Franz Klute, eine rote Geburtsstunde – und die wachsende Einheit mit der Gewerkschaftsbewegung
Jede Geburt besitzt einen Ort, im Idealfall einen gut bestückten Kreißsaal. Der Geburtsort der Osnabrücker SPD liegt keineswegs an der Hase, sondern im thüringischen Gotha. Dorthin jedenfalls hatte es im Mai 1975 den Osnabrücker Delegierten Franz Klute verschlagen. Jenes Ereignis im Mai 1875 nimmt die örtliche Partei bereits seit 1925 zum Anlass, um ihrer eigenen Gründung einen Ursprung zu geben. Exakt diese Geburtsstunde nutzt fortan die OR, um mit einer kleinen Serie unterschiedliche Facetten einer Historie der mit Abstand ältesten demokratischen Partei Deutschlands zu beleuchten.
Mit Ende des Gothaer Parteitags, am 27. Mai 1875, vor exakt 150 Jahren also, war auch die Osnabrücker SPD aus der Taufe gehoben. Franz Klute reiste heim und konnte die Aufbauarbeit einer geeinten Partei fortsetzen, die sich bis 1890 den Namen „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“, danach „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ gab.
Festlich geschmückt mit Fahnen, Bildern, Blumen und Transparenten war der Saal jenes Versammlungslokals im Gotharer Tivoli, in dem Klute sich eingefunden hatte und in dem vom 22. bis 27. Mai 1875 der „Vereinigungs-Congress“ der beiden sozialdemokratischen Parteien stattfand. Zugleich wurde über das gemeinsame Parteiprogramm beraten.
Als über das Verhältnis zur Gewerkschaftsbewegung debattiert wurde, war ausgerechnet Franz Klute unter den rund 120 Delegierten einer, der seit vielen Jahren ein skeptisches Verhältnis zur Gewerkschaftsfrage an den Tag gelegt hatte. Er vertrat auf dem Parteitag nicht nur 150 Mitglieder aus Osnabrück, sondern darüber hinaus 30 aus Buer und 15 aus Oldendorf bei Melle. Während der Gewerkschaftsdebatte blieb der Osnabrücker diesmal ruhig. Ein Jahr zuvor hatte ein Klute-Beitrag bei nicht wenigen unter den Anwesenden Stirnrunzeln ausgelöst.
„Ich bin seit jeher“, so der „Gründungsvater“ der Osnabrücker SPD auf einem Parteitag des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, „ein Gegner von Gewerkschaften gewesen“, hatte er 1874 erklärt. Klute lehnte somit eine gewerkschaftliche Ausrichtung der deutschen Sozialdemokratie ab. Oder?
Gehen wir in unserer Zeitreise ein wenig zurück und verlieren einige Sätze über die Vorgeschichte einer derartigen Aussage. Der Gothaer Parteitag 1875 beendete eine seit mindestens 12 Jahren währende Spaltung der deutschen Sozialdemokratie. 1863 hatte Ferdinand Lassalle, der schon ein Jahr später an den Folgen eines Duells starb, den „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ als erste sozialdemokratische Partei aus der Taufe gehoben. August Bebel und Wilhelm Liebknecht antworteten 1869 mit der Gründung der „Socialdemokratischen Arbeiterpartei“.
Ein wichtiger Knackpunkt für die Parteikonkurrenz: das Verhältnis zu Gewerkschaften. Bereits Lassalle hatte zu Lebzeiten das Dogma des „ehernen ökonomischen Gesetzes“ verkündet, nach dem gewerkschaftlicher Kampf im Grunde unnütz sei, denn Erfolge führten immer nur kurzfristig zu Verbesserungen, langfristig infolge von Preisverteuerungen und Entlassungen zu mehr Verelendung.
Während die Lassalleaner darum die Vorrangrolle der Partei sahen und nur Gewerkschaften dulden wollten, die sich den beim ADAV unter dessen sehr zentralistische Parteidirektiven stellten, wollten Bebel &Co. im Einklang mit Karl Marx und Friedrich Engels das genaue Gegenteil, also eine zwar sozialdemokratische, aber unabhängig agierende und Masseneinfluss suchende Interessenvertretung der Arbeiterklasse.
