre zum Idol als der Intellektuelle, der aber nicht der antikommunistischen Herkunft als Bürger folgte, sondern stattdessen Kommunist wurde, aber dem organisierten Parteiapparat und ideologischen Dogmatismus eines kanonisierten Sowjetmarxismus die Stirn der individuellen Freiheit bot.
So wurde der Existenzialismus zu einer Lebenseinstellung für das freie, selbstbestimmte, moderne Individuum, der das gesamte Kulturleben von der Literatur als Zentrum über das Drama, den Film und die Musik (im Chanson) ergriff. In Deutschland fand man im Unterschied zu dieser insgesamt sehr hoffnungsvollen, der Zukunft zugewandten und optimistischen, an den Fortschritt glaubenden Einstellung eher das Gegenteil.
Hier dominierte in elitären Zirkeln die Existenzphilosophie eines Martin Heideggers. Unbeschadet seiner NS-Sympathien, die für seine Empfänglichkeit damals keine Rolle spielten, lebte hier das „Man“ als das „Geschick“ der in „die Welt Geworfenen“ weiter, dem man sich nicht entziehen könne.
Die „Moderne“ war Verfall, „Seinsvergessenheit“ und das gerade überwundene Unheil ein Teil des Ganzen. Hier lebte eine reaktionäre antimoderne Kulturkritik weiter, die neben „der“ Technik auch die Wissenschaft einschloss, der Heidegger immerhin bescheinigte, „sie denke nicht“. Wovon man mit „Ekel“ hier Abstand nahm, das war Politik.
Die soziale Dominanz des Konformitätsdruckes in der Nachkriegsgesellschaft, die der Soziologe und Ex-Nazi Helmut Schelsky 1957 in seinem Buch Die skeptische Generation empirisch aufspürte, die jeglicher Ideologie und Politik überdrüssig sich ins Private zurückzog, findet in den fünfziger Jahren seine Bestätigung paradoxerweise in der ersten Jugendkultur, die als abrupter Ausbruchversuch aus dieser genormten Gesellschaft gewertet werden kann.
In Erscheinung trat das in Gestalt der „Halbstarken“ und artikulierte sich nicht in Worten, sondern ganz unpolitisch in Taten, erkennbar an Lederjacken, Elvistollen, Motorrollern und Rock’n Roll-Musik.
Aber anders als die Jugendrevolte im folgenden Jahrzehnt brachte dieser Ausbruchversuch keinen neuen Lebensentwurf hervor, er blieb unpolitisch und eine lebenszeitlich begrenzte „Auszeit“, die in der Regel noch vor dem zwanzigsten Lebensjahr mit dem Eintritt in den Ernst des Lebens – und das hieß die Anpassung an die Lebensform der Elterngeneration – endete. Von daher verschwand diese Eruption in den fünfziger Jahren mit der gleichen Geschwindigkeit mit der sie aufkam.
Die politische Frage in der Nachkriegszeit war in Anbetracht einer solchen Daseinsverortung des „Bürgertums“, was sollte da die Botschaft sein? Kühne Zukunftsentwürfe, gar Utopien waren nicht gefragt. Aber was sollte die Lehre aus dem sein, was passiert war? Und welche Angebote gab es dafür?
Die politische Neuorientierung wurde zusätzlich dadurch belastet, dass die beiden für das klassische Bürgertum bevorzugten politischen Ideologien, die Liberalismus und der Konservatismus keine unproblematischen Anschlussfähigkeiten boten.
Politisch steckten beide in einer Identitätskrise. Im Falle des Liberalismus reichte sie weit über Deutschland hinausreichte und wurde hier organisatorisch dadurch verstärkt, dass alle liberalen – wie auch konservativen Parteien einschließlich des Katholischen Zentrums – ihre demokratische Daseinsberechtigung mit ihrer Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz im März 1933, mit dem die „totalitäre“ Machtergreifung formell legalisiert wurde, verspielt hatten.
Sie wurden bei der anstehenden Frage nach den Gründen dafür, wie das alles überhaupt möglich war, zu einem wesentlichen Teil des Problems und nicht seiner möglichen Lösung.
