Gustav Haas
Erstes Opfer im Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft
Die OR-Serie zu Menschen, die in Osnabrück Widerstand gegen die Nazis geleistet haben, umfasst bereits jetzt schon zahlreiche Persönlichkeiten, die sich lange Jahre aktiv geweigert haben, sich dem NS-System zu unterwerfen. Diejenigen, die ihren Widerstand bis zum Ende durchhielten, fanden meist in der Endphase des Terrorsystems den Tod.
Gustav Haas gilt, betrachtet man die gut zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft, als ihr erstes prominentes Opfer. Für die OR ein Grund mehr, einen besonderen Blick auf die Jahre der Weimarer Republik zu werfen.
Ein Kollege aus Waldbröl
Es ist das Jahr 1919, das erste nach dem Ersten Weltkrieg, als der 33-jährige Gustav Haas sein Büro bezieht. Angesiedelt ist es in den Raumen des mächtigen Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) im Gewerkschaftshaus am Kollegienwall. Haas ist Stellvertreter des angesehenen ersten Bevollmächtigten Heinrich Groos, der enge Verbindungen zum Rathaus und, als dessen führendes Mitglied, zum Osnabrücker Arbeiter- und Soldatenrat unterhält.
Gustav Haas ist gelernter Schlosser. Geboren wurde er am 14. Februar 1886 als Kind einer Arbeiterfamilie in Waldbröl. Der Ort ist eine idyllische Kleinstadt im Süden des Oberbergischen Kreises. Wie die Mehrheit der DMV-Funktionsträger ist Haas schön früh erklärter Kriegsgegner und gehört auch deshalb zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Jene ist reichsweit schon 1917 aufgrund des kriegsbefürwortenden Kurses der Mehrheits-Sozialdemokratie (MSPD) aus der ehemals gemeinsamen Partei hinausgedrängt worden. In Osnabrück ist Haas allerdings auf eine sozialistische Arbeiterbewegung gestoßen, die keinesfalls so zerstritten ist wie die heftig konkurrierenden sozialdemokratischen Parteien in großen deutschen Industriezentren.
Schwerarbeit nach Kriegsende
Die Tagesaufgaben des ersten Nachkriegsjahres bergen auch in Osnabrück derart viele Probleme, dass MSPD- und USPD-Mitglieder schnell zusammenfinden, um das Beste für benachteiligte Menschen zu erreichen. Rund 80.000 Einwohnerinnen und Einwohner beherbergt das notleidende Osnabrück. Bis zu 15.000 entlassene Frontsoldaten kehren heim und benötigen dringend einen Arbeitsplatz, um das Familieneinkommen auf ein Mindestmaß zu sichern. 2.200 Osnabrücker sind an der Front grauenvoll für Kaiser und Rüstungsindustrie gestorben. Die Witwen verheirateter Kriegstoter, viele mit zahlreichen Kindern, stehen vor dem Nichts. Das Straßenbild der Stadt ist von bis zu 4.000 Kriegskrüppeln geprägt, von denen etliche, auf dem nackten Boden kauend, um ein Almosen bitten. Frauen, die zuvor in Fabriken männliche Arbeiter ersetzt haben, werden arbeitslos. Männer besitzen bei Wiedereinstellungen Vorrang. Gigantische Engpässe kennzeichnen vor allem die Lebensmittelversorgung der Osnabrückerinnen und Osnabrücker. Vor allem Kartoffeln sind unverändert knapp und werden bereits seit Jahren durch Kohlrüben ersetzt.
Haas, der sich als zweiter Bevollmächtigter des DMV zügig auch kommunalpolitisch engagiert, hat bereits in seiner eigenen Gewerkschaft alle Hände voll zu tun. Fast alle großen Betriebe der Stadt beschäftigen Metallarbeiter. 2.100 verdienen ihr Brot auf dem Schinkeler Stahlwerk, rund 1.500 auf dem Gmhütter Werk, knapp 600 arbeiten beim OKD, dem örtlichen Kupfer- und Drahtwerk und fast 600 auf dem Eisenbahn-Signalwerk. Letztere sind die aus „Kamerun“, die nach Feierabend infolge des Qualms aus Lokomotiven mit rußgeschwärzten Gesichtern heimkommen und im Schinkel wie in der Neustadt das Straßenbild facettenhafter machen.
