OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 24: Anna Siemsen

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (am Ende dieses Textes finden sich Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

Anna Siemsen
Sollen manche Tote zweimal sterben?

Grabsteine auf Osnabrücker Friedhöfen erzählen viele Geschichten. Eine davon verbirgt sich auf dem Hasefriedhof. Der Grabstein mit dem Schriftzug Anna Siemsens dürfte der wohl einzige in Osnabrück sein, der mit Einschusslöchern durchsiebt ist. Wie bitte? Ja. Richtig gelesen: Einschusslöcher! Ganz offenkundig ist die hier anno 1951 bestattete Sozialistin dem hinterlistigen Schützen bis heute dermaßen verhasst, dass ihr Namenszug vor gut 23 Jahren zu einer makabren Zielscheibe wurde.


Friedhofsruhe mit Einschusslöchern  

Hinter der Süntelstraße, Blickrichtung Bramscher Straße, liegt ziemlich weit rechts ein Familiengrab. Irgendwo zwitschern Vögel. Vor der Friedhofsmauer grummelt bisweilen Autolärm. Die verträumte Anlage strahlt ansonsten viel Ruhe aus. Schon lange wird dieser Friedhof nicht mehr als Bestattungsort genutzt. Städtische Gärtner sorgen dafür, dass dieses alte Gräberfeld seit Jahren ein Park der stillen Erinnerung geworden ist. Sie pflegen am Ort, um den es hier geht, ein sogenanntes Ehrengrab. Es ist das der gesamten Familie Siemsen. Anna Siemsen ist eine gesonderte Tafel mitsamt Bildern und Lebenslauf gewidmet.

Der Schriftzug auf dem alten Grabstein mit ihrem Namen ist allerdings stark angegriffen und kaum lesbar. Einschusslöcher aus scharfer Munition und weitere Beschädigungen verteilen sich rund um die einzelnen Buchstaben. Man muss sich nah auf den Schriftzug hinzubewegen, um die Lettern und Zahlen auf der porösen Fläche lesen zu können: „Prof. Dr. Anna Siemsen. Geboren am 12.1.1882, gestorben am 22.1. 1951“. Das war es schon.

Verwitterter Grabstein mit erkennbaren Einschusslöchern. Foto: ORVerwitterter Grabstein mit erkennbaren Einschusslöchern. Foto: OR

 

Interessierte haben besondere Mühe, den Nachnamen zu lesen. Hier sind die Einschüsse, womöglich auch zusätzliche Schläge mit Hammer oder Meißel, besonders zerstörerisch gewesen. Was hier geschehen ist, stand am 24. Januar 1999 in einer Ausgabe der Osnabrücker Nachrichten. „Grab als Zielscheibe?“, titelte das Blatt damals. Bereits zum zweiten Mal, so der Redakteur, habe die Polizei mutmaßliche „Schussdefekte“ auf einem Grabstein festgestellt. „Es konnten aber bisher keine Täterhinweise und keine Anzeichen für einen rechtsextremistischen Hintergrund gefunden werden“, hieß es weiter.

Professorin Doktor Anna Siemsen. Der Nachname ist besonders heftig von Kugeln durchsiebt. Soll der Name vergessen werden? Eine prominente Stimme eines prominenten Zeitgenossen aus der Geschichte bringt das exakte Gegenteil auf den Punkt:  „Eine der klügsten Frauen Europas“, hatte der Publizist Kurt Tucholsky, Herausgeber der Weltbühne, die hier Beigesetzte genannt.

Die Osnabrücker Nachrichten berichten am 24. Januar 1999 über die Einschüsse. Faksimile: Privatarchiv Heiko SchulzeDie Osnabrücker Nachrichten berichten am 24. Januar 1999 über die Einschüsse. Faksimile: Privatarchiv Heiko Schulze


Lebensstationen, Familie und Bezüge zu Osnabrück

Neben Annas Eltern finden sich auf dem Ehrengrab auch die Ruhestätten anderer: Ihre Schwester Paula (1880‐1965) ist hier neben deren Mann, dem sozialdemokratischen Mediziner Professor Eskuchen, beigesetzt. Alle Geschwister einte eine sozialistische, antifaschistische und friedliebende Gesinnung, bemerkte bereits eine längst abgeräumte Informationstafel. Friedel Hetling, nach 1945 SPD-Landtagsabgeordneter, zu eigenen Juso-Zeiten in der Weimarer Republik großer Verehrer der sozialistischen Lehrerin und  Professorin, später Leiter der Bundesschule der IG Metall, hatte sich 1951, unmittelbar nach ihrem Tode in Hamburg, erfolgreich für die Beisetzung Anna Siemsens auf dem Familiengrab des Osnabrücker Friedhofs eingesetzt.

