Sonntag, 5. Mai 2024

Fußballgeschichte in brauner Zeit: „Forum Dom“ zur Erinnerungskultur am Beispiel Werder Bremen

Nicht nur im Osnabrücker Sport, auch in anderen Städten tut sich inzwischen viel auf dem Weg einer antifaschistischen und demokratischen Erinnerungskultur. Im Blickpunkt steht dabei naturgemäß der Werdegang jeweiliger Fußballvereine. Das „Forum Dom“ setzte jetzt am Beispiel Werder Bremens interessante neue Impulse.

“Jüdische Sportler – nicht nur bei Werder Bremen“ lautete der Titel des Vortrags- und Diskussionsabends, der im „Forum am Dom“ in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde Osnabrück auf die Beine gestellt worden war und am Donnerstagabend zahlreiche Interessierte ins Foyer des Diözesanmuseums lockte. Erwartungsgemäß im Mittelpunkt standen Geschichte und Gegenwart des jüdischen Sports, der diesmal am besonderen Beispiel Werder Bremens vor Augen geführt wurde – und durchaus so manche Parallelen zu Osnabrück offenbarte.

Gewohnt impulsreich war anfangs die Begrüßung durch Dr. Hermann Queckenstedt, vormaliger VfL-Präsident und bis heute dem Sportgeschehen zugetaner Direktor des hiesigen Diözesanmuseums. Er erinnerte an die unter Regie des Hauses im Frühjahr letzten Jahres durchgeführte Ausstellung „Zwischen Erfolg und Verfolgung“. Nicht wenige aus dem Publikum konnten sich noch an die lebensgroßen eindimensionalen Nachbildungen prominenter Menschen aus dem deutschen jüdischen Sport vor dem Osnabrücker Dom erinnern.

Allgemein erinnerte Queckenstedt daran, dass ein Gedenken an NS-Zeit und Judenverfolgung im deutschen Fußball mehr als lange brauchte, um dort zum Thema zu werden. „Noch im Buch ‚100 Jahre DFB‘ stand nahezu nichts von berühmten jüdischen Spielern wie Julius Hirsch oder von Gottfried Fuchs, obwohl bis heute kein einziger DFB-Spieler in einem einzigen Länderspiel mehr Tore geschossen hat als Fuchs, der bei einem Zusammentreffen 1912 sensationell zehnmal getroffen hat. Stattgefunden hat das bei den Olympischen Spielen, als das russische Team mit 16:0 vom Platz geschickt worden ist.“

Weniger sportlich, sondern hochpolitisch ging es im Anschluss der Veranstaltung zu. Markante Einblicke in die Werder-Geschichte und in deren aktuelle Aufarbeitung vermittelte zunächst der Autor Fabian Ettrich, ein in Osnabrück lebender Historiker und Schatzmeister des hiesigen Werder-Fanclubs „Ahoi-Crew 05“. Gemeinsam mit anderen ist er Verfasser des Buches „Werder im Nationalsozialismus“, das im Vorjahr im Bielefelder Verlag „Die Werkstatt“ erschienen ist.


Alfred Ries: ein fast vergessener Werder-Präsident

Ettrich stellte den eindrucksvollen Lebensweg des früheren Werder-Präsidenten Alfred Ries (1897-1967) vor, der bereits zur Zeit der Weimarer Republik mehrere Jahre als Vereinspräsident amtiert hatte. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten hatte ihn ein langer Fluchtweg ins damals jugoslawische Belgrad geführt, in dem es ihm trotz mehrmaliger Verhaftungen mit großen Mühen gelang, als Handelsvertreter zu überleben und seine materielle Existenz zu sichern. Dass Ries jene Zeit trotz deutscher Besatzung überstand, verdankte er laut Ettrich einer sogenannten Gewerbelegitimationskarte, auf der er ausdrücklich nicht als Jude vermerkt gewesen war und die Ries Kontakten zum Widerstand verdankte.

Nach seiner Rückkehr in die Hansestadt in das Nachkriegs-Bremen, so der Referent, engagierte sich Ries erneut als Präsident des SV Werder und außerdem in den Vorständen der Sportverbände Deutscher Sportbund (DSB) und Deutscher Fußballbund (DFB). Nach beruflichen Stationen im Ausland kehrte Ries 1963 ebenfalls wieder nach Bremen zurück und übernahm erneut das Werder-Präsidentenamt. Die Mannschaft wurde unter seiner Präsidentschaft 1965 immerhin zum ersten Mal deutscher Fußballmeister und zog damit in den Europapokal ein. Fabian Ettrich: „Merkwürdig ist, dass sich etliche Jahrzehnte, bis in die moderne Zeit hinein, das Gerücht gehalten hat, Ries habe die NS-Zeit überlebt, weil er mit den Nazis kollaboriert hätte. Bis in die jüngste Zeit hinein gab es dafür als Quelle die Aussage früherer Gestapo-Mitarbeiter, so dass die Erinnerung an Ries beinahe verblasst ist. Jetzt ist zum Glück das Gegenteil ziemlich exakt belegt.“

Erst intensive historische Forschungen haben laut Ettrich nämlich dazu geführt, dass der Vorwurf einer Kooperation restlos widerlegt werden konnte. Engagierte Fanarbeit habe dann dazu beigetragen, dass man das Lebenswerk von Ries habe rehabilitieren können.

