Rolf Wortmanns Antwort auf Klaus Langs Kritik (mit Links zu den vorherigen Diskussionsbeiträgen)

Ist der Ukrainekrieg ein Krieg um die Menschenrechte? 

Klaus Lang hat den Krieg in der Ukraine als einen Krieg um Werte, konkret um die Menschenrechte charakterisiert. Auf diesen Kern in seiner Replik möchte ich mich hier in konzentrieren. Andere Punkte, wo wir mehr oder weniger weit auseinanderliegen, sollen hier der Kürze und Eile wegen übergangen oder zurückgestellt werden. Inwieweit sein Appell für mehr Mut und Selbstvertrauen in die westlichen Positionen und Werte statt ihrer „Verzwergung“ gerade angesichts der jüngsten Ereignisse in Washington sowie wichtigen Teilen Ost- und Mitteleuropas berechtigt ist oder einem Pfeifen im Walde nahekommt, sei vorerst dem Empfinden des Lesepublikums anheimgestellt.

Mit einer anderen Begründung könnte ich Klaus Langs zur Diskussion stehenden These partiell zustimmen, und zwar insofern die Ukraine den Krieg auch um ihr Recht auf einen Beitritt zur EU und Nato führt. Mit der angestrebten Mitgliedschaft in diesen Organisationen wird sie zur Achtung und Gewährung der Menschenrechte verpflichtet. Ein erfolgreicher Krieg würde somit die Menschenrechte in der Ukraine sichern. Gegenwärtig genießt die Ukraine nicht den Ruf, das im eigenen Land realisiert zu haben, wofür sie angeblich kämpft. Das ist bekanntlich auch ein zentraler Grund, warum ihre Chancen für eine baldige EU-Mitgliedschaft kontrovers eingeschätzt werden.

Klaus Lang führt als Begründung oder Beleg für die Charakterisierung des Krieges „als für oder gegen Menschenrechte“ Putins Verbot der international hochgeschätzten russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ vom 28. Dezember 2021 an. Damit, so Lang, stelle Putin „die richtige Verknüpfung einer gegen Menschenrechte gerichteten Repression nach innen und militärischer Aggression nach außen her“. Diesen Zusammenhang vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen. Das Verbot von „Memorial“ zeigt in erster Linie, dass Putin an einer kritischen Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus nicht interessiert ist, weil sie seiner großrussisch-imperialen Geschichtserzählung nicht dienlich ist. Die von Lang vorgetragene These, dass damit der „Krieg Russlands gegen die Ukraine begonnen“ habe, muss ein Versehen sein, denn sie widerspricht komplett der ukrainischen Darstellung, wonach sich die Ukraine bereits seit der Krimannexion 2014 faktisch im Krieg mit Russland befindet. Und was Putin von Menschen- und Bürgerrechten hält, weiß man spätestens seit seiner Reaktion auf die Orangene Revolution 2004 in der Ukraine und den zahlreichen Verfolgungen und Kriminalisierungen seiner Gegner im eigenen Land.

Ob aber selbst mit einer anderen Begründung der Krieg insgesamt als einer um die Menschenrechte charakterisiert werden kann, ist zu bezweifeln. Man würde ihm damit in seiner weltpolitischen Bedeutung nicht gerecht und die erschließt sich erst, wenn er in einen globalen Krisenrahmen eingebettet wird, der sich nicht auf die Geltung der Menschenrechte reduzieren lässt.

Aus einer europäischen Sicht ist Putins Angriffskrieg die „Zeitenwende“, weil damit die scheinbar friedliche Nach-Nachkriegsordnung seit 1991 zerbrochen wurde. Das führt zu einer Reaktivierung des überwunden geglaubten Systems der Abschreckung mit erneutem Ost-West-Konflikt. Hier gilt es, der Präzision wegen, einzuschieben, dass der Krieg keineswegs mit Putins Einmarsch in die Ukraine nach Europa zurückkam, wie es häufig heißt. Der Krieg kam in Gestalt des Jugoslawienkrieges genau mit dem Ende des Kalten Krieges nach Europa zurück. Er unterschied sich aber von der heutigen Konfliktsituation dadurch, dass das daniederliegende Russland sich weitestgehend aus dem „Bürgerkrieg“, der dann zum Staatenkrieg wurde, heraushielt und insofern die „Großmächte“ nicht in ihn involviert waren.

Aus globaler Perspektive leben wir aber ohne ein vergleichbar markantes Ereignis wie Putins Überfall auf die Ukraine schon länger in einer „Zeitenwende“. Die von den USA als globale Hegemonialmacht gestützte Ordnung eines liberalen, regelbasierten Internationalismus gerät zunehmend ins Wanken, Wir leben weltpolitisch in einer hochriskanten Phase eines Übergangs, wo zwar das Alte nicht mehr trägt, aber das Neue, eine andere Ordnung sich noch nicht etabliert hat, sondern um eine solche extrem konfliktträchtig gerungen wird.

Hier tauchen nun etliche Fragen auf, die sich zunächst auf die Herauskristallisierung aufsteigender Mächte und ihrer strategischen Ziele beziehen. Im Focus der Betrachtungen steht da vor allem China. Noch ist unklar, wie und in welcher Form China seinen ökonomischen Machtzuwachs in politische Weltführungsansprüche ummünzt. Unbestritten ist aber, dass China der entscheidende Herausforderer und Konkurrent für die Weltsupermacht USA ist und von ihr auch als solcher gesehen wird.

Die immer häufiger gezogene historische Parallele zum Aufstieg des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg als Herausforderer der Weltmacht Großbritannien hinkt deshalb, weil das britische Empire sich damals gleich mit zwei Konkurrenten konfrontiert sah. Neben der europäischen Kontinentalmacht Deutschland, die als Industriemacht schon an den Briten vorbeizog, drohte als noch größere Herausforderung die aufsteigende Industrie- und Handelsmacht USA, die sich zusätzlich als potenzielle Seemacht anschickte, die Briten auf ihrem ureigensten Machtfeld zu beerben.