Literatur
Abusch, A. (1946): der Irrweg einer Nation. Berlin 1950
Adorno, Th. W. (1949): Die auferstandene Kultur, in ders. Gesammelte Schriften Bd. 20.2. Frankfurt a.M. 1986, S.453 – 464
Anderson, P. (1978): Über westlichen Marxismus. Stuttgart
Arendt, H. (1951): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt a.M. 1962
Benz, W. (2010): Auftrag Demokratie. Die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik und die Entstehung der DDR 1945-1949. Bonn
Bering, D. (2010): Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Berlin
Dirks, W. (1950): Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte, 5. Jg., Heft 9 / 1950, S. 942 – 954
Besson, W. (1970): Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Maßstäbe. München
Bleek, W. (2002): Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München
Brandt, P. (2025): Niederlage und Befreiung. Der 8. Mai in der deutschen Geschichte, in NG / FH, Heft 5 / 2025, S. 67 – 71
Dohse, R. (1974): Der Dritte Weg. Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955. Hamburg
Friedrich, C.J. & Brzezinski, Z. (1965): Die allgemeinen Merkmale der totalitären Diktatur, in: Wege der Totalitarismusforschung. Hg. B. Seidel & S. Jenkner, Darmstadt 1974, S. 600 – 617
Glaser, H. (1985): Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945 – 1948
Görtemaker, M. (2004): Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M.
Grebing, H. (1971): Konservative gegen die Demokratie. Frankfurt a.M.
Hacke, J. (2009): Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung. Hamburg
Jaspers, K. (1946): Die Schuldfrage. Heidelberg
Jaspers, K. (1958): Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München
Jaspers, K. (1960): Freiheit und Wiedervereinigung. München
Jaspers, K. (1966): Wohin treibt die Bundesrepublik? München
Kocka, J. (1979): 1945. Neubeginn oder Restauration? in: C. Stern / H.A. Winkler; Wendepunkte deutscher Geschichte. Frankfurt a.M. 1979, S. 147 ff.
Löwenthal, R. (1950): Der Mythos des XIX. Jahrhunderts, in: Frankfurter Hefte V. Jg. Heft 12/1950, S. 1278 – 1299
Manow, Ph. (2024): Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Berlin
Meinecke, F. (1946): Die deutsche Katastrophe. Wiesbaden1947, 3. Aufl.
Müller-Armack, A.(1948): Das Jahrhundert ohne Gott. Münster
Nolte, P. (2000): Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert. München
Plessner, H. (1959): Die verspätete Nation. (1935)
Schelsky, H. (1957): Die skeptische Generation. Düsseldorf
Schwarz, H.-P. (1966): Vom Reich zur Bundesrepublik. Neuwied – Berlin
Sternberger, D. (1946): Herrschaft und Freiheit, in ders. Verfassungspatriotismus. Frankfurt a.M. 1990, S. 58 – 80
Steininger, R. (1983): Deutsche Geschichte 1945-1961. Darstellung und Dokumente in zwei Bänden. Frankfurt a.M.
Sternberger, D. (1964): Grund und Abgrund der Macht. Frankfurt a.M.
Trentmann, F. (2023): Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Frankfurt a.M.
Weber, A. (1982): Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Frankfurt a.M.
Weber, P. (2020): Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90. Berlin
Winkler, H.A. (2000): Der lange Weg nach Westen II. München 2002 (4. Aul.)
Wolfrum, E. (2006): Die geglückte Demokratie. Gesichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart
Wolkenstein, F. (2022): Die dunkle Seite der Christdemokratie. Geschichte einer autoritären Versuchung. München
Wortmann, R. (2015): Die Krise der Demokratie und die Grenzen der Zivilgesellschaft, in: Jahrbuch für Management in Nonprofit-Organisationen 2015 / Vol. 4, Münster 2015, LIT-Verlag, S. 175-20
Wortmann, R. (2018): Theorien des Engagements – Zur Kritik an Olson und Hirschman, in: Jahrbuch Management in NPO 2018 / Vol. 7, Münster, S. 67 – 92
Wortmann, R. (2019): Engagement als Lebensform – Hannah Arendt und Jean-Paul Sartre, in: Jahrbuch Management in NPO 2019 / Vol. 8, Münster, S. 73 – 96
Wortmann, R. (2024): Die Mitte als Mythos Teil 3 von 4, Osnabrücker Rundschau 30. November 2024: https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/rolf-wortmann/die-mitte-als-mythos-und-problem-teil-3/