Wer war diese engagierte Frau? Ihre Vita berichtet über erstaunliche Stationen und Leistungen: Aufgewachsen war Anna als zunächst eher kränkelndes Kind in einer  Osnabrücker Pastorenfamilie, deren männliches Oberhaupt als äußerst konservativ galt.

Ungewöhnlich waren vor allem die drei Brüder Annas, die – wie sie – allesamt überzeugte Sozialisten wurden. Bruder Hans, beigesetzt auf Annas Grabseite, zählt völlig zu Unrecht zu heute vergessenen Literaten. Er war zugleich ein engagierter und offen bekennender homosexueller Schriftsteller, ein Autor vielgelesener Bücher, der auch in der Weltbühne schrieb und in Häusern berühmter Weimarer Literaten ein‐ und ausging.

Nicht hier, sondern in der Hauptstadt Berlin bestattet ist allein Annas Bruder August (1884 – 1958): Er war ebenfalls Politiker, Publizist, Pädagoge und zeitweise SPD‐Reichstagsabgeordneter. Hinterlassen hat er eine einfühlsame Biografie seiner Schwester. Dritter Bruder im Bunde war Karl (1887 ‐1968), Jurist und ebenfalls SPD‐Politiker. Von 1956 bis 1958 sollte er es immerhin zum nordrhein‐westfälischen Landesminister für Bundesangelegenheiten bringen. Auch er ruht hier im Osnabrücker Familiengrab.

Nie hat die vielreisende Anna ihre enge Bindung zum hiesigen Elternhaus, wo sie regelmäßig ihre Geschwister traf, verloren. Wohnhaft war die Familie vor dem Ersten Weltkrieg in der Eisenbahnstraße 12 sowie in der Nobbenburger Straße 6. Nach Auskunft des Osnabrücker Landesarchivs war Anna mit ihrer Familie offiziell am 16. Oktober 1901 nach Osnabrück gezogen und wurde vor Ort amtlich als „Lehrerin“ vermerkt.

Wie ihre Brüder durchlebte die einst wohlbehütete Pastorentochter später ein eher unbeheimatetes Dasein. Sie wohnte unter anderem in Hamm, in München, Münster, Bonn, Detmold und Düsseldorf, zwischendurch immer wieder kurz in Osnabrück, in Berlin und Jena, später in der Schweizer Emigration, zuletzt in Hamburg. Die Stadt an der Hase bildete für Anna und ihre Geschwister fortan aber zumindest den Rückzugsort für einen regen familiären Austausch, bei dem Tagespolitik und Programme, aber auch die Visionen für eine künftige sozialistische Gesellschaft eine grundlegende Rolle einnahmen.

Eng verbunden mit Anna Siemsens Vision einer klassenlosen Zukunftsgesellschaft ist ein Blick auf ihre akademische und berufliche Laufbahn. Anna studierte Germanistik, Philosophie und Latein. 1909, damals für Frauen äußerst selten, promovierte sie und wurde Gymnasiallehrerin. Im Zuge des demokratischen Aufbruchs wirkte sie danach als Beigeordnete für das berufliche Schulwesen in Düsseldorf. 1923 wurde sie, für Frauen höchst selten, Honorarprofessorin im thüringischen Jena.


Linke Sozialdemokratin

Schon früh betätigte sich Anna Siemsen in der Sozialdemokratie und wirkte an vielen linken Publikationsreihen mit. Von 1928 bis 1930 war sie überdies SPD-Reichstagsabgeordnete und erlebte die letztlich gescheiterte letzte SPD-geführte Reichsregierung Hermann Müllers. Zeitlebens betätigte sie sich als unermüdliche Kämpferin für eine Pädagogik, die von den Grundsätzen von Selbstbestimmung und Chancengleichheit bestimmt war. Nebenher verfasste sie vielbeachtete Standardwerke: Ein „Buch der Mädel“ wie eines über Goethe, eine Einführung in den Sozialismus, Abhandlungen über Medienkunde, aber auch eines über Literatur in Europa zählen bis heute zu ihrem Lebenswerk.

