OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 17: Wilhelm Mentrup

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (am Ende dieses Textes finden sich Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

 

Wilhelm Mentrup
Nazi-Hass auf „Kassen-Bonzen“

Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass der Verwaltungsinspektor einer Ortskrankenkasse nach der Machtergreifung 1933 in den Bann der Nazis gerät. Beleuchtet man die Hintergründe dieser Hetzjagd, wird deutlich, warum Mentrup für die deutschen Faschisten geradezu beispielhaft für den verhassten „Bonzen“ steht. Er ist zugleich Funktionsträger einer Krankenkasse, Gewerkschafter, Sozialdemokrat und außerdem noch Freidenker. Indem Mentrup auch nach 1933 unbeugsam bleibt, leitet dies im Jahre 1944 sein Todesurteil ein.
Wer ist dieser grundsolide wirkende AOK-Inspektor, der von Beginn an so viel Hass der Nazis auf sich zieht?


Roter mit Verwaltungsposten

Wilhelm Mentrup wird am 14.03.1877 in Osnabrück geboren. Schon früh ist er gewerkschaftlich und sozialdemokratisch organisiert. 1883 ist er sechs Jahre alt, als der Reichstag das Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter verabschiedet. Träger der Krankenversicherung sind überwiegend örtliche Krankenkassen, die von den Gemeinden zu errichten sind und die sich 1894 im „Centralverband von Ortskrankenkassen im Deutschen Reich“ in Frankfurt am Main zur „Allgemeinen Ortskrankenkasse“ (AOK) zusammentun. Anfangs gibt es reichsweit 8.200 von ihnen, denen die Arbeiter zugewiesen werden, wenn sie nicht anderweitig zu versichern sind. Ab 1892 können schließlich nicht nur gewerbliche Arbeiter, sondern  auch Angestellte und Heimarbeiter AOK-Mitglied werden.

Noch anno 1906, also in der Periode des deutschen Kaiserreichs, gelingt Mentrup der berufliche Zugang in die besagte öffentliche Einrichtung. In Zeiten, als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten als Staatsfeinde gelten und kaum Möglichkeiten besitzen, im staatlichen Dienst beschäftigt zu werden, verwundert Mentrups Werdegang aber nur auf den ersten Blick. Warum dies so ist, beantworten die Folgekapitel mit einem historischen Rückblick.


Bismarcks Selbsttor

Die Sozialkassen im Kaiserreich sind das Ergebnis jener Sozialgesetzgebung, die mit dem Reichskanzler Otto von Bismarck (1815-1898) verbunden ist. Der hat nach der Verhängung des von ihm 1878 durchgepeitschten Sozialistengesetzes, es ist bis 1890 in Kraft, in seinem Kampf zur Zerschlagung der Sozialdemokratie über neue Schritte nachdenken müssen. Seine sozialistischen Todfeinde sollen unbedingt noch mehr als durch knallharte Verbote geschwächt werden. Der „eiserne Kanzler“ will der Sozialdemokratie ihren Anhang abspenstig machen. Ein Schritt dazu, so Bismarcks Gedanke, könnten Gesetze sein, die den Alltag arbeitender Menschen verbessern. Das erste der neuen Sozialgesetze ist im Jahre 1883 ein „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“. Die so Begünstigten wiederum, so hoffen Bismarck und Deutschlands herrschenden Kreise, würden dafür auf ewig dankbar sein und der „staatsfeindlichen“ Sozialdemokratie für immer den Rücken kehren. Bismarck und seine Gesinnungsfreunde werden sich fulminant irren.

Propagandaplakat zur kaiserlich eingeführten Sozialversicherung. Als Mittel gegen die Sozialdemokratie gegründet, entpuppten sich die Selbstverwaltungsorgane als Keimzelle der SozialdemokratiePropagandaplakat zur kaiserlich eingeführten Sozialversicherung. Als Mittel gegen die Sozialdemokratie gegründet, entpuppten sich die Selbstverwaltungsorgane als Keimzelle der Sozialdemokratie