Schwierig gestaltet sich auch die Ausrichtung der Osnabrücker Unternehmen. Nach dem Versailler Friedensvertrag ist Rüstungsproduktion verboten. Überdies sind vom deutschen Volk gigantische Reparationslasten zu schultern. Haas wird zum Dauerverhandler mit den jeweiligen Fabrikherren, um das Beste für die Kolleginnen und Kollegen in den Werkstätten herauszuholen. Infolge der kriselnden Unternehmensabsätze bilden Verhandlungserfolge für Haas ein ungemein schwieriges Geschäft. Nicht selten ist die Stimmung in etlichen Belegschaften angespannt. Die Schwelle, Gewerkschaftsvertreter für mangelhafte Verhandlungserfolge verantwortlich zu machen, ist niedrig.
Kapp-Putsch 1920: erfolgreich gegen Todfeinde der Republik
Ungeachtet der geschilderten Umstände wartet im März 1920 eine weitere Bewährungsprobe auf Haas und seine Genossen. Den Anlass bieten im Reich Ereignisse, die sich zunächst in der Hauptstadt Berlin zutragen und sich danach reichsweit ausdehnen. Die Informationen verbreiten sich auch in den Osnabrücker Tageszeitungen blitzschnell und bestimmen das Thema unzähliger Diskussionen im Straßenbild. Die nationalliberale Osnabrücker Zeitung wartet sogar mit einer Sonder-Ausgabe auf. Neugierige lesen unter der Überschrift „Die neue Regierung“, worum es geht: Die legale Regierung unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Gustav Bauer sei für abgesetzt erklärt worden. An ihre Stelle habe sich, so der Bericht, als neuer Kanzler ein gewisser Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp gesetzt, der fortan zum Namensgeber des Umsturzversuches wird. Fest an seiner Seite stehe ein Freiherr von Lüttwitz, seines Zeichens kommandierender General in Berlin.
Ohne militärischen Schutz fliehen die sozialdemokratischen Minister zuerst nach Dresden, dann nach Stuttgart. Soldaten der Putschisten, vor allem diejenigen der berüchtigten Brigade Erhard, pinseln sich teilweise bereits Hakenkreuze auf ihre Helme und patrouillieren zuerst in Berlin, dann auch in anderen Städten.
Freie Gewerkschaften, MSPD und USPD lassen ihre heftigen Differenzen beiseite und rufen erfolgreich zu einem Generalstreik auf. Auch Haas ist von Beginn an in die Widerstandsaktionen zum Erhalt der erkämpften Republik eingebunden. Es dauert nicht lange, ehe sich auch Osnabrücker Gewerkschafter, Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten zur Bildung einer Abwehrfront zusammenfinden. Auch die Demokratische Partei, die Deutsch-Hannoversche Partei und der örtliche Beamtenbund treten der Aktionseinheit bei. Komplett wird das breite Bündnis mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) sowie mit der Arbeitsgemeinschaft für Angestellte (AfA). In Osnabrück kommt dem Bündnis zugute, dass es hier infolge der Revolution von 1918 niemals zu tiefen Spaltungen der Arbeiterbewegung oder gar zur Gewalt untereinander gekommen ist. In Berlin und in anderen Industriezentren ist dies meist völlig anders: Hier haben Spaltung und blutiger Bruderkampf tiefe Verwerfungen produziert, die Familien und Freundschaften zerreißt.
