OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 8: Ruth Gottschalk-Stern

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (dort finden sich auch Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Nazi-Terror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben. Links zu bislang erschienenen Folgen am Ende des Textes.

 

Ruth Gottschalk-Stern
Eine mutige junge Frau holt ihren Mann aus dem KZ

Ruth Stern, verwitwete Gottschalk, wurde als Ruth Vohs 1915 im oldenburgischen Rüstringen geboren, dass ab 1937 mit Wilhelmshaven eine Stadt bildete. Sie lebte von 1935 bis 1938 drei Jahre in Osnabrück, der Geburtsstadt ihrer Mutter Henny Vohs, geborene Hess, und erlebte hier die Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger im Nationalsozialismus mit. Ihr Großvater war der langjährige Vorsteher der Synagogengemeinde, Jonas Hess. Zusammen mit seinem Bruder Hermann betrieb der 1852 geborene Papenburger am Bahnhof in Lüstringen eine „Lumpensortieranstalt“ und eine Handlung für Rohprodukten und Metalle. Mit ihren drei Schwestern verbrachte Ruth Vohs gerne ihre Ferien bei den Großeltern in Osnabrück: „Kamp 16 bei Oma und Opa Hess ist eine herrliche Erinnerung“, berichtete sie 1984 bei einem Besuch auf Einladung der Stadt Osnabrück.

Oma und Opa Ida und Jonas Hess, Kamp 16 (Archiv Martina Sellmeyer)Oma und Opa Ida und Jonas Hess, Kamp 16 (Archiv Martina Sellmeyer)

Die Verfolgung durch die Nationalsozialisten zerstreute die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in alle Welt und führte auch junge Menschen in Länder, die sie bis dahin höchstens aus dem Schulatlas kannten. Ruth wollte eigentlich das dem von ihr besuchten Rüstringer Lyzeum Fräulein Marien Schule angeschlossene Kindergartenseminar besuchen. Weil sie jüdisch war, wurde sie dort 1933 aber nicht mehr aufgenommen, musste von der Schule abgehen und konnte den Beruf als anerkannte Kindergärtnerin nicht erlernen. Als Jüdin in Deutschland ohne Ausbildungschancen, nahm sie Anfang 1934 eine Stelle als Kindermädchen in Oran/Nordafrika an. Im Dezember 1934 kehrte sie nach Rüstringen zurück.

Aufgrund der Nürnberger Gesetze war es Juden nicht mehr erlaubt, weibliche Hausangestellte unter 45 Jahren zu beschäftigen. Damals waren z.b. im Völkischen Beobachter fast täglich Berichte über angebliche Schändungen von Frauen und Mädchen durch Juden zu lesen. Hintergrund war die Rassentheorie, wonach die Juden die „arische Rasse“ durch „Rassenmischung“ absichtlich schwächen wollten. Ihnen wurde unterstellt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit über „arische“ Frauen herzufallen – selbst noch dem achtzigjährigen Jonas Hess. Ruth Stern berichtete, dass er deshalb seine Haushälterin entlassen musste: „Opa schrieb an die Behörde, dass er schon über 80 Jahre alt sei. Leider nahm man darauf keine Rücksicht. So nahmen sie eine ältere Putzfrau.“

Auch der Antrag des 67jährigen Osnabrücker Viehhändlers Moses Gottschalk, aufgrund des schlechten Gesundheitszustands seiner Ehefrau eine Waschfrau anstellen zu dürfen, wurde am 22. Oktober 1936 abgelehnt, obwohl er darauf hingewiesen hatte, dass es sich nicht um eine Hausangestellte handelte, sondern „dass die Waschküche getrennt vom Hause im Garten liegt und mit unserer Wohnung gar nicht in Berührung kommt“. Doch der Oberbürgermeister stellte zwar fest, dass „gegen die Familie des Antragstellers in sittlicher Hinsicht nicht Nachteiliges bekannt geworden ist“, zeigte aber deutlich, wie sehr er in der nationalsozialistischen Rassentheorie verwurzelt war, als er er schrieb, er habe dennoch Bedenken, „da sämtliche 3 Söhne unverheiratet sind, mit den Eltern in Hausgemeinschaft leben und sich auch tagsüber im Hause aufhalten“.