AOK: eine Bastion der Arbeiterbewegung

Insbesondere die gesetzlichen Krankenkassen, zu der schließlich auch die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) zählt, entwickeln sich zunehmend zu einer Domäne von Gewerkschaften und Sozialdemokratie. Funktionsträger der Arbeiterbewegung zählen immer mehr zu denjenigen, die eine Umsetzung der Sozialgesetze penibel genau überwachen. Die Hilfskassen, die den Betroffenen ihre Gelder auszahlen, müssen nämlich von gewählten männlichen Vertretern verwaltet werden. Für diese Verwaltungsgremien wiederum stellen sich von Beginn an auch Sozialdemokraten – offiziell als Privatpersonen – zur Abstimmung. Werden sie gewählt, kümmern sie sich in aller Regel sehr glaubwürdig darum, die Betroffenen über ihre Rechte zu informieren. Sie helfen aus, um komplizierte Formulare auszufüllen. In Streitfällen beraten sie oft sehr erfolgreich. Kommt es zu Ungerechtigkeiten, helfen Mitglieder der Sozialdemokratie tatkräftig dabei mit, diese öffentlich bekannt zu machen, um die Probleme einzudämmen.

Der Osnabrücker Wilhelm Mentrup ist somit einer jener vielen Sozialisten, die sich früh in der Selbstverwaltung der Kassen betätigen und das Bestmögliche für die abhängig Beschäftigten erreichen wollen. Er ist dabei in bester Gesellschaft: Immer mehr seiner Genossen nutzten die Beteiligungsmöglichkeiten der gesetzlich festgelegten Selbstverwaltung. Die Kassenvorstände sind, dem Beitragsverhältnis entsprechend, aus einem Drittel Arbeitgebern und zwei Dritteln Arbeitnehmern zusammengesetzt. Angesichts der garantierten Mehrheitsverhältnisse blasen die Sozialdemokratie und die freien Gewerkschaften schon früh zum Sturm auf die Kassenorgane der Ortskrankenkassen. Bereits kurz nach der Jahrhundertwende sind die Ortskrankenkassen gerade in den größeren Städten fest in der Hand der Arbeiterbewegung. Die Genossen stellen nicht nur die Mehrheit der ehrenamtlichen Vorstände, sondern besetzten in der Verwaltung der Ortskrankenkassen bereits hier schon geschätzte 3.000 bis 6.000 hauptamtliche Stellen.

Bereits 1902 gibt es außerdem etwa 500.000 Gewerkschaftsvertreter in den Selbstverwaltungsorganen der gesetzlichen Krankenkassen. Umgekehrt kommen immer mehr Menschen bereits vor dem Ersten Weltkrieg von 1914 mit sozialdemokratischer Hilfe zu ihrem Recht. Diese Vertrauensarbeit wird insbesondere nach dem Kriegsende 1918 zu einem weiteren Faktor, der die Sozialdemokratische Partei und die eigenen Gewerkschaften stark macht. Die beteiligten Funktionsträger erwerben sich so ein hohes Ansehen.

Mitgliedern, die zuvor Probleme hatten, ihre medizinische Versorgung zu sichern, besitzen nun AOK-Berater mit gewerkschaftlichem Hintergrund, welche die Sorgen und Nöte arbeitender Menschen weit besser kennen als klassische Bürokraten. Oft wird, egal, ob jung oder alt, auch unbürokratisch Hilfe geleistet.

Der Osnabrücker Wilhelm Mentrup zählt somit beispielhaft zu jenen in der Partei- und Gewerkschaftsarbeit bewährten Sozialdemokraten, die anno 1906, er ist zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, wie andere eine Festanstellung in einer gesetzlichen Krankenkasse wie der AOK erhalten.

Jene Kasse, in der die allermeisten Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellten des Deutschen Reiches organisiert sind, zählt zum Beginn der Weimarer Republik, in der die Selbstverwaltungsrechte entscheidend ausgebaut werden, bereits weit über sechs Millionen Mitglieder. 1922 sind schon etwa zwei Drittel aller Krankenversicherungsangehörigen gewerkschaftlich organisiert. Dieser Stärke folgt eine stärkere gesetzliche Berücksichtigung der Gewerkschaften und ihrer Forderungen bei allen anstehenden sozialpolitischen Gesetzen. Sie stehen somit im Umkehrschluss für eine starke Mitverantwortung. Erschwert wird diese, wenn bürgerliche Bündnispartner der SPD etliche gewerkschaftlichen Zielsetzungen und weiteren sozialen Rechten brachial einen Riegel vorschieben.