Ein Osnabrücker Aktionsausschuss, der den offiziell auch von sozialdemokratischen Reichsministern ausgerufenen Generalstreik koordinieren soll, tagt im Lokal Vennemann in der Meller Straße. Der Kreis setzt sich aus den beiden MSPD-lern Otto Vesper (Mitglied der als Parlament fungierenden verfassungsgebenden Nationalversammlung) und Heinrich Groos sowie zwei USPD-Sprechern, dem Sekretär des Metallarbeiterverbandes Gustav Haas und seinem Genossen Ludwig Landwehr, zusammen. Der flächendeckend verteilte Aufruf des Aktionsausschusses zum Streik spricht sich unter den Beschäftigten der Stadt wie ein Lauffeuer herum – und er wird prompt befolgt: Die städtischen Ämter, das Kupfer- und Drahtwerk, das Eisen- und Stahlwerk, auch kleinere Betriebe, die Post, die Straßenbahn und die Eisenbahnwerkstätten, selbst Theater und Kinos sind im Nu lahmgelegt. Aufrechterhalten wird im Interesse der Bevölkerung nur der Betrieb im Krankenhaus, im Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk.
Viele Tausende zieht es in der Endphase des Streiks zu einer Großkundgebung auf den Ledenhof. Neben dem MSPD-Sprecher Walter Bubert ist Gustav Haas einer der Hauptredner, der sich spätestens hier zum unversöhnlichen Feind der Osnabrücker Rechten macht. Wie die anderen fordert er unter großem Beifall den sofortigen Rücktritt der Putsch-Regierung und deren harte Bestrafung. Zusätzlich beantwortet er organisatorische Fragen, um die Ziele des Generalstreiks flächendeckend zu erreichen.
Flugs ist Haas auch bei Verhandlungen mit der Stadt- und Regierungsspitze beteiligt. Von Oberbürgermeister Rißmüller, von Regierungspräsident Tilman und von Vertretern der örtlichen Einwohnerwehr erhalten die Streiksprecher dabei die feste Zusicherung, dass alle gemeinsam für Republik, Verfassung und legale Regierung einstehen wollen.
Den größten Erfolg erzielen die Streikverantwortlichen gegenüber den rund 200 Putschistenfreunden des Freikorps Lichtschlag, das in der Caprivikaserne seine waffenstarrende Gewalt präsentiert. Demonstrativ hatten die reaktionären Söldner bereits die altkaiserliche schwarzweißrote Fahne gehisst. Die Truppe ist wegen ihrer andernorts bewiesenen Brutalität gegenüber der Arbeiterschaft äußerst berüchtigt. In der Stadt herrscht eine große Angst, dass die nationalistische Soldateska auch in der Hasestadt ein Blutbad anrichtet.
Ein schwieriges Gespräch müssen die Streikvertreter um Haas, begleitet von Oberbürgermeister Rißmüller, mit Verantwortlichen des Freikorps führen. Die geballte Stärke der Arbeiterschaft verschafft sich bei den Bewaffneten tatsächlich Eindruck. Die Runde einigt sich schließlich darauf, dass die Truppe die Stadt Osnabrück schnell verlassen muss.
So groß der Triumph der Streikenden zu diesem Zeitpunkt auch ist, desto hasserfüllter protokollieren Osnabrücker Rechte ihre Niederlage und beschwören bereits hier ihre spätere Rache. Spätestens hier zählt auch Haas für sie zu jenen „Novemberverbrechern“, die den deutschen Frontkämpfern wie späteren Freikorps-Soldaten symbolisch ein Messer in den Rücken gerammt und nationale Triumphe verhindert haben. Die „Dolchstoßlegende“ besitzt somit auch in Osnabrück eine breite Basis – und Männer wie Bubert oder Haas zählen von Beginn an zu den besonders verhassten Feindbildern der Rechten.
Bewährt in der Vermittlerrolle – Mandate in Osnabrück und Hannover
Gustav Haas erwehrt sich in der Folgezeit dem Anwerben der zur KPD übergetretenen USPD-Genossen, zu denen auch Ludwig Landwehr zählt. Wie viele andere findet Haas in die jetzt wieder vereinte Sozialdemokratie zurück – und besetzt fortan stets verantwortliche Positionen. Er bewährt sich, wie andere Genossen, erfolgreich als Vermittler bei den folgenden Hungerunruhen bis 1920.
