OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 7: Erwin Förstner

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (dort finden sich auch Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Nazi-Terror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben. Links zu bislang erschienenen Folgen am Ende des Textes.

 

Erwin Förstner
Ein unbeirrbarer Sozialist
„Freundschaft“ auch in braunen Zeiten

Widerstand gegen nationalsozialistische Gewaltherrschaft: An ihr beteiligen sich nicht nur ehemalige Funktionsträger der Arbeiterbewegung, sondern in beachtlich hoher Zahl auch „einfache“ Genossinnen und Genossen. Zu ihnen zählt der aus Pforzheim nach Osnabrück gekommene Erwin Förstner, geboren am 18. Juli 1909, Regierungsangestellter, Maler, Sozialdemokrat und besonders geprägt von der sozialistischen Kinder- und Jugendarbeit.

 

Lehrjahre in Pforzheim

Förstners geografische Heimat, die ihn zeitlebens prägen wird, ist der Schwarzwald. Erste Station seines beruflichen Werdegangs ist nach der Schulentlassung im Jahre 1924 eine Goldschmiedelehre, die er 1928 erfolgreich abschließt. Das Lebensumfeld ist geprägt von Werkstätten der Goldschmiedekunst. Pforzheim gilt, bis zur fast restlosen Zerstörung der Stadt im Weltkrieg, als eine Art Goldschmiede-Hauptstadt.

Bereits in der Lehrzeit verfestigt sich Förstners künstlerische Ader. Er besucht deshalb die Pforzheimer Kunstgewerbeschule, wird Theatermaler und ist später in Pforzheim, Stuttgart und Waiblingen als freier Maler und Grafiker tätig.

 

Prägung in sozialistischer Gemeinschaft

Bereits als 12-jähriger stößt Erwin Förstner zur sozialistischen Bewegung und schließt sich den Pforzheimer Freien Turnern, einem Arbeitersportverein, an, der in gesunder und solidarisch erlebter Freizeitgestaltung, nicht in Militärdrill und Leistungswut, seine Identität sucht.

Schon 1924 wird Förstner in der sozialistischen Kinderfreunde- und Falkenbewegung aktiv und findet dort jene politischen Wurzeln, die ihn lebenslang prägen. Er betätigt sich in einer Vielzahl führender Funktionen in der sozialistischen Arbeiterjugend, gründet bis 1929 Falkengruppen in Pforzheim, Waiblingen, Korb und Fellbach.

1931 schließlich avanciert Förstner zum Unterbezirksleiter der Falken in Stuttgart. Bei nicht wenigen Ereignissen mit großem Publikum wird er zu einem vielgefragten Redner. Schon in jungen Jahren verbindet ihn mit dem späteren SPD-Bildungspolitiker Erhard Schneckenburger, zuweilen auch mit dem späteren SPD-Vorsitzenden und damaligen Vorsitzenden der SAJ auf Reichsebene, Erich Ollenhauer, eine enge Zusammenarbeit.

Erwin Förstner bleibt bis zum Ende der Weimarer Zeit ein Aktivposten der dortigen Sozialdemokratie. Er wirkt gleichermaßen in SPD, Gewerkschaft, Reichsbanner, Naturfreunden und dem heute fast vergessenen sozialistischen Naturheilverein.

Liebevoll fotografierte Fotos in reichhaltig bestückten Fotoalben, heute sorgsam aufbewahrt im Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick, zeugen nicht nur von der Fähigkeit, Alltags-, Reise- und Zeltlageraktivitäten junger Sozialistinnen und Sozialisten exakt ins Bild zu setzen. Noch mehr dokumentieren sie eine hohe Qualität der jeweiligen Motivauswahl.

Aus dem Fotoalbum Förstners: Momentaufnahme eines Zeltlagers von Roten Falken und Sozialistischer Arbeiterjugend, 1931. Foto: OR-ArchivAus dem Fotoalbum Förstners: Momentaufnahme eines Zeltlagers von Roten Falken und Sozialistischer Arbeiterjugend, 1931. Foto: OR-Archiv

 

Kontrast zu Drill und Kadavergehorsam

Betrachtende überkommt das unglaubliche Gefühl, jene vergangene Zeit per Bildbetrachtung ein Stückchen mitzuerleben. Die Lockerheit und Verspieltheit des Alltagslebens in der Arbeiterjugend bilden einen eindrucksvollen Kontrast zu jenen Bildern militärischen Drills und Kadavergehorsams, der üblicherweise aus dieser Zeit aus bürgerlichen, nationalistischen, erst recht nationalsozialistischen Kreisen überliefert wird.