Dennoch: Am Ende der Republik, 1932, werden erheblich über zehn Millionen Mitgliedern in der AOK, dies betrifft die Hälfte aller reichsweit Versicherten, erfasst sein. Sie sind deshalb auch in Osnabrück auf eine leistungsstarke Verwaltung angewiesen. Im Alltag der AOK wird häufig überaus engagiert an die Schwächsten gedacht. Eines vieler Beispiele befindet sich nahe Osnabrück in Uphöfen Hilter in Gestalt des Kinderheims Holterberg, wo sich jüngere Osnabrückerinnen und Osnabrücker mit Kassenhilfe erholen können.

Postkarte mit dem Standort Uphöfen Hilter am Teutoburger Wald mit dem Kinderheim Holterberg der AOK Osnabrück, Ende der 20er-JahrePostkarte mit dem Standort Uphöfen Hilter am Teutoburger Wald mit dem Kinderheim Holterberg der AOK Osnabrück, Ende der 20er-Jahre

Hetzkampagnen von rechts

Auch die Osnabrücker AOK hat es in den Krisenjahren der Republik ungemein schwer, sich in angemessener Weise für ihre Mitglieder und deren Gesundheit einzusetzen. Dies spürt in seiner Alltagsarbeit auch der Verwaltungsinspektor Wilhelm Mentrup. Zumal er Vorstandsmitglied der Osnabrücker SPD ist, dort als langjähriger Kassierer seiner Partei fungiert und somit stadtweit als „Sozi“ bekannt ist, treffen ihn Hetzkampagnen der örtlichen Rechten in besonderer Weise.

Insbesondere Ärztevereinigungen wie der Hartmannbund, die eindeutig im nationalistischen Lager verortet sind, unterlassen reichsweit keinen Versuch, um die Qualifikation jener Verantwortlichen in der AOK anzuzweifeln, mit denen sie Leistungstarife für ihre Honorare aushandeln müssen. Bereits 1926 macht eine Erhebung des ärztlichen Hartmannbundes die Runde, nach der in 224 von 260 Städten mit 20 000 und mehr Einwohnern von insgesamt 224 Ortskrankenkassen-Geschäftsführern beinahe ein Drittel, exakt sind es 27,6%, vormalige Gewerkschaftssekretäre oder Arbeiter unterschiedlicher Profession sind. Der Vorwurf des „Bonzentums“, deren Vertreter viel Geld verdienen, aber restlos unterqualifiziert seien, breitet sich aus. Die Hetze wird in den Folgejahren von allen Rechtsparteien liebend gern aufgegriffen und verstärkt.


AOK in der Krise

Mit der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise stehen sozialdemokratische Verwaltungsangehörige wie Mentrup in den gesetzlichen Krankenkassen mit dem Rücken zur Wand. Die eskalierende Arbeitslosigkeit und der massenhafte Verlust versicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse nehmen auch den Krankenkassen ihre finanzielle Basis. Die in ihrem Ausmaß bedrohliche Finanzkrise trägt verschärfend dazu bei, dass die bestehenden Strukturen und Institutionen einen erheblichen Vertrauensverlust erleiden. AOK-Mitarbeitende werden nicht selten übel von notleidenden Mitgliedern beschimpft und häufig sogar ganz persönlich für fehlende Leistungen verantwortlich gemacht.

Auch der Osnabrücker Wilhelm Mentrup wird zunehmend dafür an den Pranger gestellt, was seine AOK aufgrund von Direktiven der neuen Reichsregierung umsetzen muss. Eigenen Handlungsspielraum gibt es nicht. Einen Anfang macht die Notverordnung des neuen Zentrums-Reichskanzlers Wilhelm Brüning vom 26. Juli 1930. Arbeiter- und Angestelltenfamilien der AOK müssen plötzlich in ihren Apotheken eine massiv erhöhte Selbstbeteiligung bei Arzneien entrichten. Weitere Maßnahmen, gegen die ein Wilhelm Mentrup trotz aller innerlichen Proteste nichts ausrichten kann, sind die Einführung von Krankenscheingebühren und die Einführung von Karenztagen für Krankengeldzahlungen. Verantwortlich werden AOK-Mitarbeiter auch für die Auflage gemacht, für sämtliche Krankenkassen einen Vertrauensärztlichen Dienst einzurichten.

Ferner werden die Selbstständigkeit der Krankenkassen bei der Vermögensverwaltung und Kassenprüfung eingeschränkt, was die eigenen Möglichkeiten, die gröbste Not der Menschen mit örtlich abgestimmten Maßnahmen zu lindern, weiter einschränkt.