1923 wird Gustav Haas erster Bevollmächtigter seiner Gewerkschaft. Sein Vorgänger Heinrich Groos ist Leiter des örtlichen Arbeitsamtes geworden. Besonders in den eher stabilen Jahren der Weimarer Republik erringt Haas in den Folgejahren Mandate im demokratischen Wettstreit. 1927 wird er Bürgervorsteher, also Mitglied des Osnabrücker Stadtrats. In der SPD-Fraktion fungiert er danach als „stellvertretender Wortführer“, wie es damals heißt. 1929 wird er frisch gewähltes Mitglied des Hannoverschen Provinziallandtags, der ein Vorläufer des heutigen niedersächsischen Landtags ist. Die Bahnstrecke Osnabrück-Hannover lernt er routinemäßig zu nutzen.
Die Krisenjahre nach dem Ende der letzten sozialdemokratisch geführten Reisregierung unter Kanzler Hermann Müller erfordern unsägliche Bemühungen von Gewerkschaftern. Die Wirtschaft kollabiert. In den Jahren 1930 und 1931 macht Haas sich vor allem als Organisator der gewerkschaftlichen Winterhilfe für Arbeitslose einen Namen. Nach langwidrigen Verhandlungen mit dem Magistrat gelingt es ihm, Beihilfen für die Winterfeuerung und die Ausgabe kostengünstiger warmer Mahlzeiten auszuhandeln.
Selbstredend zählt Haas zu jenen, die sich fortan nahezu täglich in zahllosen Reden und Gesprächen den wachsenden Nazis entgegenstellen. Alles wird von den Braunhemden sorgfältig registriert, um es eines Tages, so ihre Hoffnung, in Racheaktionen umzusetzen.
Haas und die Freien Schwimmer: mehr als Leibesübungen
Gustav Haas ist in den Weimarer Jahren nicht nur Funktionsträger in SPD und Gewerkschaft, sondern auch eng mit der Arbeiterturn- und -Sportbewegung verknüpft. Besonders haben es ihm dort die Freien Schwimmer angetan, deren Vorsitzender er bis zu deren Verbot anno 1933 ist. Der Vorsitz innerhalb eines Vereins, der zum reichsdeutschen Arbeiterturn- und Sportbund (ATSB) zählt, bedeutet viel mehr als pure Freizeitgestaltung und Leibesertüchtigung. Man lebt das Ideal gemeinsamer Aktivitäten im Sinne der Solidarität, statt, wie dies bei bürgerlichen Turn- und Sportvereinen Gang und Gebe ist, vormilitärischen Drill zu praktizieren und alles für Rangfolgen im Wettkampf zu geben.
Bei den Freien Schwimmern ist dies, wie beim ATSB, gänzlich anders. Sport, Turnen und Schwimmen sollen Freude und Gemeinschaft vermitteln, Leistungsstarke sind ebenso gern gesehen wie solche mit bescheidenen Ergebnissen.
Der von Gustav Haas organisierte Schwimm-, Turn- und Sportbetrieb umfasst tatsächlich weit mehr als reinen Schwimmsport. Das Angebot reicht vom Wasserball und Turmspringen über das Streckenschwimmen bis hin zu einem beliebten Spielmannszug, der mit seiner weißen Kleidung gern vernehmlich auf Demonstrationen von Gewerkschaften und Sozialdemokratie auftritt. Darüber hinaus werden auch Handball und Kanufahren angeboten. Kanuten besitzen am Zweigkanal sogar ein eigenes Bootshaus. Die Treffpunkte der Freien Schwimmer sind folgerichtig vielfältig in der Stadt verteilt: Schwimmen und Wasserball gibt es im früheren Nette-Flussbad, im Pottgrabenbad oder im Moskaubad. Handball oder Leichtathletik erwarten die Interessierten auf Sportplätzen. Es sind Begegnungsorte, die auch andere Arbeitersportvereine nutzen oder solche in städtischer Regie. Als Übungsleiter wird auch der inzwischen von der Deutschen Volkspartei zur SPD übergetretene bekannte Osnabrücker Sportlehrer Ernst Sievers bei den Freien Schwimmern aktiv.
Zu Events, beispielsweise im Osnabrücker Moskaubad, kommen nicht selten bis 5.000 Zuschauende. Berstend voll sind auch Ereignisse wie selbst organisierte Karnevalsfeiern. Der Zuspruch in der Osnabrücker Bevölkerung ist also immens und macht Gustav Haas auch in sportlichen Kreisen bekannt.