Für Erwin Förstner bilden solche Lebenssituationen stets eine Einheit zwischen politischen Visionen und dem Alltag: Solidarität ist Lernziel und zugleich im Umgang miteinander erlebbar. Für seine hohe ethische Gesinnung spricht nicht zuletzt, dass er sich zu einem vegetarischen Leben entscheidet. Als Ausdruck eines erlebbaren Friedensgedankens und stets gesuchter Völkerfreundschaft paukt er die staatsübergreifende Sprache „Esperanto“, die Menschen der ganzen Welt miteinander verbinden soll.

 

Flucht in den Raum Osnabrück

1933, in jenem Jahre, in dem für zahllose Sozialistinnen und Sozialisten Todesgefahr, Haft oder Flucht angesagt sind, bemerkt Förster schnell die Verhaftungen, Misshandlungen und Verfolgungen Gleichgesinnter. So gelangt der Pforzheimer in den Raum Osnabrück. Zunächst verschlägt es ihn nach Dissen, später in die Hasestadt selbst. In jenen Umbruchszeiten, in denen die NS-Verfolgungsbehörden erst einmal sorgsam aufgebaut werden müssen und auch Polizei und Justiz noch nicht vollends gleichgeschaltet sind, wird er überraschenderweise nicht wie seine daheimgebliebenen Genossinnen und Genossen verfolgt.

Dass er ansonsten für Leib und Leben hätte fürchten müssen, das bezeugen ihm später zahlreiche Briefe, die ihm Genossinnen und Genossen schreiben und die voll von Erlebnissen der brutalen Verfolgung auch junger Sozialistinnen und Sozialisten durch die NS-Machthaber sind.

Politische Betätigung ist für Erwin Förstner fortan naturgemäß auch in Osnabrück unter Lebensgefahr verboten. Informelle Kontakte, die sich naturgemäß unter früheren Genossinnen und Genossen bilden, müssen zwingend geheim gehalten werden.

Er schlägt sich zunächst durch künstlerische Betätigung als Maler durchs Leben. 1937 gelingt es Förstner, beruflich erstmals in fester Position Fuß zu fassen. Als technischer Angestellter unterschreibt er einen Arbeitsvertrag bei der Osnabrücker Regierung, bei der er – unterbrochen durch Kriegsdienst zwischen 1943 und 1945 – bis 1958 bleiben wird.

 

Eine illegale „Freundschaft“

Gleichwohl ist es für den engagierten Sozialisten auch in der Nazizeit selbstverständlich, auf privater Ebene Kontakt zu Gleichgesinnten zu halten. Förstner wird zum Mitautor einer von jungen Sozialdemokraten herausgegebenen und per Eigendruck erstellten Zeitung, die analog zum Falkengruß den Namen „Freundschaft“ trägt und mit etwa einem halben Dutzend Nummern intern vertrieben wird.

Förstner als Redakteur: Illegale sozialistische Jugendzeitung "Freundschaft" - selbst produziert mitten im Weltkrieg. Collage: ORFörstner als Redakteur: Illegale sozialistische Jugendzeitung "Freundschaft" - selbst produziert mitten im Weltkrieg. Collage: OR

Um Verfolgung, Haft und letztendlich Tod der Macher zu vermeiden, versucht man sich in äußerlich unpolitischen Darstellungen. Landschaftsbeschreibungen und Reiseerlebnisse dürfen niemals den Verdacht von Widerstandstätigkeit erwecken. Zentral wichtig für damals Eingeweihte wird es an jenen Stellen, an denen man sich die Feldpostanschriften der zum Militärdienst rekrutierten Genossen mitteilt. Dies stärkt Netzwerke, auf die alle Beteiligten, beginnend am Tag der Befreiung vom Hitler-Faschismus, unbedingt wieder stärken wollen. Leider überleben nicht alle Beteiligten das Kriegsinferno.

 

Wiederaufbau und Entnazifizierung

Nach der Befreiung Osnabrücks im April 1945 gehört Erwin Förstner zu den führenden Persönlichkeiten der Osnabrücker Sozialdemokratie, die sich im Wiederaufbau von Stadt, demokratischen Verwaltungsstrukturen und Partei verdient machen. Schon im Juni wird er Leiter des Antifaschistischen Kampfbundes Natruper Tor und Eversburg, der vor allem von Sozialdemokraten und Kommunisten getragen wird. Er hilft mit, vormalige Nazis aus verantwortlichen Funktionen fernzuhalten und vor allem die täglichen Probleme im Sinne von Wohnraumversorgung und Nahrungsmitteln zu bewältigen. Außerdem gehört er als SPD-Vertreter zwischen Juli 1945 und Frühjahr 1946 dem von der britischen Militärverwaltung ernannten städtischen Bürgerausschuss unbescholtener Demokraten an. Es ist, wenngleich noch nicht gewählt, der erste demokratische Stadtrat der Nachkriegszeit.