Um ihre Großeltern zu unterstützen, zog die zwanzigjährige Ruth Stern (damals Vohs) 1935 zu ihnen nach Osnabrück, ging ihrer Oma Ida Hess zur Hand und lernte kochen, backen und andere Dinge im Haushalt. In Osnabrück lernte die junge Frau Albert Rose, ein Mitglied der Osnabrücker Synagogengemeinde kennen und ging mit aus. Durch die Arisierung der Firma Cantor in Eversburg verlor der Kaufmann seine Arbeit und floh 1936 in die Niederlande, wo er in einem durch die dortige Widerstandsbewegung vermittelten Versteck den Holocaust überlebte. Vor seiner Flucht hatte er Ruth Vohs seinen Freund Max Gottschalk vorgestellt, den jüngsten der drei Söhne des Osnabrücker Viehhändlers Moses Gottschalk und seiner Frau Friedrike. Die Söhne Emil, Siegfried und Max arbeiten im Geschäft an der Bramscher Straße mit. Ruth und Max wurden ein Paar.

Ruth und Max Gottschalk bei ihrer Verlobung 1938 (Archiv Martina Sellmeyer)

Weil sie jüdisch waren, konnten die jungen Leute nicht wie andere Paare einfach zusammen ausgehen, denn in Osnabrück gab es schon viele Lokale, die ein Schild „Juden unerwünscht!“ zeigten. Die jungen Leute resignierten nicht, sondern fuhren sonntags mit dem Zug nach Bremen oder Münster zum Tanzen, denn dort gab es nach der Erinnerung von Ruth Stern noch keine solchen Schilder, zudem kannte man sie dort nicht: „Wenn man jung ist, macht das gar nichts aus!“ Sie fuhren auch nach Enschede in den Niederlanden zu Verwandten, mit denen sie die jüdischen Festtage feierten und auch mal ein Wochenende verbringen konnten. Abgesehen davon konnten sie sich in Osnabrück mit anderen jungen Leuten nur im privaten Rahmen oder in der Synagoge treffen, wo sie Tischtennis spielten. Als Ida Hess im März 1938 starb, zog der Großvater in die Niederlande zu seinen Töchtern, die seit 1918 in Leeuwarden lebten und mit niederländischen Männern verheiratet waren. Dort starb er 1940, und musste so die Deportation der Familien nicht mehr miterleben.

Ruth und Max Gottschalk mit Freunden im Clubraum der Synaoge (Archiv Martina Sellmeyer)

Ruth Vohs konnte nicht zu ihren Eltern zurückziehen, die inzwischen aus Wilhelmshaven ausgewiesen worden waren, weil sie Juden waren und nach Hamburg hatten umziehen müssen. Ihr war es nicht erlaubt, zu ihnen zu ziehen. So lebte sie zunächst bei der Osnabrücker Familie von Aron van Pels, einem Onkel ihrer Mutter. Da es in Deutschland keinerlei Zukunftsaussichten für sie gab, beschloss die junge Frau, in die USA auszuwandern. „Ich wollte aber nicht ohne Max fort“, berichtete sie. „So heirateten wir 1938 und lebten bei meinen Schwiegereltern in der Bramscher Straße in Osnabrück.“

Heirat in Hamburg 1938 (Archiv Martina Sellmeyer)