Die USA befindet sich heute in einer anderen Situation, weil der eigentliche Konkurrent und Herausforderer auch in ihrer eigenen Wahrnehmung allein China ist. Russland ist als Militär-, genauer als Atommacht und potenziell dauerhafter Verbündeter Chinas zwar eine partielle Verstärkung des Konkurrenten China, in allen anderen machtpolitisch relevanten Politikfeldern aber eine zu vernachlässigende Größe.

Dennoch ist für die Entwicklung einer Neuen Weltordnung von erheblicher Relevanz, welche Rolle in diesem „Spiel“ weitere Akteure wie Indien, Brasilien und Südafrika und neuformierte Gruppen von Staaten des „Globalen Südens“ anstreben. Deren Bedeutung steigt mit der hohen Wahrscheinlichkeit, dass eine künftige Weltordnung nicht die Gestalt annehmen wird, dass China die „Nachfolge“ der USA als Welthegemonialmacht antritt. Aus Mangel an Befähigung ist davon auszugehen, dass China in realistischer Einschätzung seiner Kapazitäten dergleichen auch nicht anstrebt.

Wahrscheinlich wird eine künftige Weltordnung eher eine „multipolare“ Struktur mit mehreren ungleichen Machtzentren annehmen. Für uns Europäer stellen sich in diesem Übergangsprozess etliche weitreichende Fragen von existenzieller Bedeutung. Wir brauchen Antworten darauf, was aus dem „Westen“ wird? Hält die transatlantische Werte- und Interessengemeinschaft, die dank Putins Angriffskrieg ihre Wiederauferstehung feiern kann oder zerfällt sie durch einen nachhaltigen Umbruch in den USA? Sind unabhängig von der inneren Entwicklung der USA die Interessen – und auch die Werte – beiderseits des Atlantiks noch gleich oder überwiegen die Differenzen? Eint der neue Gegner China die Allianz oder entzweit er sie? Was wird in welcher Konstellation aus Europa? Und all diese Fragen sind mehr denn je verknüpft mit tiefgreifenden ökonomischen Problemen und Umbrüchen. Die Krise oder gar das definitive Ende der amerikanischen Weltordnung korrespondiert mit einer kongenialen Krise der Globalisierung.

Die bislang als gescheitert gewerteten Vermittlungsversuche verschiedener Akteure „jenseits des Westens“ zur „Lösung des Ukraine-Konfliktes“ wie z. B. die Konferenz von Dschidda am 5. und 6. August dieses Jahres oder die Initiative afrikanischer Staaten zur Lösung des „Ukraine-Konfliktes“ sind dennoch deutliche Anzeichen, dass zunehmend auch andere Akteure zur globalen Konfliktbewältigung relevant werden und sich zu Wort melden. Die Beendigung des Krieges in und um die Ukraine ist keine rein europäische Angelegenheit oder des Westens mehr, sie wird mehr und mehr zu einem Objekt einer sich herausbildenden neuen Machtverteilung in der Welt mit unterschiedlichen Interessen, Werten und mehr oder weniger konkreten Weltordnungsvorstellungen.

Die dazu bekannteste Vorstellung ist die Putins, der von einer Aufteilung der Welt in Regionen träumt, die jeweils von Regionalmächten kontrolliert werden. Eine davon ist das wiederaufzubauende Großrussland, dessen Vorbild nicht die Sowjetunion, sondern das alte Zarenreich ist. Bislang erfreut sich dieses Ungeheuer glücklicherweise nur sehr überschaubarer Zustimmung im Rest der Welt.

Kurzum: Der Ukrainekrieg ist nur als Teil eines Kampfes, um eine Neuordnung der Welt zu begreifen und zu lösen. Bei einer weiteren notwendigen Vertiefung der sich daraus ergebenden Probleme und Fragen kommt erschwerend hinzu, dass uns die Expertise der für solche Fragen zuständigen Wissenschaft der Internationalen Politik bzw. Beziehungen momentan nur begrenzt helfen kann. Wie der Politikwissenschaftler und Entwicklungstheoretiker Ulrich Menzel in seinem gerade erschienen Buch Wendepunkte feststellt, ergeht es mit dem Ukrainekrieg den vielfältigen wissenschaftlichen Schulen und theoretischen Ansätzen des Bereichs der Internationalen Politik wie maßgebenden ökonomischen Theorien mit der Finanzkrise im Jahre 2008: sie werden von der Realität falsifiziert und leben nun als mehr oder weniger schlechte Utopien weiter.

Das sollte aber kein Grund zur Kapitulation vor den Herausforderungen einer hochkomplexen Realität sein, sondern im Gegenteil ein Ansporn zu intensiven Diskussionen. Vielleicht wäre es schon hilfreich, wenn dabei mehr in die rationale Analyse der realen Prozesse investiert würde als in die moralische Sinngebung des Schrecklichen.

 




Hier geht es zu den vier vorangegangenen Artikeln:

Wortmann: Die Sackgassen des Ukrainekrieges und der Wandel der Prioritäten in den USA – 29.08.23

Lang: Wege aus den „Sackgassen des Ukrainekrieges“ – 18.09.23 

Wortmann;: Zum Streit um den Krieg in der Ukraine – eine Replik auf Klaus Langs Beitrag „Wege aus den Sackgassen des Ukrainekriegs“ – 25.09.23

Lang: Rolf Wortmann hat auf meinen Beitrag geantwortet. Ich will mich auf einige mir wesentliche Punkte konzentrieren .… – 02.10.23

 

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