Heftig wird in der Zeit nach 1945 allerdings seine Gegnerschaft zu Kommunisten. Leidenschaftlich tritt er gegen Tendenzen auf, nach dem Vorbild der SED im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands auch im Westen Sozialdemokraten und Kommunisten in einer Partei zu vereinen. Unbeirrt streitet Förstner für das Ziel eines Demokratischen Sozialismus, der das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft mit garantierter Meinungs-, Presse-, Organisations- und Oppositionsfreiheit sowie unabhängiger Justiz koppelt.

Eine wichtige Rolle fällt Förstner auch im Entnazifizierungsausschuss zu, dem er bis Januar 1948 angehört und der versucht, die Schergen des NS-Regimes zu enttarnen und zumindest nicht wieder in öffentliche Funktionen hineinzulassen.

Bei der offiziellen Wiedergründungsfeier der SPD in der Von-Stein-Kaserne kann Erwin Förstner einmal mehr seine künstlerische Ader mit der politischen verbinden und schafft eine überdimensionale Kohlezeichnung, die „Urvater“ Karl Marx zeigt und die Wand der großen Pferdehalle ziert. Etliche im Publikum verweisen stolz auf erstandene Sondermarken des sozialistischen Künstlers, deren Vertrieb fortan zum erfolgreichen Wiederaufbau der Partei beitragen soll. Sie zeigen die „Ahnen“ der Sozialdemokratie: Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Zeitgleich hält der unvergessene Walter Bubert, Widerstandskämpfer, späterer Landrat und Oberkreisdirektor im Landkreis Osnabrück, eine vielbeachtete Gründungsrede zum ersehnten sozialistischen Neuaufbau der Stadt und des Landes.

SPD-Sondermarken sollen den Parteiaufbau 1946 voranbringen. Gestalter: Erwin Förstner. Privatarchiv Karl SchulzeSPD-Sondermarken sollen den Parteiaufbau 1946 voranbringen. Gestalter: Erwin Förstner. Privatarchiv Karl Schulze

Ein Herz für die Falken

Dass Erwin Förstner sich auch für die Wiedergründung von Gewerkschaft, Sozialistischer Arbeiterjugend (SAJ) und Jungsozialisten stark macht, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Er begrüßt es, dass die bis 1945 verbotenen, vormalig getrennt organisierten Organisationen „Kinderfreunde-Rote Falken“ und SAJ unter der neuen Bezeichnung „Sozialistische Jugend Deutschlands – Die Falken“ zusammengefasst werden. Der rote Falke auf blauem Kreis, umrahmt von der roten Traditionsfahne der sozialistischen Arbeiterbewegung, wird auch in Osnabrück zum Erkennungszeichen junger Sozialistinnen und Sozialisten.

Dass Förstners Hauptherz an der Falkenarbeit hängt und weniger an der Gremienarbeit in Partei und Kommunalpolitik, wird auch in Osnabrück unverkennbar. Schon im September 1945 hat er eine Gruppe der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation ins Leben gerufen. Oft sind es die Kinder älterer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die früher selbst bei Roten Falken, bei den Jungsozialisten oder in der SAJ aktiv gewesen sind. Als Leiter fungierte Förstner mit seinen reichhaltigen Erfahrungen in dieser Arbeit bis 1952.

 

Vielgefragter Chronist

Dass Erwin Förstner in der späteren Nachkriegszeit eher ins zweite Glied der Parteiarbeit zurücktritt, ist auch in seinen Leidenschaften als Künstler begründet. Zwischen 1958 und 1962 macht er sich sogar als freier Grafiker und Kunstmaler selbständig, ehe er 1962 wieder bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn anno 1973 im öffentlichen Dienst, diesmal beim Vermessungsamt der Stadt, heimisch wird.

Als aktiver Rentner wird sich Erwin Förstner noch viele Jahre später als bildnerischer Chronist des Stadtgeschehens einen Namen machen. Seine 8-mm-Filme über viele Facetten städtischer Ereignisse legen darüber ebenso Zeugnis ab wie liebevoll inszenierte Dia-Vorträge rund um Osnabrück, mit denen er in zahllosen Zusammenkünften ein stets gern gesehener Gast sein wird.

Wann immer es seine Gesundheit noch zulässt, teilt er auf zahllosen Parteiversammlungen seine Erfahrungen mit. „Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe“ bildet dabei den Leitspruch eines Lebens in der sozialdemokratischen Bewegung. Kurz nach der Jahrtausendwende stirbt Erwin Förstner am 24. August 2003 mit 94 Jahren.

 


Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

Folge 1: Walter Bubert
Folge 2: Hans Bodensieck 
Folge 3: Emil Berckemeyer
Folge 4: Josef Burgdorf
Folge 5: Fritz Bringmann
Folge 6: Anna Daumeyer-Bitter

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