Verhasster „Gewerkschaftsbonze“
Die deutschen Gewerkschaften, in der Weimarer Zeit ohnehin noch parteipolitisch unterschiedlich organisiert, besitzen in der Endphase der Weimarer Republik einen schweren Stand. Insbesondere die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften, bei denen die allermeisten Organisierten ihren Mitgliedsbeitrag zahlen, haben seitens ihrer Gegner ständig mit dem Vorwurf zu kämpfen, sie seien „Bonzen“, dächten nur allein an sich und täten absolut nichts für abhängig Beschäftigte und Arbeitslose. Jeder mühsam mit Arbeitgebern ausgehandelte Kompromiss wird zum Anlass genommen, einmal mehr auf die „Bonzen“ zu schimpfen.
Vor allem die aufkommenden Nationalsozialisten tönen täglich, dass es vor allem die „Novemberverbrecher“ von SPD und Gewerkschaften seien, die für die anwachsende Millionenarbeitslosigkeit und für die Verarmung großer Teile der Bevölkerung verantwortlich zeichneten.
Gustav Haas, von dessen aktiv wahrgenommenen Funktionen im Bürgervorsteherkollegium wie im Hannoveraner Landtag man weiß, gilt für einige als besonderer Ausdruck des „Bonzentums“. Das Gewerkschaftshaus am Kollegienwall, zugleich Heimstätte der örtlichen SPD, des Arbeiterturn- und Sportbundes wie der Sozialistischen Arbeiterjugend, wird immer häufiger von Osnabrücker Nazis und Deutschnationalen als „Bonzenkloster“ tituliert.
Gustav Haas, so berichteten es später einzelne Zeitzeugen gegenüber dem Autor, zählt bis zuletzt zu denjenigen in der Sozialdemokratie und in der ihr nahestehenden Gewerkschaftsbewegung, welche die Nazi-Gefahr unterschätzen. Wie viele andere kann Haas jene unvergleichliche Brutalität, mit der die Nazis nach ihrer Machtergreifung am 30. Januar 1933 auftreten, nicht in dieser Härte vorhersehen. Lange vertraut er auf die mühsam erkämpften Regeln des Rechtsstaats. Trotzdem ist er bis zum Schluss in erster Reihe dabei, gegen die Republikfeinde aufzutreten.
Martyrium bis zum Tode
Bereits nach dem Verbot der sozialdemokratischen Tageszeitung „Freie Presse“ im Februar ist ein offensives Auftreten von Sozialdemokratie und Gewerkschaften im Stadtbild unmöglich. Wann immer Haas und Genossen eine Kundgebung organisieren, wann immer sie auch nur Plakate an Mauerwände kleistern wollen, wird dies polizeilich untersagt und unter Strafe gestellt.
Am 11. März 1933 folgt ein tragischer Tiefpunkt der Osnabrücker Gewerkschaftsgeschichte, der auch Haas tief erschüttert. SA und SS stürmen das Gewerkschaftshaus am Kollegienwall, schlagen Mitarbeitende zusammen, demolieren die Büros und schmeißen Akten wie Möbel aus dem Fenster. Der Wimpel „Volksgericht“, den die Braunen an der Fassade befestigen, gilt auch dem „Bonzen“ Gustav Haas.
Das Urteil auf Haft und Misshandlung des verhassten Gegners ist bei den Nazis längst gefällt. Dass es mutigen Sozialdemokraten kurz darauf ein letztes Mal gelingt, in das Haus zu gelangen, die gehisste Nazi-Fahne zu zerfetzen und in der Hase zu versenken, bildet einen letzten kleinen Triumph der Antifaschisten. Kurz darauf ist das Gebäude, polizeilich unterstützt, wieder in Nazi-Hand. Für Haas und seine Kolleginnen wie Kollegen gibt es keinen Arbeitsplatz mehr.