In der Weimarer Zeit war Anna Siemsen insbesondere seit Mitte der zwanziger Jahre häufig in Osnabrück, um als Referentin vor Jungsozialisten und Sozialistischer Arbeiterjugend aufzutreten. Insbesondere in den Reihen der jungen Genossinnen und Genossen erntete die Professorin zeitlebens ein immens hohes Ansehen. Als die Jungsozialisten wegen ihrer dezidiert linken Auffassungen anno 1931 aus der SPD hinausgedrängt wurden und mithalfen, als Alternative zur ehemaligen Partei die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) zu gründen, blieb Anna Siemsen an ihrer Seite und vollzog den gleichen Schritt. Es war derselbe Weg, den zu jener Zeit im fernen Lübeck der junge Willy Brandt eingeschlagen hatte.


Hassobjekt der Rechten

Anna Siemsen blieb zeitlebens ein Hassobjekt von Rechten. Sie verabscheuten eine Frau, die laut war, statt sich in Männerdomänen unterzuordnen. Betuchte Reaktionäre verschmähten sie, weil sie Anwältin von Arbeiterkindern war, die keine Chance auf höhere Bildung besaßen.

Deutschtümelnde Akademiker stellten sie schon früh als engagierte Kämpferin gegen Krieg, Rassismus und Nationalismus an den Pranger. Kein Wunder – aus deren Sicht: In politischen Reden, Büchern und zahllosen Aufsätzen ließ Anna Siemsen keine Gelegenheit aus, vor dem Faschismus und einer Regierungsübernahme der NSDAP zu warnen. Die Gegenseite blieb deshalb nicht untätig. Fast konsequent war es, dass die rote Professorin bereits vor 1933 ein  Opfer der ersten Berufsverbote gegen missliebige Linke wurde. Denn bereits 1932 verlor Anna unter einem faschistischen Kultusminister ihre Professur im Reichsland Thüringen, in dem Angehörige der Nazi-Partei, als Teil einer Koalition mit bürgerlich-konservativen Kräften, schon vor der Berliner Machtergreifung Ministerposten bekleideten.

Unablässig trat Siemsen in Reden und Aufsätzen weiter gegen die braune Gefahr auf. Wie ihre gleichgesinnten Bündnispartner stritt sie leidenschaftlich in Wort und Schrift für eine einheitliche Antwort der zerstrittenen Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus als deutscher Spielart des internationalen Faschismus. Ihr Name zierte somit schnell die Listen mit jenen Persönlichkeiten, die aus Nazi-Sicht schnellstmöglich menschlich und politisch ausgeschaltet werden sollten. 1933 musste die Sozialistin vor den NS-Machthabern in die Schweiz fliehen, wo sie zurück zur Sozialdemokratie fand und sich erneut politisch und pädagogisch betätigte – nicht ohne immer wieder deutlich vor Nazis und Kriegsgefahr zu warnen.

Im schweizerischen Exil war sie überdies gezwungen, eine Scheinehe mit einem eidgenössischen Sozialdemokraten einzugehen, um nicht gleich wieder an die Nazis ausgeliefert zu werden. Eine Überstellung an die Gestapo hätte ihr mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet.


Vielfältiges literarisches Erbe – und zeitlose Botschaften

Beim Studium ihrer zahllosen Buchtitel fällt dem heutigen Betrachter auf, wie alt und betagt die Werke rein äußerlich wirken. Keines davon wurde nach Annas Tod neu aufgelegt. Wieso eigentlich? Erscheint alles, was Anna Siemsen umgibt, tatsächlich so alt und vergänglich wie die Ansammlung betagter Grabsteine auf dem Familiengrab?

Siemsens Werke. Eine willkürliche Auswahl. Collage: ORSiemsens Werke. Eine willkürliche Auswahl. Collage: OR

Textauszüge ihres Lebenswerks belegen eine ungeheure Weitsicht und analytische Schärfe. Dies belegt nicht zuletzt jener Doppelsatz, mit dem Anna in ihrer Schrift „Erziehung im Gemeinschaftsgeist“ bereits 1921 kurz und prägnant ihr Verständnis menschlicher Bedürfnisse auf den Punkt brachte:

„Der Mensch braucht Nahrung, Kleidung und Wohnung und muss sich diese herstellen können. Er braucht darüber hinaus Licht, Luft, Sonnenschein, Sauberkeit und Bewegung; er braucht Schönheit und Erkenntnis, Tätigkeit und menschliche Gemeinschaft.“

Wenige Zeilen, alles gesagt, dürfen wir denken. Das nächste Zitat entstammt der gleichen Quelle und könnte als Untertitel zu medialen Börsenberichten oder quälenden Talkshows mit neoliberalen Weltverbiegern erscheinen, die den Kapitalismus zum Endpunkt der Menschheitsgeschichte machen möchten:

„Der Bürokrat, der seine Pflicht von 9‐3 Uhr und nichts darüber hinaus tut, der Bankier, der nur noch seinen Börsenbericht kennt und dem eine glückliche Spekulation der Inbegriff segensreicher Tätigkeit ist (…), sie alle sind durch unsere unselige Berufspezialisierung und Isolierung hervorgerufen, sie alle bedrohen unsere Gesellschaft (…).“

Nie hat Anna Siemsen zu Lebzeiten behauptet, hellseherische Fähigkeiten zu haben. Aber prägnanter lässt sich der Bezug zu den aktuellen neoliberalen Lebenslügen kaum auf den Punkt bringen.

