„Schnitzeljagd“ nach zeitlosen Botschaften von Anna Siemsen

Studierende der Uni präsentierten originelles Veranstaltungsformat

Wenn historische Persönlichkeiten vorgestellt werden, geschieht dies gemeinhin in Form von feierlichen Vorträgen, Symposien oder gar in festlichen Saalveranstaltungen. Ein ganz anderes Format wählten am Freitagnachmittag Studierende des Lehramts für Berufsschulen der hiesigen Universität: Weil sie an die Sozialistin, Pädagogin und Antifaschistin Anna Siemsen erinnern wollten, zogen sie mit Gästen zum Siemsen-Grab auf dem Hasefriedhof, um sich am Ende von dort aufzumachen und alles zwischen den Gräbern in eine außergewöhnliche, äußerst informative „Schnitzeljagd“  münden zu lassen.

Nach der Begrüßung durch Eva Güse, Abteilungsleiterin für Friedhöfe und Bestattungswesen bei der Stadt Osnabrück, eröffnete das Gemshornquartett Cornamenti auf seltenen Geweihflöten den Nachmittag. Das Repertoire bestand unter anderem aus dem Titel „Totgesagte leben länger“.

Anschließend vermittelten angehende Lehrkräfte für das berufliche Schulwesen Einblicke in das facettenreiche Schaffen Anna Siemsens. Zur Sprache kam dabei zunächst die Herkunft einer später in Osnabrück ansässigen Pastorenfamilie, deren männliches Familienoberhaupt als äußerst autoritär galt, während sich alle fünf Kinder zu Sozialistinnen und Sozialisten entwickelten. Osnabrück bildete für die Siemsens immer wieder einen gemeinsamen Rückzugsraum. Besonders Anna wählte hier den regelmäßigen Kontakt zu jungen Sozialistinnen und Sozialisten, die sie häufig zu Bildungsveranstaltungen einluden.

Die am 18. Januar 1882 geborene Anna hatte 1901 in Münster ihr Lehrerinnenexamen bestanden, studierte später Germanistik, Philosophie und Altphilologie. Die früh überzeugte Pazifistin promovierte 1909 und war anschließend als Lehrerin in Detmold, Bremen und Düsseldorf tätig, wo sie auch als Schuldezernentin gearbeitet hat. Von 1928 bis 1930 war sie SPD-Reichstagsabgeordnete, trat allerdings 1931, wie der junge Willy Brandt, zur neugegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) über. Noch in der Weimarer Republik erfuhr sie ein Berufsverbot als Uni-Profesorin, weil Nationalsozialisten an der Thüringer Landesregierung beteiligt gewesen waren und sich hier durchsetzten.

1933 bis 1945 musste Siemsen vor dem NS-Terror in die Schweiz fliehen, wo sie eine Zweckehe mit einem Schweizer Sozialdemokraten einging und, auch wegen ihrer Heirat, Asyl erhielt. Weiter konnte sie in sozialdemokratischen Medien unter anderem antifaschistische, aber auch frauenpolitische Beiträge publizieren. Nach dem Krieg baute sie bis zu ihrem Tode 1951 das Hamburger Schulsystem wieder auf, das sie demokratischer und durchlässiger machte.

Infolge der Bemühungen des SPD-Landtagsabgeordneten Friedel Hetling ist es später gelungen, Anna Siemsen im Osnabrücker Familiengrab beizusetzen. Seit 1999 sind auf dem betagten Grabstein makabrerweise Einschusslöcher auf dem Namenszug der Sozialistin zu entdecken. Ziemlich offensichtlich bilden sie einen Ausfluss rechtsextremer Aktivitäten. Die OR hat über Siemsens Leben bereits im Rahmen einer Serie über Menschen im Osnabrücker Widerstand berichtet, die mittlerweile auch als Buch erhältlich sind. https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/or-serie-widerstand-im-osnabrueck-der-ns-zeit-folge-24-anna-siemsen/

Anna Siemsen in späteren Jahren. Foto: SJD Die Falken
Anna Siemsen in späteren Jahren. Foto: Sozialistische Jugend Deutschlands Die Falken

Ein Leben für Bildung ohne Repression und Klassenschranken

Das, was die angehenden Lehrkräfte an Anna Siemsen offenkundig besonders faszinierte, war deren Vorstellungen für ein klassenloses, repressionsfreies Bildungssystem, in dem Kinder zu Solidarität, keineswegs zu Spaltung und Konkurrenz, erzogen werden sollten. Im Zentrum der Siemsen-Kritik stand vor allem das mehrgliedrige Schulsystem, dem sie schon früh die Forderung nach einer „Schule für alle“ entgegensetzte. Vor allem mit derartigen Aussagen war Anna Siemsen laut Kurt Tucholsky „eine der klügsten Frauen Europas“. Zugleich zog sie sich immer wieder den abgrundtiefen Hass ständisch ausgerichteter Verteidiger des untergliederten deutschen Schulsystems zu.


Anregendes Vermittlungsformat zwischen Gräbern

Als ungemein anregendes Format entwickelte sich im Anschluss an die Input-Vorträge eine an den Botschaften Siemsens angelehnte „Schnitzeljagd“, die in Gestalt mehrerer Stationen Aussagen Anna Siemsens präsentierten. Allesamt fand man an den einzelnen Standorten diskutable Anregungen für die heutige Debatten – entweder auf den Boden gelegt, in Briefen oder in Klarsichthüllen verstaut. „Faszinierend, wie ungemein aktuell Anna Siemsens Sichtweisen bis heute sind“, bekannte eine Teilnehmerin, die dafür sehr viel positive Resonanz im Publikum erhielt.

Ein Ausklang mit Schluss-Resümee und Kleinrunden bei Kaffee, Tee und Keksen rundeten das außergewöhnliche Informationsformat ab, Ein begeisterter Teilnehmer nach dem Ausklang: „Das hat richtig Lust dazu gemacht, auch andere Themen einmal ähnlich an ungewöhnlichen Orten in dieser Weise zu präsentieren.“

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