Die Reichstags-, Landtags- und Kommunalwahlen im März bilden nur noch einen formalen Urnengang. Der Nazi-Triumph, im engen Schulterschluss mit der Deutschnationalen Volkspartei und weiteren Konservativen, ist nicht mehr abzuwenden. Dem Ermächtigungsgesetz im Berliner Reichstag, der ohne bereits illegale kommunistische Abgeordnete tagt, stemmt sich am 24. März nur noch die mutige sozialdemokratische Fraktion entgegen. Alle anderen, Konservative, christliche Demokraten und Liberale, stimmen mit den Nazis. Auch im Osnabrücker Rat ist die Sozialdemokratie, Wortführerin ist mittlerweile Alwine Wellmann, die gegen die Nazis für ihre Partei noch einmal eine letzte mutige Rede hält, auf sich allein gestellt.
Am 2. Mai 1933 wird Gustav Haas, schon vorher mehrfach verhaftet und misshandelt, mit zahlreichen Genossinnen und Genossen im Inneren des Gewerkschaftshauses am Kollegienwall zusammengetrieben. Es ist der Tag nach jenem „Nationalen Tag der Arbeit“, mit dessen Symbolkraft die Nazis um die Sympathie der Arbeiterschaft buhlen. Mit einem Schmähschild um den Hals werden am Tage darauf Haas wie die anderen Verhafteten durch die Stadt getrieben und geprügelt. Es folgt die, beschönigend so bezeichnete, tagelange „Schutzhaft“ im Polizeigefängnis an der Turnerstraße. Infolge des Verbots der Freien Gewerkschaften verliert Haas naturgemäß sein Gehalt als Gewerkschaftssekretär von einem Tag auf den anderen. Das Familieneinkommen ist auf null gesetzt.
Dauerverhöre und weitere Verhaftungen folgen. Die Gesundheit von Gustav Haas, der zuvor für Außenstehende immer ein echter „Kerl“ gewesen war, leidet immens. Sein Asthma-Leiden verstärkt sich täglich. Nicht nur politisch fehlt die Luft zum Atmen. Es fällt ihm zunehmend schwer, gemeinsam mit Sohn Walter und der Ehefrau das Familieneinkommen durch Seifenverkauf zu sichern.
Verbittert muss Gustav Haas am 20. Juli 1933 in der Osnabrücker Tagespresse lesen, dass es sein geliebtes Gewerkschaftshaus am Kollegienwall endgültig nicht mehr gibt. Nicht nur in seinem Büro, auch in der Gaststätte des Hauses hatte er eine solidarische Zeit innerhalb der ähnlich gesinnten Belegschaft erlebt. Von nun an, so der Zeitungsbericht, ist die Baulichkeit kein Gewerkschaftshaus mehr, sondern das „Haus der Deutschen Arbeitsfront“ (DAF). Monumentale Bemalungen an der Außenfassade verfremden jede Tradition des Gebäudes. Zur DAF zählen Beschäftigte wie Arbeitgeber, die fortan als „Betriebsführer“ agieren, denen blind gefolt werden muss. Gewerkschaftlich erkämpfte Rechte wie das, Betriebsräte zu wählen, Tarifabschlüsse auszuhandeln oder zu streiken, sind abgeschafft. Das neu gestaltete DAF-Haus ist, nicht nur für Gustav Haas, ein Hohn auf die jahrzehntelangen gewerkschaftlichen Traditionen.
