Zur Calmeyer-Diskussion – Teil 2 – Karl Kassenbrock: „Hans Calmeyer und der Fall Kurt Reilinger“

Zu den Antragstellern, die sich an die von Hans Calmeyer geleitete Entscheidungsstelle für die Meldepflicht aus VO 6/41 wandten, gehörte der Palästinapionier Kurt Reilinger, der ab Oktober 1944 Häftling in einem mobilen KZ-Außenlager in Osnabrück war.

Der aus Stuttgart stammende spätere Rettungswiderständler Kurt Reilinger, Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, ist für die Nationalsozialisten zunächst rassisch ein Mischling I. Grades, der nicht unter die strengen Gesetze zur Verfolgung der Juden fällt. Wegen seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Kultusgemeinde gilt er aber in Deutschland als Voll-Jude.

Im Sommer 1939 flüchtet er in die Niederlande. Hier hat der Hechaluz, der Dachverband der zionistischen Jugendorganisationen, das Werkdorp Wieringen eingerichtet, in dem junge Juden auf ihr zukünftiges Leben in einem Kibbuz in Palästina vorbereitet werden. Nach dem deutschen Einmarsch löst die SS im Mai 1941 das Werkdorp auf. Reilinger, inzwischen Mitglied des jetzt illegalen Führungszirkels des Hechaluz, findet Arbeit als Landbowersknecht auf einem Hof in Angerlo im Gelderland. Aber auch an diesem entlegenen Ort bleibt er im Blick der deutschen Besatzer. Ab April 1942 sind alle Gemeinden zur regelmäßigen Erfassung und Überprüfung des genehmigten Aufenthalts von Juden verpflichtet. Reilinger, dessen Persoonsbewijs (Personalausweis) bereits in Wieringen mit einem „J versehen worden ist, wird in das örtliche Judenregister eingetragen. Um den massiven Einschränkungen durch die Judengesetze entgehen zu können, beantragt er bei der Entscheidungsstelle für die Meldepflicht aus VO 6/41 die Streichung des „J“ aus dem Personalausweis. Kurt wird in die Zurückstellungsliste eingetragen, die ihn zunächst vor der Deportation in ein Vernichtungslager schützt. Er bleibt aber weiterhin verpflichtet, den Judenstern zu tragen und die Kennkarte mit ‚J‘ zu führen.

Sein Anwalt legt Nachweise über die arische Abstammung  der Mutter vor, sowie mehrere Bescheinigungen, die belegen sollen, dass Reilinger nie Mitglied einer jüdischen Gemeinde war und somit als Mischling 1.Grades zu gelten habe. Im November 1942 spricht er trotz des damit verbundenen hohen Risikos sogar persönlich in der Entscheidungsstelle in Den Haag vor. Er bittet den für Fragen im Zusammenhang mit der Religionsangehörigkeit zuständigen Sachbearbeiter Berger erneut um die Löschung des J aus seinem Personalausweis. Sowohl Berger als auch ein zweiter Sachbearbeiter, Heinrich Miessen, der für Anträge zuständig ist, die ins Deutsche Reich zurückweisen, erwähnen in ihren Vermerken die bereits in Deutschland erfolgte Einstufung Reilingers als Jude an keiner Stelle. Vielmehr reklamieren sie zu dessen Gunsten einen administrativen Fehler. Berger argumentiert, im Fall Reilinger handele es sich nicht um Richtigstellung der Einordnung, sondern Abänderung der Kennkarte, die von einem Beamten falsch mit einem ‚J‘ ist versehen, obwohl der Reilinger als ‚G I‘ registriert ist“. Miessen erkennt einenFehler der Behörde, für den Reilinger nicht verantwortlich ist.

Vermerk Calmeyers über seine Entscheidung in der Sache Kurt Reilinger – Foto Sammlung Kassenbrock