Ein weiterer Onkel der Mutter, der in den USA lebte, besorgte ihnen Einwanderungspapiere und stellte ihnen die dafür notwendige Bürgschaft, ein sogenanntes Affidavit, aus. Dieser Onkel verdient es ebenfalls, im Rahmen dieser Serie über Widerstand hervorgehoben zu werden, obwohl er bereits lange vor der Machtübergabe an Hitler aus Deutschland ausgewandert war. Es dürfte sich um den ca. 1874 geborenen Ferdinand Vorsanger handeln, der von Quakenbrück in die USA ausgewandert war. Die Abmeldung in den Osnabrücker Meldebüchern lautet nach „Engelwuth“. Tatsächlich handelt es sich um den Ort Englewood in New Jersey. Vorsanger wurde nach seiner Emigration Gründer des Englewood Market und Mitbegründer der Synagoge Temple Emanuel. Der beruflich erfolgreiche jüdische Emigrant spendete in der Inflationszeit aus seiner amerikanischen Heimat erhebliche Geldbeträge für die Menschen in Quakenbrück und Osnabrück. Sein soziales Engagement, aber auch seine Heimatverbundenheit wird in einem Schreiben deutlich. „Wie ich wohl Weiß ist die Not in Deutschland groß“, schrieb der ehemalige Quakenbrücker den dortigen Bürgermeister. Er spendete 1922 einen Betrag von 200.000 Mark an die Stadt Quakenbrück und im Februar 1923 noch einmal eine Million Mark an den Magistrat der Stadt Osnabrück mit der Bitte, die Gelder u.a. an die beiden Krankenhäuser der Stadt Osnabrück, Lehrerinnen und Lehrer und „die Armen Quakenbrücks“ zu verteilen. „Als geborener Quakenbrücker“ freue es ihn wirklich, dass er in der Lage sei, „mitzuhelfen in diesen schweren Tagen“ etwas für diejenigen zu tun, die ihm als Junge geholfen hätten. Fred Vorsanger,  wie er sich in den USA nannte, starb 1946 als hochangesehener Vorsitzender der Handelskammer und der Merchant’s Association in Englewood.

Ruth und Max Gottschalk verdankten ihm die Chance, Nazi-Deutschland noch rechtzeitig zu verlassen zu können. Fred Vorsanger half nicht nur ihnen. Ruth Stern berichtete in einem Interview mit Steven Spielbergs Shoah Foundation, dass der wohlhabende Onkel es 120 jüdischen Menschen ermöglichte, sich in die USA zu retten. Am 7. November 1938 mussten Ruth und Max Gottschalk wegen ihrer Visa zum amerikanischen Konsulat in Hamburg fahren. Die Überfahrt in die USA von Vlissingen in den Niederlanden hatten sie für Dezember gebucht. Ruth wollte noch einige Tage bei ihren Eltern in Hamburg verbringen, Max bei seinen Eltern und Brüdern.

Am 9. November fuhr er zu ihnen nach Osnabrück. Er ahnte nicht, was ihn dort erwartete: Es war der Tag der Novemberpogrome. In der Nacht wurden in der Wohnung der Gottschalks in der Bramscher Straße die Fenster eingeworfen und die ganze Familie verhaftet. Man ließ Max Gottschalk keine Zeit, sich anzuziehen, sondern nahm ihn in Schlafanzug, Hausjacke und Pantoffeln mit. Auch die Wohnung von Ruths Eltern Henny und Josef Vohs in Hamburg wurde überfallen, ihr Vater aber, da er krank war, nicht mitgenommen. Sie rief in Osnabrück an, konnte aber nicht in Erfahrung bringen, was hier passiert war. In kluger Voraussicht ging sie am nächsten Tag zum amerikanischen Konsulat, um einen Nachweis über die bevorstehende Ausreise zu besorgen, das aber wegen des Feiertags geschlossen war. So konnte sie erst am Freitag die Papiere beschaffen. Am nächsten Tag, Samstag, dem 12. November fuhr sie nach Osnabrück. Vom Bahnhof aus ging sie zur Wohnung des Synagogenvorstehers Hermann Katzmann an der Möserstraße, wo sie eine Gruppe völlig aufgelöster, weinender Frauen antraf. Hermann Katzmann war wie alle jüdischen Männer verhaftet und in den Schlosskeller gebracht worden. Die Frauen berichteten ihr von der Pogromnacht in Osnabrück, den zertrümmerten Läden jüdischer Kaufleute und der in Brand gesetzten Synagoge.