Weg mit dem geliebten Zwirbelbart
Auch äußerlich beginnt Gustav Haas sich in der Folgezeit zu ändern. Sorgsam hatte er stets, bereits seit Jahrzehnten, als ganz persönliche Vorliebe und mit viel Stolz, seinen Zwirbelbart gepflegt und ihm vor dem Spiegel immer wieder den richtigen Schliff verpasst. Jeden Tag hat er ihn, diese Leidenschaft gönnte er sich auch, wenn er es eilig hatte, mit Bartwichse in Form gebracht. Um den optischen Eindruck eines gepflegten Gesichtsschmucks zu wahren, hat Haas noch zusätzlich aus einer besonderen „Barttasse“ zu trinken gepflegt, die verhinderte, dass Tee oder Kaffee Bartwichse und Bart in Unordnung gebracht hätten. Unterhalb der Stelle, wo beim Trinken der Mund gewöhnlich angesetzt wird, besitzt die Barttasse von Haas deshalb immer einen horizontalen Steg, der den Bart und das Wachs, vor der Benetzung durch das Getränk bzw. dem Aufweichen durch heißen Dampf schützen soll. Das Motto des Bartschutzes prangt an der Tasse in illustren Lettern: „Beim Trinken soll die Tasse nützen, den flotten Schnurbart Dir zu schützen.“
Ständige Verhaftungen und Misshandlungen lassen Gustav Haas irgendwann keine Chance mehr, seinen geliebten Bart weiter so zu pflegen, wie er es liebgewonnen hatte. Der Zwirbelbart wird, ein wenig makaber, zu einer Art Symbol restlos verlorener Lebensfreude und wird vor dem Spiegel abrasiert. Die geliebte Barttasse wandert fortan in einen Schrank. Haas kann zu diesem Zeitpunkt nicht erahnen, dass seine Familie die besagte Barttasse bis heute in Ehren halten wird. Sie bleibt eine sowohl liebevolle wie Trauer weckende Erinnerung.
Tod wird zur Manifestation
Gustav Haas verliert den Kampf um seine angegriffene Gesundheit. Er stirbt im Alter von nur 47 Jahren am 13. Oktober 1933 im Osnabrücker Stadtkrankenhaus. Der Wohnort der Familie ist zu jenem Zeitpunkt in der Brinkstraße 74. Sohn Walter, später jahrzehntelang bis 1986 SPD-Fraktionsvorsitzender im Osnabrücker Stadtrat und langjährig Landtags-Vizepräsident, muss sich allein umso mehr darum bemühen, ihm und der Mutter durch Seifenverkauf das Überleben zu sichern.
Ausgerechnet der Beerdigungszug von mehreren Tausend Trauernden, der sich am Ende von der Johanniskirche bis zum Johannisfriedhof erstreckt, entwickelt sich unter den Augen erboster Nationalsozialisten zu einer letzten imposanten Wertschätzung des langjährigen Arbeitervertreters. Für die Osnabrücker Stadtgeschichte hat die stille Demonstration in der Tat eine besondere Bedeutung:
„Der Trauerzug, der sich von den städtischen Krankenanstalten bis zum Johannisfriedhof bewegte und an dem Tausende aufrechter Frauen und Männer teilnahmen, war die letzte große Demonstration freiheitlicher Demokraten“, berichtete viele Jahrzehnte später Sohn Walter Haas, als er sich an dieses Ereignis erinnert und dies später in einer SPD-Sonderzeitung zum 50. Jahrestag der „Machtergreifung“ niederschrieb.
Der still beschrittene Weg endet am Johannisfriedhof. Fritz Szalinski, in demokratischen Zeiten Stellvertreter von Gustav Haas als zweiter Bevollmächtigter des Deutschen Metallarbeiterverbandes im Gewerkschaftshaus am Kollegienwall, hält eine vielbeachtete Grabrede. Ein letztes Mal spricht er öffentlich, hier zu Ehren seines Freundes, Kollegen und Genossen. Szalinski wird rund zwölf Jahre später selbst den Tod im Konzentrationslager Neuengamme finden – offiziell an „Herzinsuffizienz“. Dass sein Sohn Fritz später ein bekannter Bildhauer wird, darf er nicht mehr erleben.
Am Standort des im Krieg zerstörten Gewerkschaftshauses am Kollegienwall ist Gustav Haas seit dem 26. Juni 2008 einer von fünf Stolpersteinen gewidmet. Alle erinnern an jene fünf von den Nazis im KZ ermordeten Gewerkschafter und Sozialdemokraten die einmal in diesem Haus gewirkt haben oder hier zumindest ein- und ausgingen: Wilhelm Mentrup, Fritz Szalinski, Gustav Haas, Heinrich Groos und Heinrich Niedergesäß. Allein ihre Namen bilden eine dauerhafte Verpflichtung, niemals wieder den Schrecken einer faschistischen Diktatur zuzulassen.
Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei
Folge 1: Walter Bubert
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