Ihr gemeinsamer Vorgesetzter, Hans Calmeyer, ist jedoch explizit anderer Ansicht“. Dem von seinen Mitarbeitern Berger und Miessen vorgelegten Lösungsvorschlag zu Gunsten Reilingers und ihrem „lauten Schweigen“ über dessen Einstufung als Jude im Deutschen Reich verweigert er die Zustimmung. Die Entscheidung Calmeyers im Fall Kurt Reilinger muss als ungewöhnlich gelten, da er nur in sehr wenigen Fällen von dem Entwurf bzw. dem Rat seiner Mitarbeiter abgewichen sein soll. In einem endgültigen Entscheid, Betr. Reilinger, Kurt, Israel, hält Calmeyer am 7.12.1942 fest: Reilinger bleibt J 2. Register ist zu ändern. Er ist aus Rückstellungsliste zu streichen.Als Gründe führt er an, Reilinger sei a) aus Deutschland als Jude (Israel) gekommen, b) Im jüdischen Milieu (Werkkamp Wieringen) hier verblieben, c) grossjährig seit 1938 und hat sich d) als mosaischer gezindte gemeldet.Zudem habe der abgelaufene Pass des Reilinger, der ausgedeutscht ist, (..) sicherlich auch schon das J getragen. Calmeyers legalistische Argumentation lässt keinen Spielraum für die von seinen Mitarbeitern Berger und Miessen vorgezeichneten Auswege, die eine Korrektur auf den Status als Halbjude (G 1) ermöglicht hätten. Durch seine deutlichen Hinweise auf den Namenszusatz Israel und auf die Ausdeutschung macht er vielmehr gezielt darauf aufmerksam, dass bereits eine eindeutige Einordnung nach „J 2“ getroffen wurde.

Eine andere als die von ihm getroffene Entscheidung ist ohne offenkundige Unstimmigkeiten nun nicht mehr möglich. Calmeyer gibt später an, er habe gewusst, dass mit Antragsschriften betrogen würde. Es habe ihn aber, so lange das nicht ins Auge fiel, nicht gekümmert. Im Fall Reilinger sieht er genau hin und weist zudem die für den Antragsteller günstige Vorlage seiner Mitarbeiter zurück. Calmeyer weiß, dass seine Entscheidung gegen Reilinger einem Todesurteil gleichkommt. Mit der erneuten Zuordnung zur GruppeJ2 und der Streichung aus der Rückstellungsliste ist Kurt Reilinger zur Deportation freigegeben.

Dass er sich noch über viele Monate relativ sicher in den Niederlanden bewegen und erfolgreich Rettungshilfe für jüdische Palästinapioniere leisten kann, ist ausgerechnet einem Nationalsozialisten, dem Bürgermeister von Angerlo, Auke Pinkster, zu verdanken. Obwohl er über die Entscheidung Calmeyers spätestens am 16.12.1942 unterrichtet ist, stellt Pinkster am 21.12.1942 einen neuen Personalausweis ohne J aus. Am 2.2.1943 bescheinigt er zudem, dass Kurt Reilinger der Kategorie G I angehöre und deshalb (…) keinen Judenstern tragen muss.Nach weiteren durch den Bürgermeister provozierten Verzögerungen bei der Änderung des Registereintrags wird Reilinger erst am 18.8.1943 mit dem Hinweis vow“ (vertrokken onbekend waarheen) endgültig aus dem Bevölkerungsregister von Angerlo ausgetragen. Seine Spur ist verwischt.

Doch er arbeitet weiter an seinem Rettungswerk. Inzwischen hat er sich einem jüdischen Widerstandsnetz angeschlossen, das Hunderte junger Onderduiker (Untergetauchte) in ihren Verstecken versorgt. Die Flucht von mehr als 60 jungen Jüdinnen und Juden nach Spanien wäre ohne Kurt Reilinger und die von ihm in Frankreich organisierte Unterstützung durch den jüdischen Untergrund (Armée Juive) nicht möglich gewesen.

Nachdem er im April 1944 schließlich doch von der Gestapo in Paris verhaftet wird, überlebt er die Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau und ein KZ-Außenlager in Osnabrück.

 


Anmerkung des Autors:

Dieser Artikel für die Osnabrücker Rundschau wurde nur leicht aktualisiert. Er liegt mit entsprechenden Originalbelegen schon seit Jahren sowohl der Hans-Calmeyer-Stiftung als auch dem Museumsquartier Osnabrück vor. Wäre es nicht angemessen, wenn das geplante „Haus der Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung“ an Kurt Reilinger erinnern und seine Geschichte vermitteln würde?


Anmerkung der OR-Redaktion:

Siehe auch den OR-Artikel Karl Kassenbrock, Nanno, Onderduiker im Rettungswiderstand. Ein Exposé zur Biografie über Kurt Reilinger mit dem Verweis auf das Buch NANNO. ONDERDUIKER IM RETTUNGSWIDERSTAND. erschienen im  Verlag Regionalkultur, Ubstadt-Weiher 2022, sowie den OR-Artikel Lange vergessen, heute präzise erforscht: das Osnabrücker Schienen-KZ über die Vorstellung des Buches Konzentrationslager auf Schienen, Die Geschichte der 5. SS-Eisenbahnbaubrigade, Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
In den beiden lesens- und empfehlenswerten Büchern hat Karl Kassenbrock seine bisherigen Forschungsergebnisse dokumentiert.

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