Osnabrueck Synagoge 1900 Postkarte / rechts die ausgebrannte Synagoge am 10. November 1938 (Sammlung Karl Ordelheide)Osnabrueck Synagoge 1900 Postkarte / rechts die ausgebrannte Synagoge am 10. November 1938 (Sammlung Karl Ordelheide)
Plünderung der Firma Flatauer an der Möserstraße am 10. November 1938 (Nachlass Karl Ordelheide, NLA OS, Erw. A 45, Akz. 2009/15 Nr. 103)Plünderung der Firma Flatauer an der Möserstraße am 10. November 1938 (Nachlass Karl Ordelheide, NLA OS, Erw. A 45, Akz. 2009/15 Nr. 103)

Dann suchte sie ihre Schwiegereltern in der Bramscher Straße auf. Überall in der Stadt lagen die Wohnungen jüdischer Familien nach den nächtlichen Überfällen voller Scherben. Auch Ruth Gottschalks Schlafzimmer war noch voller Glas, im Esszimmer war die Vitrine umgeworfen und der Geldschrank ausgeräumt worden. Ihre Schwiegereltern waren nach einer Nacht im Keller der Gestapo im Schloss aufgrund ihres Alters wieder freigelassen worden und vermuteten ihre Söhne und die übrigen jüdischen Männer noch dort. Die Familien der in der Nacht des 9. November verhafteten jüdischen Männer wurden bewusst in Ungewissheit über das Schicksal der Ehemänner und Väter gelassen. Ruth Gottschalk ging zum Schloss, um sich nach dem Schicksal ihres Mannes zu erkundigen, wurde aber von der Gestapo abgewiesen, die offensichtlich Wert auf geregelte Bürozeiten legte und ihr sagte, sie solle am Montag wiederkommen. In der Zwischenzeit wurde am Sonntag nicht nur die Synagoge abgerissen, sondern auch die 91 verhafteten jüdischen Männer aus der Stadt und dem Regierungsbezirk in mehreren Gruppen mit Reisebussen in verschiedene Konzentrationslager abtransportiert.

Als sie am Montag zum Schloss zurückkehrte, war der letzte Bus nach Buchenwald vermutlich gerade abgefahren. Ihr Schwiegervater hatte so etwas wohl befürchtet und ihr für alle Fälle ein Auto mit Chauffeur bestellt. Ruth Gottschalk wurde von der Gestapo verhört. Sie konnte die Visa und Schiffskarten für die Ausreise vorlegen, doch die Gestapo wollte außerdem noch Nachweise des Finanzamtes und der Bank, die belegten, dass alle den Juden auferlegten Sonderabgaben und Steuern bezahlt waren. Ziel des NS-Regimes war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die systematische Ermordung, sondern die Auswanderung der jüdischen Deutschen zu erzwingen – unter Zurücklassung ihres gesamten Eigentums. Häftlinge, die Auswanderungspapiere vorlegen konnten, wurden aus dem KZ entlassen. Ruth Gottschalk besorgte alle geforderten Nachweise.  Man forderte sie auf, noch Geld zu bringen, dann würde man Max aus Buchenwald entlassen und mit der Bahn nach Osnabrück zurückschicken. Seine Frau mochte sich darauf nicht verlassen. Mit der Begründung, dass er im Schlafanzug verhaftet worden sei und so nicht mit dem Zug fahren könne, schlug sie vor, ihn mit dem Auto abzuholen, das bereits vor der Tür wartete. Die Gestapo lehnte das ab, doch einer der Beamten blinzelte ihr zu und sagte ihr, sie solle im Schlossgarten auf ihn warten. Zusammen mit einem Kollegen nannte er ihr dort eine hohe Geldsumme, gegen die sie bereit seien, Max Gottschalk mit dem Auto aus Buchenwald abzuholen. Allerdings wollten sie selber fahren – vermutlich, weil der Chauffeur ein lästiger Zeuge der Erpressung gewesen wäre. Die junge Frau willigte ein, sich mit ihnen um 19 Uhr an der Endstation der Straßenbahn an der Johannisstraße zu treffen.

Die Fahrt nach Buchenwald, allein mit zwei Gestapomännern, erforderte große Courage. Zudem war die junge Frau schwanger. Aber statt sich selber in Sicherheit zu bringen, blieb sie bei ihrem Entschluss: Sie wollte nicht ohne Max fort, und ihn so schnell wie möglich aus dem Konzentrationslager holen. Nach den öffentlichen Gewaltexzessen während der Novemberpogrome wusste Ruth Gottschalk, dass es um das Leben ihres Mannes ging, und auf jeden Tag ankam. Tatsächlich war an diesem 14. November bereits einer der aus Osnabrück deportierten Juden, der Holzhändler Leopold Simon aus Quakenbrück, in Buchenwald auf brutalste Weise zu Tode geprügelt worden. Der dort ebenfalls inhaftierte Siegfried Katzmann, der Sohn des Osnabrücker Synagogenvorstehers, beschrieb nach seiner Entlassung, dass „alle Augenblicke einer der SS-Leutnants [erschien], die ganz augenscheinlich unter dem Einfluss von Alkohol waren, gestikulierte mit seinem Revolver und suchte sich Opfer für Quälereien aller Arten.“