Die Stärkung der staatlichen Aufsichtsrechte geschieht in Wahrheit ganz deutlich auf Drangen der führenden Arzte- und Unternehmerverbände, denen das gesamte Krankenkassensystem ohnehin als sozialdemokratische Fehlentwicklung gilt. Die brutale Agitation gegen „Kassenbonzen“ und „Krankenkassenpaläste“ stößt in der Regierung Brüning und in den darauffolgenden bürgerlichen Kabinetten ebenso auf offene Ohren wie bei Deutschnationalen und aufkommenden Nationalsozialisten.

Ab 1933 bestimmen allein die Osnabrücker Nationalsozialisten, was erlaubt oder verboten ist. Im Bild: Erwin Kolkmeyer (schwarze Uniform) bei einer Parade der SA, Datum unbekannt. Medienzentrum Osnabrück, Sammlung OrdelheideAb 1933 bestimmen allein die Osnabrücker Nationalsozialisten, was erlaubt oder verboten ist. Im Bild: Erwin Kolkmeyer (schwarze Uniform) bei einer Parade der SA, Datum unbekannt. Medienzentrum Osnabrück, Sammlung Ordelheide

Entlassung des „Kassenbonzen“

Nach der Machtübergabe einer Clique aus Hochfinanz, Industrie und Präsidentenratgebern an den neuen Reichskanzler Adolf Hitler beginnen die Nationalsozialisten nach dem 30. Januar 1933 recht schnell damit, alle unliebsamen Demokraten, speziell Angehörige der Arbeiterbewegung, schnellstmöglich aus ihren Funktionen zu entlassen. Mit 56 Jahren wird auch Verwaltungsinspektor Wilhelm Mentrup am 1. Juni 1933 auf Grund des Gesetzes „Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ seines Postens enthoben. Formell wird er in den „Ruhestand“ ohne nennenswerte Bezüge geschickt.

Reichsweit trifft ihn ein Schicksal unzähliger Genossinnen und Genossen. In einer von Gerd Rühle in seinem Band „Das Dritte Reich“ zitierten Propagandadarstellung aus dem Jahr 1934 anlässlich des Jahrestages der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten heißt es über die Krankenkassen:

„Ganz besonders katastrophale Zustände fand die Regierung in den Krankenkassen vor, die ursprünglich die ärztliche Pflege der breiten Volksschichten sicherstellen sollten, allmählich aber – insbesondere unter dem sozialdemokratischen Regime des Zwischenreichs – immer mehr zu einem Ausbeutungsobjekt marxistischer Parteibuchbeamter geworden waren. Während Millionen deutscher Volksgenossen ihre Krankenkassenbeiträge zahlten, wurden diese Kassen – vor allem auch die großen Allgemeinen Ortskrankenkassen – zu einer Versorgungsanstalt des roten Bonzentums.“

Soweit er dies über die gleichgeschalteten Medien überhaupt noch registrieren kann, erfährt Mentrup in tiefer Verzweiflung, was aus „seiner“ AOK jetzt durch den erdrückenden NS-Einfluss wird. Die Darstellung Marc von Miquels, „Ortskrankenkassen im „Dritten Reich“, nennt dazu prominente Namen: Im März 1933 wird danach Helmut Lehmann, Vorsitzender des „Hauptverbandes deutscher Krankenkassen“, wie sich der reichsweite Ortskrankenkassen-Verband nennt, sofort in Polizeihaft genommen. Bereits hier schon zeigt sich der entschiedene Machtwille der Nationalsozialisten, potentielle Gegner nicht nur in Städten wie Osnabrück, sondern vor allem in den Führungsetagen der Krankenversicherungsträger kalt zu stellen. „Misswirtschaft und Unterschlagung“ dienen besonders häufig als Vorwürfe, unter deren Prämisse weitere Festnahmen erfolgen. Sehr viele Beschuldigte verüben in ihrer Verzweiflung Selbstmord. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Geschäftsführer des Hauptverbandes Ebel, derjenige des Landesverbandes Thüringen, Reese und der Geschäftsführer der Kölner Vereinigten Ortskrankenkasse für Handwerker, Werner. Nachzulesen ist seinerzeit alles, folgt man der Darstellung von Stephan Leibfried und Florian Tennstedt in ihrem Werk „Berufsverbote und Sozialpolitik 1933“, in den öffentlich zugänglichen Ausgaben der Vossischen Zeitung am 13., 21. und 22. April 1933.