Aufschlussreich ist auch das Folgezitat. Es behandelt Annas Domäne, die Schulpolitik. Ich stelle mir die überzeugte Sozialistin in einer brandaktuellen Tagesthemen‐Sendung vor, die über neue PISA‐Studien berichtet. Über Erhebungen mit der wiederholten Erkenntnis, dass unser dreigliedriges Schulsystem es im internationalen Vergleich einfach nicht zustande bringt, Benachteiligte zu fördern und das stattdessen immer wieder aufs Neue alte Sozialstrukturen zementiert. Was schrieb Anna Siemsen?

„Unsere Schulen sind – wie alle Schulen es sein müssen – ein getreues Spiegelbild heutigen Lebens überhaupt. Sie bewerten die Begabung und den Erfolg. Sie stacheln die Kinder durch äußere Mittel, durch Zeugnisse über ihre Leistungen künstlich zur Arbeit an und setzen sie in einen Wettbewerb mit den Kameraden, der Eifersucht, Ehrgeiz und Neid, alle antisozialen Triebe, erregt und stärkt: Sie scheiden schon die Kinder nach Stand und Vermögen, verhindern das gegenseitige Kennen‐ und Verstehenlernen.“

Damit keine Missverständnisse auftreten: Annas Aussagen stammten von 1918 (!) und erschienen damals in der Schrift Die Tat. Was würde die Genossin Siemsen heute wohl zum vielkritisierten „Bulimie‐Lernen“ in Schulen und Hochschulen sagen? Über die makabre Praxis, Stoff in Mengen hinein zu futtern, sich prüfen zu lassen, danach alles auszukotzen und für immer zu vergessen? Auch hier gab Professorin Siemsen, zitiert von Cornelia Carstens in der Publikation Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001, zu Lebzeiten eine hochaktuelle Antwort:

„Ob es irgendein Mensch betrauern wird, dieses Konversationslexikonwissen, das unsere Examina jetzt feststellen? Wir würden etwas anderes erhalten. Mehr Freiheit menschlicher Entwicklung, mehr Wahrheit und Selbstbescheidung. Und mehr Glück bei Lehrern und Kindern.“

Nach Krieg und Befreiung sollte es Anna Siemsen vergönnt sein, weitere wichtige Spuren zu hinterlassen. 1946 war sie ins befreite Deutschland zurückgekehrt und half in der zerstörten Elbmetropole führend dabei mit, das Hamburger Schulsystem aufzubauen. Bis 1951 lehrte sie als Professorin an der Universität Hamburg und blieb zu Lebzeiten eine vielgefragte Rednerin. Schon früh engagierte sie sich für die europäische Einigung. Sie starb aufgrund eines verschleppten Infekts. Ziemlich angeschlagen hatte sie es sich einfach nicht nehmen lassen wollen, einen engagierten Vortrag vor Mitgliedern der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken zu halten und junge Menschen von der Idee des Demokratischen Sozialismus zu überzeugen. Am Ende fehlte ihr danach die Kraft, die Folgen ihrer schweren Erkrankung auszukurieren.

„Neues Leben zwischen alten Gräbern?“ Unter diesem Titel wird, gemeinsam mit engagierten Vereinen, traditionell eine anregende Erinnerungskultur des Osnabrücker Servicebetriebs auf historischen Friedhöfen gepflegt. Anna Siemsens Zitate würden heute eine andere Überschrift verdienen. In ihrem Fall hieße es viel besser und prägnanter: hochaktuelle Antworten auf unbewältigte Probleme!

Menschen sterben, klar. Selbst verwitterte Grabsteine lassen sich zerstören, wenn Feinde von humanitären Ideen ihren Hass ausleben möchten. Anna Siemsens Zielvorstellungen aber, ihre Analysen und persönlichen Grundhaltungen, bleiben Botschaften. Nicht für einen alten stillgelegten Friedhof, sondern für die Überwindung einer längst überkommenen Klassengesellschaft zugunsten eines sozialistischen, der Demokratie, Gleichheit und Solidarität verpflichteten Gemeinwesens.

Grabstein Siemsen
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