Ruth Gottschalk berichtete in einem Brief 1983, wie die riskante Rettungsaktion weiterging: Die Familie blieb stark, und tat pragmatisch, was zu tun war: „Ich packte unsere Koffer und meine Schwiegermutter machte belegte Brote. Mein Schwiegervater gab mir das gewünschte Geld, das ich mit einer Sicherheitsnadel an meinem Büstenhalter festmachte. Dann traf ich die beiden Männer. Sie trugen meine Koffer zum Auto und gaben mir sogar eine Decke. Die Fahrt ging gut, bis wir in die Berge kamen, das Auto wollte nicht. Wir hielten in einem Dorf und konnten nicht weiter. Ich ließ bei dem Autoverleiher Bücker in Osnabrück anrufen, er sollte mit einem schweren Wagen nachkommen. Währenddessen warteten wir bei netten Leuten in der Küche, bis der Ersatzwagen kam und wir nach Weimar weiterfahren konnten. Unter einer Straßenlampe verlangten die beiden Gestapoleute ihr Geld. Dann brachten sie mich in ein Hotel. ‚Juden nicht erwünscht‘ stand schon am Eingang. Sie brachten mich in ein Zimmer und nahmen Mantel, Hut und Schuhe meines Mannes mit. Dann fuhren sie nach Buchenwald.

Nach längerer Zeit brachten sie Max zu mir. Sie gaben ihm Zeit für ein Bad und fuhren uns dann zum Bahnhof. Dort kauften wir Fahrkarten nach Hamburg; das Auto wollten die beiden nach Osnabrück zurückbringen. Obwohl die Rückseite des Entlassungsscheines aus dem Konzentrationslager den Vermerk trug: ‚Sie haben sich sofort bei der Staatspolizeistelle Osnabrück zu melden‘, warnten uns unsere beiden bestochenen Helfer, nie wieder nach Osnabrück zu kommen.“

Entlassungsschein Buchenwald (Archiv Martina Sellmeyer)

Siegfried Katzmann hat ausführlich über die Misshandlungen und Morde in Buchenwald berichtet. Er erinnerte sich noch genau, wie nach einigen Tagen beim Appell Max Gottschalk aufgefordert wurde, nach vorne zu kommen und sah ihn durch das Tor verschwinden, das Freiheit bedeutete: „Wir wussten, dass er das amerikanische Visum in der Tasche hatte und eine Schiffskarte besaß, mit anderen Worten, er war reisefertig und wurde entlassen, um seine Auswanderung durchzuführen. Das gab uns allen einen Hoffnungsschimmer.“ Die meisten bei den Novemberpogromen verhafteten jüdischen Männer waren drei Monate lang in Buchenwald den massiven Misshandlungen ausgesetzt. Max Gottschalk verdankte dem Mut seiner Frau nicht nur die frühzeitige Entlassung, sondern möglicherweise auch sein Leben. Drei der von Osnabrück Deportierten überlebten die Misshandlungen in Buchenwald nicht.

Die Zeit bis zur Abfahrt der Red. Star Line in die USA verbrachte das Paar bei Ruths Eltern in Hamburg. Einige Male trafen sie sich mit den Eltern von Max, aber vorsichtshalber nicht in Osnabrück, sondern in Bremen. Seine Brüder Emil und Siegfried wurden erst nach vier Wochen aus Buchenwald entlassen. Ruth und Max Gottschalk fuhren Anfang Dezember nach Holland – und hielten in der Nacht doch noch einmal für einige Stunden in Osnabrück. Es war das letzte Mal, dass die Familie zusammen war. Auf der Red Star Line waren auch ihre Osnabrücker Freunde Egon Adler und Alfred Josephs, und Ruths Schwester Lore Vohs. Als die 23jährige Ruth mit ihrem Mann nach der vierzehntägigen Schiffsreise in den USA ankam, hatten sie „kein Geld, keine Sprache und keine Zukunft. Wir wussten nicht, was aus uns werden würde. Es war, kurz gesagt, beängstigend. Wir hatten nur uns, und das war’s.“ Ruth Stern berichtete, dass sie in der Schule zwar Englisch und Französisch gelernt hatte, aber dennoch nur einzelne englische Vokabeln kannte und keine vollständigen Sätze bilden konnte.

