Donnerstag, 28. März 2024

CDU 1947: Erinnerung an eine sozialistische Partei

76 Jahre „Ahlener Programm“

Wir schreiben den 1. Februar 1947. Tatort ist das Kloster und Pensionat im Gymnasium St. Michael in Ahlen, 75 km von Osnabrück entfernt. Versammelt sind gut zwei Dutzend CDU-Mitglieder des damaligen Ausschusses der britischen Zone, zu der auch Osnabrück zählt. Die im Vorjahr komplett neu gegründete Christlich Demokratische Union debattiert ein umfassendes Wirtschafts- und Sozialprogramm. Als „Ahlener Programm“ geht es in die Geschichte ein. Allzu gern wird es bis heute immer wieder verschämt unter den Teppich gekehrt. Die OR erweckt es deshalb an seinem 75. Geburtstag wieder freudig zum Leben.


„Freiheit statt Sozialismus“

„Freiheit statt Sozialismus“: Als die Unionsparteien dieses Motto am 24. Mai 1976 in schillernden Farben auf den Wahlparteitag der CDU in Hannover der Öffentlichkeit präsentieren, bildet dieser Schritt den damaligen Höhepunkt einer knallharten Kontroverse. Die klassische, bis heute aufrecht gehaltene sozialdemokratische Vision eines Demokratischen Sozialismus wird von Kohl und seinen Parteifreunden platt mit jener Unfreiheit gleichgesetzt, die ein angeblicher „Sozialismus“ in Osteuropa hervorgebracht hätte. Stumpf ist Trumpf. Und Männer wie Helmut Kohl, Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger und Hans Filbinger sorgen auf allen Kanälen der Republik dafür, dass es den Bundesdeutschen immer wieder neu eingehämmert wird: Wer SPD wählt, votiert für Unfreiheit und sozialistische Planwirtschaft, am Ende gar für Gefängnisse und für die Beschönigung von Mauertoten.

Als Experte für Freiheit will sich insbesondere Franz-Josef Strauß, 1962 im Zuge der von ihm nach der Verhaftung von Journalisten ausgelöste Spiegel-Affäre geschasster Verteidigungsminister, später Wirtschafts- und Finanzexperte der Union, danach bayerischer Ministerpräsident und 1980 deren Kanzlerkandidat, beweisen. Real hat er sich zuvor häufig als Freund des damaligen Apartheit-Staates Südafrika gebärdet. Noch 1973 hat er den blutigen faschistischen Putsch eines Generals Pinochet mit den Worten geadelt, „das Wort Ordnung“ erhalte „für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang“. Alfred Dregger wiederum, 1982 wird er zum Vorsitzenden der Unions-Bundestagsfraktion gewählt, zeigt sich im Parlament davon überzeugt, dass Hitlers Angriff auf die Sowjetunion seinerzeit nicht grundsätzlich falsch gewesen sei. Baden-Württembergs Ministerpräsident Hans Filbinger, im Nazi-Reich Marinerichter und verantwortlich für zahlreiche Todesurteile, legt wiederum sein Rechtsverständnis dar, indem er1978 in einem Spiegel-Interview erklärt: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“

Dass die Gleichsetzung von Unfreiheit und Sozialismus bis heute die Unionspolitik durchzieht, muss an dieser Stelle nicht weiter belegt werden. Es ist zum Erkennungsmerkmal einer politischen Formation geworden, die sich nach dem weltweiten Aufkommen des neoliberalen Weltbilds, das sich durch Abbau des Sozialstaats, Privatisierungswellen und Steuernachlässe für Reiche speist, mittlerweile von Kernelementen einer sozial-kapitalistischen Marktwirtschaft verabschiedet hat. Mit „Sozialismus“ wiederum hat die Union seit 1989 ohnehin ein scheinbar leichtes Spiel: Er wird heutzutage fast unwidersprochen mit dem stalinistischen DDR-System gleichgesetzt, weil dies sich ja nun einmal so genannt habe. Was man, ganz nebenbei bemerkt, ja auch mit dem Begriff „Demokratie“ machen könnte, mit der sich der geschmähte Staat sich ja ebenso geschmückt hat. Dass Tausende demokratischer Sozialist*innen einst im Kampf für ihr sozialistisches Ideal in DDR-Gefängnissen, ganz zu schweigen von Gleichgesinnten in der Sowjetunion, eingebuchtet oder gar ermordet wurden, wird bis heute allzu gern vergessen.


Zeitreise nach Ahlen

Zurück zur Zeit vor 75 Jahren: Was die damalige CDU innerhalb der Aufbruchseuphorie der jungen Bundesrepublik beschließt, klingt heute nicht nur sensationell, sondern wäre für manchen neoliberalen Geist Anlass genug, auf eine Beobachtung dieser offenkundig linksradikalen Partei durch den Verfassungsschutz zu pochen. Denn bereits der Anfang des beschlossenen Textes beginnt mit Worten, die heutige Verfechter marktradikaler Ideologien erschauern lassen muss:

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.“

Aus der jahrelangen Subventionierung der Nazis durch Deutschlands Großindustrie und der Mitverantwortung von Firmenhäusern wie Thyssen, Krupp, Flick oder IG Farben an Kriegsinferno und Massenmorden hat anno 1947 auch die CDU gelernt. Später wird man es vergessen haben. Anders in Ahlen. Originalton:

„Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Der linke Flügel der CDU, heutzutage dürfte die Suche nach ihm eine mikroskopische Feinaufgabe sein, ist in der Gründungsphase der Partei von beachtlicher Stärke. Unter Führung von Jakob Kaiser verlangt er einen „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“. Auszeichnen soll sich dieser durch eine Teil-Vergesellschaftung der Großindustrie und durch starke Mitbestimmungsrechte der arbeitenden Menschen. Erst mit den „Düsseldorfer Leitsätzen“ vom Juli 1949 wird sich die CDU unter dem Einfluss Konrad Adenauers vom Ahlener Programm distanzieren, sich zur „Marktwirtschaft“ bekennen und den „christlichen Sozialismus“ endgültig aufgeben.

Abbildung 2: Konrad Adenauer (1876-1967). Denkmal von Hubertus von Pilger in Bonn (1982)

Im Gegenteil: Unter Kanzler Adenauer setzt sich ein offener Rechtstrend fort. Schon bald werden Zigtausende von Ex-Nazis wieder in ihre Funktionen als Richter, Staatsanwälte, Professoren, Lehrer und Offiziere eingesetzt. Die SPD wird man geheimdienstlich beobachten lassen und als „Fünfte Kolonne Moskaus“ geißeln. Anno 1956 wird die Unionsregierung, nach der NS-Zeit passiert dies zum zweiten Mal, erneut das Verbot der Kommunistischen Partei mitsamt einer massenhaften Verhaftungswelle von Anhängern der Organisation einleiten. Beginnend mit den Siebzigern werden CDU-CSU für all jene, die eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst anstreben, ein Berufsverbot bereits dann einfordern, sobald sich diese kritisch zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung äußern.

Und das Ahlener Programm? CSU-Chef Franz-Josef Strauß, verstorben 1988, hält es zu Lebzeiten für einen fatalen Irrtum. Für ihn ist es eine „Mumie, die man im Grab liegen und verrotten lassen“ sollte. Er rät anno 1975 dazu, zukünftig davon abzusehen, „das Gras zu fressen“, das darüber gewachsen sei. Die Unionsparteien sind dieser Empfehlung bis heute allzu gern verfolgt.

 

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