Franz Klute aus Osnabrück gehörte seit Ende der 60er Jahre als reichsweit tätiger „Agitator“ zu den Lassaleanern und hatte spätestens 1872 in Osnabrück dafür gesorgt, eine „Gemeinde“ des ADAV aus der Taufe zu heben. Insofern könnte mit Fug und Recht auch das Jahr 1872 als Osnabrücker Gründungsjahr gefeiert werden – wenn die SPD-Vorväter dies nicht anders entschieden hätten.
Bis 1875 bereiste Klute als Redner zahlreiche Städte und Gemeinden im Osnabrücker Umkreis, um für die Vereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien zu werben. Sein zuvor demonstriertes skeptische Verhältnis zur Gewerkschaftbewegung war also ganz offenkundig Ausdruck seiner lassaleanischen Gesinnung, die sich in dieser Ausprägung allerdings niemals mehr in der Sozialdemokratie durchsetzen sollte. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dürfte auch Klute seine anfangs skeptische Haltung über unabhängige Gewerkschaften im Laufe der Zeit revidiert haben.
Anders sah es in den politischen Zielsetzungen der jungen Partei aus. Hier fanden sich noch mehrere, heute als sektiererisch anzusehende Versatzstücke von Lassalle, der zum Zeitpunkt des Parteitags bereits elf Jahre nicht mehr lebte, aber von vielen noch kultisch verehrt wurde. Karl Marx verfasste deshalb eine später Aufsehen erregende „Kritik am Gothaer Programm“, die er jedoch zu eigenen Lebzeiten – er starb 1883 – bewusst niemals veröffentlichte, um den Vereinigungsprozess der zuvor konkurrierenden Parteien nicht zu gefährden. Dies wiederum war bitter nötig: Bereits 1878 setzte Reichskanzler Otto von Bismarck im Reichstag sein sogenanntes Sozialistengesetz durch, auf dessen Basis Partei, Gewerkschaften und andere Vereinigungen der Arbeiterbewegung bis 1890 brutal zerschlagen und kriminalisiert wurden. Auch in Osnabrück erlosch für zwölf Jahre jegliches Partei- und Gewerkschaftsleben.
Zwei Herzen in der Brust: ein Schwenk auf die Osnabrücker Sozialdemokratie
Spätestens seit der Legalisierung 1890 drückte auch das Innenverhältnis der Osnabrücker SPD das genaue Gegenteil von „Gewerkschaftsabstinenz“ aus. Ganz im Gegenteil: Die freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften entwickelten sich zu einer Massenorganisation, deren Mitgliedsstärke auch in Osnabrück ein Mehrfaches von der SPD ausmachte.
Da Osnabrück über beinahe ein Jahrhundert stark von großen Metallbetrieben wie dem Stahlwerk oder dem damaligen Kupfer-und Drahtwerk, später natürlich auch Karmann, geprägt wurde, wurde die örtliche Gewerkschaftsbewegung seit jeher besonders von der Metallarbeitergewerkschaft – , zunächst vom Deutschen Metallarbeiterverband, nach 1945 der IG Metall – geprägt.
Es galt als normal, gewissermaßen zwei Herzen in der Brust zu haben: eines für die Partei, das andere für die Gewerkschaft. Ein über Jahrzehnte führender Sozialdemokrat, der unmittelbar aus der Osnabrücker Gewerkschaftsbewegung kam, war der spätere Nationalversammlungsabgeordnete und Verfassungsvater Otto Vesper, der als Gesellenvertreter der Osnabrücker Tapezierer startete und das erste „Arbeitersekretariat“ als Dachorganisation der hiesigen Einzelgewerkschaften leitete.