Moses Gottschalk konnte auch für seine anderen beiden Söhne noch Auswanderungspapiere  besorgen. Doch die Visa für Panama verfielen wegen des Gerangels der Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Gaertner um die Grundstücke des Viehhändlers, das die Auszahlung des Kaufpreises verzögerte, der zur Finanzierung der Auswanderung benötigt wurde. Siegfried Gottschalk gelang es zwei Jahre später in einem zweiten Anlauf, auf abenteuerlichen Wegen über Russland, die Mandschurei und Japan noch, in die USA zu emigrieren. Doch Frieda und Moses Gottschalk mussten miterleben, wie der älteste Sohn Emil und Schwiegertochter Erna 1941 noch in ihren Flitterwochen nach Riga deportiert wurden. Sie selber zogen aufgrund ihres Alters eine Auswanderung nicht mehr in Betracht. Sie wurden im Juli 1942 von Osnabrück nach Theresienstadt abtransportiert, wo sie beide umkamen.

Max Gottschalk gelang es nach einigen Jahren in den USA, sich in New Jersey wieder eine Existenz als Viehhändler aufzubauen. Zu ihrem Bedauern konnte Ruth Gottschalk nach ihrer Emigration aus Deutschland weiter nur als Hausgehilfin arbeiten, „da mir meine Ausbildung in Deutschland versagt worden war“. Bald nach der Flucht aus Deutschland wurde ihre Tochter Evalyn geboren. Sie heiratete 1958 Klaus Schaap, einen Juden aus Nordhorn, der den Holocaust untergetaucht im Versteck in den Niederlanden überlebte und 1954 in die USA auswanderte.

Ruth und Julius Stern in Osnabrück 1984. Links im Bild Evalyn Schaap (Archiv Martina Sellmeyer)

Nach dem Tod von Max Gottschalk 1970 heiratete Ruth Gottschalk noch einmal. Mit ihrem zweiten Ehemann Julius Stern, einem deutschen Emigranten, der aus Wetter bei Marburg stammte, und ihrer Tochter Evalyn besuchte sie auf Einladung der Stadt 1984 Osnabrück. Dabei erfuhr sie, dass mehrere Mitglieder der Gruppe, mit denen sie ihre Jugend in Osnabrück verbracht hatte, später deportiert und ermordet worden waren. Sie traf sich noch einmal mit Albert Rose, der nach der Rückkehr nach Osnabrück Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde geworden war, und besuchte Wilhelmshaven und die hessische Heimat ihres zweiten Ehemannes. Es war die letzte große Reise für die beiden. Eines ihrer drei Enkelkinder, Karen Schaap Gillett, engagiert sich aktuell als Zeitzeugin der Zweiten Generation beim Illinois Holocaust Museum & Education Center. Ruth Stern starb 2019 im Alter von 104 Jahren in Winnebago. „Wir werden diese schweren Zeiten von damals nie vergessen und vergeben, und nur die Leute, die all dieses mit durchgemacht haben, können es voll verstehen. Wir alle könnten von unseren traurigen Erlebnissen Bücher schreiben“, stellte sie in einem Brief an die Stadt Osnabrück 1983 fest. „Wir gehören zu den Wenigen, die ihr Leben retten konnten. 6 000 000 haben das nicht gekonnt.“


Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

Folge 1: Walter Bubert
Folge 2: Hans Bodensieck 
Folge 3: Emil Berckemeyer
Folge 4: Josef Burgdorf
Folge 5: Fritz Bringmann
Folge 6: Anna Daumeyer-Bitter
Folge 7: Erwin Förstner

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