Thomas Hafke, ebenfalls Mitautor des besagten Werder-Buches und lange Jahre, auch hauptberuflich, tief in der Arbeit des Bremer Fanprojekts verstrickt, konnte bei seinen Ausführungen direkt an Ettrich anknüpfen. „Erst durch unsere Arbeit“, so Hafke, „ist bekannt geworden, dass Ries eine Grabstätte auf dem Bremer Jüdischen Friedhof hat. Das vernachlässigte Grab wird inzwischen gepflegt und reichlich besucht.“


Leo Weinstein: Werderaner und Pionier des US-Fußballs

Haffke stellte danach mit Leo Weinstein (1921-2009) einen weiteren Werderaner mit jüdischen Wurzeln vor, dem es ebenfalls gelungen war, nach 1933 aus Deutschland zu fliehen. Als US-Soldat habe er mit seinen Kameraden das KZ Buchenwald befreien können, in dem sein eigener Vater zuvor ermordet worden war. Später sei Weinstein Professor in den USA geworden und habe maßgeblich dabei mitgeholfen, den US-amerikanischen „Soccer“ aufzubauen. Andere Schicksale jüdischer Werderaner, die Haffke ebenso vorstellte, verliefen weniger erfolgreich und endeten vielfach durch deren Ermordung in Konzentrationslagern.

Für die aktuelle Fanarbeit formulierte Haffke einen wichtigen Tipp: „Besucht Israel, führt dort Gespräche mit Menschen und schließt Freundschaften! Ich selbst habe dort einmalig schöne Erlebnisse gehabt.“


Impulse aus der Runde

In der folgenden Diskussionsrunde stellte Ex-VfL-er Ansgar Brinkmann seine neue, rein ehrenamtliche Funktion bei Makkabi vor, die er erst vor ganz kurzer Zeit übernommen hat. Schon während seiner Zeit bei Tennis Borussia Berlin und auch bei Eintracht Frankfurt sei die Erinnerung an jüdische Traditionen gepflegt worden und hätte ihn in dieser Frage stark geprägt. Auch er freue sich nicht nur auf seine sportlichen Herausforderungen, sondern ebenso auf künftige Reisen und Begegnungen in Israel. Brinkmann: „Es liegt eine unfassbar schöne Aufgabe vor mir.“

Michael Grünberg, der am Schluss der Runde sehr eindrucksvoll auf seine Familie sowie auf eigene Kindheits- und Jugenderlebnisse im Emsland einging, freute sich sichtlich über die Aktivitäten, die inzwischen in Osnabrück wie in Bremen entwickelt worden sind, um an den historischen wie aktuellen Stellenwert im Zuge der Beleuchtung einer jüdischen Sportgeschichte zu erinnern. Bedrückt zeigte er sich aktuell vom Erstarken der AFD als rechtsextremer Partei, was nicht nur bei Menschen jüdischen Glaubens furchtbare Erinnerungen wecke. Entgegnen müsse man solchen Entwicklungen vor allem mit einem Appell an junge Leute. „Es muss uns allen gemeinsam gelingen, vor allem junge Menschen mit den hier diskutierten Themen anzusprechen. Und alle sollten zusätzlich dazu beitragen, auch die eigene Familiengeschichte ohne falsche Skrupel aufzuarbeiten. Das allein hilft uns hier im engsten Kreise weiter.“


Was folgen könnte

Zur Abrundung des Abends wurde viel nach den kürzlich in Osnabrück eingestellten Angeboten des jüdischen Turn- und Sportverbands Makkabi gefragt, dem sich allerorten auch Christen, Muslime wie Konfessionslose anschließen können. Neben Fußball wartet der Verband auch mit weiteren Angeboten auf. Die Hoffnung auf eine Neubelebung der Osnabrücker Makkabi-Vereinigung besteht nach Aussagen Grünbergs durchaus weiter. Auch die OR stellt sich gern mit ihren Kontakten zur Verfügung, um Namen Interessierter weiterzugeben.

Was schon war und an was jederzeit erinnert werden kann: Vor einiger Zeit stellte die OR ja bereits bereits ausgiebig die eindrucksvoll gemachte, jiddisch gesungene VfL-Hymne vor: Man kann dieses Gute-Laune-Video gar nicht häufig genug sehen, hören und weiter verbreiten – meint die gesamte OR-Redaktion.

OR-Redakteur Dieter Przygode hat eine weitere konkrete Idee: Wie wäre es mit einer VfL-Fan-Freundschaft zu einem israelischen Club? Bereits vorgenommen wurde ein Trikot-Tausch zwischen Dieter (auf dem Foto rechts) und Raul Reinberg aus dem israelischen Beer Sheva.

Rauls Großvater war der Fußballer Carl Meyer, zeitweilig Gaujugendobmann in Osnabrück, bevor er vor den Nazis anno 1936 fliehen musste. Rauls Mutter wurde in Osnabrück geboren. Er selbst ist Fan des israelischen Clubs Hapoel Beer Sheva. Dieter, der auch schon eine Biografie Carl Meyers verfasst hat, steht über die OR gern zur Kontaktvermittlung zur Verfügung, um eine Fan-Freundschaft in die Wege zu leiten.

Last, but not least: Aus dem Publikum der berichteten Veranstaltung wurde auf die Zusammenkunft der DFB-Initiative „!Nie wieder“ hingewiesen, die sich vom 13. bis zum 14. Januar 2024 in Osnabrück einfinden wird. Engagierte Fans etlicher deutscher Vereine werden sich in unserer Stadt austauschen, wie es mit der gemeinsamen Arbeit weitergehen soll. Allgemeines Resümee am Donnerstag also: Man sieht sich wieder!


Bildunterschrift:
von links nach rechts: Ansgar Brinkann, Fabian Ettrich, lebensgroßes Konterfei von Alfred Ries, Michael Grünberg, Hermann Queckenstedt, Thomas Hafke
Titelfoto: OR/Karl Schulze

 

 

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