Freitag, 29. März 2024

Judith Kessler erinnert an die „Polenaktion“ vom 25. und 26. Oktober 1938

Am 25. und 26. Oktober 1938 lässt das NS-Regime in einer Nacht- und Nebelaktion im gesamten Deutschen Reich rund 17.000 Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaften und gewaltsam in das Niemandsland im polnischen Grenzgebiet abschieben.

„Es gab ein Klopfen an der Tür. Keine Vorwarnung … sie holten uns aus dem Bett. … uns wurden ungefähr 20 Minuten zugestanden, um einen kleinen Koffer zu packen.“ (Max Engelhard, 16 Jahre, Berlin)

„Dieser Moment verfolgt mich bis zum heutigen Tage. An diesem Tag verloren wir alles was wir gehabt haben, unser altes Leben, unser Heim und unsere Familie.“ (Siegfried Jaffé, 15 Jahre, Berlin)

Einige Leipziger haben mehr Glück. der weitsichtige und couragierte polnische Generalkonsul Feliks Chiczewski hatte schon vor der Verhaftungswelle seinem Botschafter in Berlin berichtet, dass sich die Lage zuspitze und er befürchte, dass der Krieg der Nationalsozialisten gegen die Juden mit deren „völligen Vernichtung enden“ würde. Am 28. Oktober warnt er die Leipziger Juden (dort hatte jedes dritte Gemeindemitglied polnische Staatsbürgerschaft) und öffnet ihnen die Tore zum Konsulat. Insgesamt etwa 1.300 Personen finden Zuflucht in der Villa und im Garten. sie können am Tag darauf unbehelligt nach Hause zurück und die meisten noch vor den November-Pogromen ins Ausland zu fliehen.

Die anderen landen vor allem in der kleinen Stadt Bentschen (Zbąszyń) hinter der Grenze. Dort ist man völlig überfordert und die Bedingungen sind anfangs katastrophal: „Wir waren wie Tiere, möcht‘ ich sagen. Wie Vieh. So ausgehungert, dass wir uns selbst, obwohl wir alle das gleiche Schicksal hatten, um essen fast geschlagen hätten.“ (Der ehemalige Berliner Kinderstar Gerhard Klein aus „Emil und die Detektive“ und „Dann schon lieber Lebertran“, 18 Jahre)

Allmählich entsteht ein Auffanglager mit Notunterkünften. Die Bewohner von Zbąszyń kochen Suppe und helfen mit Decken und Möbeln. Der Burgermeister lässt die Preise von Betten und Strohsäcken einfrieren und Vertreter jüdischer Hilfsorganisationen reisen an. Unter den freiwilligen Helfern ist auch Emanuel Ringelblume, der spätere Chronist des Warschauer Gettos. Er koordiniert die Verteilung von Gütern des jüdischen Amerika Joint Distribution Committee. Im Dezember schreibt er an einen Freund: „Innerhalb weniger Wochen haben wir eine ganze Stadt für die Fluchtlinie errichtet“ – samt Krankenhaus, Tischlerwerkstatt, Schneider, Schuster, Post, Bauchläden, Büros für juristische Beihilfe, soziale Fragen und Migration, Reinigungsdienst und Sanitätsstation …

Zehn Monate sitzen die Ausgewiesenen hier fest. Einige dürfen zurück, um ihre weitere Migration von Deutschland aus zu betreiben oder sie können zu Verwandten ins Landesinnere weiterreisen, die meisten aber werden nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 1. September 39 in Gettos gepfercht (wie der spätere Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki oder wie Ruth Galinski, die Frau des langjährigen Berliner Gemeindevorsitzenden, die in Dresden geboren wurde und kein Wort Polnisch sprach). Ein Großteil der 17.000 Menschen wird später ermordet – so wie die 22-jährige Ester Grynszpan aus Hannover, deren kleiner Bruder Herschel in Paris lebt und aus Protest gegen die Abschiebung seiner Familie am 7. November 1938 ein Attentat auf den Sekretär der deutschen Botschaft verübt, was den Nazis dann wiederum den Vorwand für die November-Pogrome liefert …

 

Judith Kessler
Judith Kessler
Judith Kessler ist Sozialwissenschaftlerin, Redakteurin und Autorin mit den Schwerpunkten jüdische Migration, Gegenwartskultur und Biografieforschung.
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