Beinahe überflüssig ist es zu erwähnen, dass die NS-Machthaber sofort alle Formen der so lange erkämpften Selbstverwaltung deutscher Krankenkassen liquidieren. Wie allerorten gilt auch hier fortan das Führerprinzip, dass durch zentral eingesetzte Personen ausgeübt wird. Staatliche Kommissare allein – und kein demokratisches Gremium der Selbstverwaltung – haben fortan das Sagen.

Immerhin darf Wilhelm Mentrup noch im offiziellen Adressbuch der Stadt, wie es jenes aus dem Jahre 1937 dokumentiert, als „Abteilungsleiter im Ruhestand“, wohnhaft Wulfekamp 28, erfasst werden. Dass er offenkundig weiter Bezüge erhält, bleibt den Nazis allerdings ein Dorn im Auge. Die Gestapo misstraut ihm tief und beobachtet den unerschütterlichen Sozialdemokraten Mentrup in der folgenden Zeit auf Schritt und Tritt. Die Nazis stoßen sich dabei nicht zuletzt an seinen Ruhestandsbezügen. Folgt man einer offiziellen Eintragung in die Gestapo-Kartei für den 8. Oktober 1937, steht dort wörtlich zu lesen:

„M. weigert sich von seinem Ruhegehalt einen Anteil der Winterhilfe zukommen zulassen. Ein Zwang kann jedoch nicht ausgeübt werden, da es sich um freiwillige Spenden handelt.“

Tatsächlich gehört in jenem Jahr durchaus Courage dazu, keine Spende für das angeblich wohltätige NS-Winterhilfswerk aus der Tasche zu ziehen. Geschickt versteht es Mentrup tatsächlich sehr lange, den Nazis keinen offenen Anlass für eine Verhaftung zu bieten. Zugleich reizt er es durchaus aus, dennoch Funktionen in NS-fernen Gesellschaftsbereichen auszuüben.

Wegen der akuten Gefahren ist es ihm natürlich unter Lebensgefahr nicht mehr möglich, weiter in der illegalen Sozialdemokratie, in Gewerkschaften oder im zerschlagenen Deutschen Freidenker-Verband zu wirken, wo der Konfessionslose bis 1933 die Funktion eines Schriftführers ausgeübt hat – wie es die Gestapo-Karteikarte vermerkt. Auf der gleichen Karte wird allerdings erwähnt, dass Mentrup, so eine wörtlich übernommene Eintragung vom 30. August 1934, „Jetzt Schriftführer der freirel. Gemeinde Ortsgr. Osnabrück“ sei.

Offenkundig scheint er in der freireligiösen Gemeinde ein Refugium Gleichgesinnter gefunden zu haben, was für einen überzeugten Freidenker wie ihn in früheren Jahren sicherlich kaum in Frage gekommen wäre. Selbst Gestapo-Beamten bleibt in jener Zeit klar: Diesen Roten werden sie nie auf Linie bringen!


Opfer der „Aktion Gewitter“

Das sogenannte Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944, zu dem Mentrup keine direkte Beziehung besitzen dürfte, wird ihn trotzdem ebenso hart treffen wie die Beteiligten an der Militäraktion. Mehr noch: Unter den Opfern der nun einsetzenden Verfolgungswelle überwiegen nicht etwa oppositionelle Armeeangehörige, sondern in weitaus höherer Zahl Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten.

Ausgangspunkt der einsetzenden Verfolgungen, die nun auch Mentrup trifft, ist ein Auftrag des SS-Führers Heinrich Himmler. Am 14. August 1944 ergeht an alle Polizei- und Gestapo-Stellen die Losung, vorwiegend ehemalige Funktionäre der Arbeiterbewegung festzunehmen. Betroffen sind zahllose frühere Reichs-, Landtags- und Stadtverordnete von KPD und SPD, ebenso ehemalige Gewerkschafts- und Parteifunktionär der Arbeiterparteien. Die Inhaftierung erfolgt „gleichgültig …, ob diesen im Augenblick etwas nachzuweisen ist oder nicht.“

Mentrups Festnahme folgt im Einklang mit jenen Verhaftungen, die jetzt reichsweit in den frühen Morgenstunden des 22. August erfolgen. Alles läuft unter dem Decknamen „Aktion Gewitter“, zuweilen auch als „Aktion Gitter“. Gestapo oder Polizei nehmen in kurzer Zeit rund 5000 Menschen in Gewahrsam. Wilhelm Mentrup zählt zu ihnen.