Vesper war bis zu seinem Tode 1923 erster Leiter des neu gegründeten Arbeitsamtes. Führende Osnabrücker Sozialdemokraten wie Vespers Arbeitsamts-Nachfolger Heinrich Groos, Gustav Haas oder Fritz Szalinski waren viele Jahre zugleich hauptamtliche Funktionäre – bis heute heißt dies „Bevollmächtigte“ – des Deutschen Metallarbeiterverbandes. Letzter Osnabrücker SPD-Vorsitzender war außerdem bis 1933 der hauptamtliche Sekretär des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes, Wilhelm Wiltmann. Auch der Landtags- und Reichstagsabgeordnete, nach 1945 als Oberkreisdirektor des Landkreises agierende Walter Bubert, der seine Laufbahn 1912 in der Rechtsstelle der Freien Gewerkschaften begonnen hatte, gehört in die Reihe derer, die ihre Wurzeln in der Gewerkschaftsbewegung hatten.
Das gemeinsame Zuhause
Dreh- und Angelpunkt einer natürlichen Zusammenarbeit von SPD und Gewerkschaften war über Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes ein gemeinsames Zuhause. Das Gewerkschaftshaus am Kollegienwall 14 bot bis 1933 auch dem Parteibüro der SPD genügend Platz, und beim gelegentlichen Umtrunk in der Gaststätte dieses Gebäudes sah man sich nahezu alltäglich.
Auch die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ) war am Kollegienwall zu Hause, was logisch war, zumal fast alle SAJler gleichzeitig in der Gewerkschaftsjugend aktiv waren. Und dass man tagsüber in der sozialdemokratischen Tageszeitung Freien Presse aus erster Hand nicht nur von der Partei, sondern auch von Gewerkschaftsaktivitäten las, war eh selbstverständlich.
Verbot, Verhaftungen, Verfolgungen und Emigration durchlebten Osnabrücker Sozialdemokraten und Gewerkschafter nach der Besetzung des eigenen Hauses durch die Nazis am 11. März 1933 gemeinsam. Folglich war es beileibe kein Zufall, dass die engen Bande zwischen Gewerkschaft und Partei auch dann keinen Abbruch erfuhren, als nach dem letzten Weltkrieg die parteiübergreifende Einheitsgewerkschaft aus der Taufe gehoben wurde.
Insbesondere die „Metaller“, die als weitaus größte Organisation „Vermieter“ im neuen, 1953 bezogenen Gewerkschaftshaus am Neuen Graben wurden, beeinflussten die SPD-Arbeit wie vor 1933 nachdrücklich. Namen wie Friedel Rabe, Ernst Bulthaup, Franz Lenz, vor allem natürlich Ernst Weber drückten dies bis in die jüngste Vergangenheit kontinuierlich aus.
Aus gewerkschaftlicher Verbundenheit akzeptierte es die Osnabrücker SPD 1953 sogar die vom Bonner Parteivorstand gewünschte Wahlkreiskandidatur des 2. Vorsitzenden der Deutschen Postgewerkschaft, Otto Ziegler. Das Gewerkschaftshaus am Neuen Graben wiederum wurde zwar niemals mehr Sitz des Parteibüros, aber zumindest Heimstätte zahlloser Unterbezirks-Vorstandssitzungen, bis zum Abriss des Saal-Anbaus auch vieler Parteitage und Wahlkampfveranstaltungen, die im 1958 entstandenen Anbau mit Saalbetrieb stattfanden. Auch etliche Geschäftsführer*innen der heutigen Einzelgewerkschaften, die natürlich als Eonheitsgewerkschaften ausgerichtet und in denen auch Mitglieder anderer demokratischer Parteien mitwirken, gehören – bis heute – unverändert der SPD an.
Wurzel und Seele
Die SPD heute tut also gut daran, sich täglich ihrer gemeinsamen Wurzeln mit der Gewerkschaftsbewegung zu besinnen. Die tiefen Wunden, welche die Agenda 2010 mit dem damals verbundenen massiven Sozialabbau eines Bundeskanzlers Gerd Schröder angerichtet hatten, sind größtenteils verheilt. Die hat auch so zu sein. Denn eine Partei, die sich nicht mehr als Heimat für abhängig Beschäftigte versteht, kappte nicht nur ihre Wurzeln, sondern verlöre ihre Seele. Vor allem eine Sozialdemokratie, die sich zuweilen zu Bündnissen mit Konservativen oder Liberalen genötigt sieht, sollte den genannten Grundsatz jederzeit beherzigen.