Üble Nächte verlebt der mittlerweile 68-jährige Wilhelm Mentrup zunächst in den Gestapo-Zellen im Schloss. Nächste Station ist das „Arbeitserziehungslager“ Augustaschacht nahe Ohrbeck. An beiden Orten trifft Mentrup zahlreiche alte Genossen und Kollegen wieder, was eher Angst, Bedrückung und Ungewissheit als Wiedersehensfreude auslöst. Die bis heute existierende Gestapo-Unterlagen dokumentieren die Einkerkerung von insgesamt 51 Männern, von denen danach 39 der SPD, drei der KPD und zehn den – meist ebenfalls sozialdemokratischen – Gewerkschaften angehören.

Selbst der keineswegs junge Wilhelm Mentrup wird von den Nazis ganz offenkundig als Gefahr gesehen. Denn viele Fragen durchziehen braune Gedankengänge. Was würde geschehen, wenn ein weiteres Attentat gegen den „Führer“ und seine Regierung erfolgreich wäre? Sollte man deshalb nicht gleich und sicherheitshalber all jene Kräfte liquidieren, die im Falle eines Umsturzes mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung Verantwortung übernehmen könnten? Solche, die wissen, wie man die verhasste Demokratie mit Leben füllt? Menschen, die wissen, wie beispielsweise ein demokratisches Gesundheitswesen aufgebaut werden kann? Derartige Gedanken scheinen Nazis wie Himmler bei der Anordnung seiner Verhaftungswelle mit Sicherheit angetrieben haben.

Viele der Inhaftierten werden in der Folgezeit allerdings wieder entlassen oder erweisen sich aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes als transportunfähig. Wilhelm Mentrup zählt ausdrücklich nicht zu den Entlassenen. Zusammen mit seinen SPD-Genossen Heinrich Niedergesäß, Heinrich Groos und Fritz Szalinski sowie dem Kommunisten August Wille wird er vom Arbeitserziehungslager Ohrbeck gen Hamburg in das Konzentrationslager Neuengamme im heutigen Hamburger Bezirk Bergedorf transportiert.


Tod in der Lübecker Bucht

in Neuengamme wird der betagte Mentrup gezwungen, körperlich schwere Arbeit in Tongruben zu verrichten. Seine Aufgabe lautet, anzupacken, um am Ende Ziegelsteine zu produzieren. Ein Funke Optimismus hält ihn am Leben. Auch bei Mentrup wächst in den letzten Monaten des Krieges die Hoffnung auf eine Befreiung durch die Alliierten. Flieger der späteren Siegermächte, die am Himmel zu sehen sind, bedeuten für die täglich um ihr Leben fürchtenden KZ-Insassen eher Hoffnung als Bedrohung.

Beim Lagerkommandanten kommt dagegen keinerlei Hoffnung, sondern pure Panik auf. Das Ziel der KZ-Bewacher lautet schon früh, für das nahende Kriegsende möglichst viele Beweise zu vernichten. Außerdem will und muss man einer Order des SS-Reichsführers Heinrich Himmler nachkommen. Der hatte den Befehl erteilt, KZ-Häftlinge nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Schnellstmöglich geht es dem Lagerkommandanten deshalb um eine Verwischung möglichst vieler Spuren des KZ-Terrors, die Vernichtung menschlicher Zeugen eingeschlossen.

Die KZ-Leitung entschließt sich für eine geradezu perfide Idee: 7000 Häftlinge werden in die Lübecker Bucht gebracht und dort, eng zusammengetrieben, auf verschiedene Schiffe verladen. Zuvor werden sie, Mentrup ist dabei, in kräftezehrenden und opferreichen Gewaltmärschen von Neuengamme zur Lübecker Bucht getrieben. Eiskalt wird damit gerechnet, dass alliierte Bomber anstelle der Nazis das Leben der übel eingepferchten Schiffsinsassen vernichten. Massenmörder Karl Kaufmann, er trägt als Hamburger Gauleiter und Reichskommissar für die Seeschifffahrt Verantwortung für die Einpferchung der KZ-Häftlinge auf den Schiffen, verbreitet seine Direktiven. Für seine Verbrechen wird der Nazi später niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Das perverse Kalkül der Nazis geht in der Tat auf. Befreier vom Faschismus werden, ohne dies zu wissen, in ihren Bombern zu Handelnden, die das Leben von Antifaschisten vernichten.

Versenkte Cap Arcona. Foto: Museum Cap Arcona Neustadt in HolsteinVersenkte Cap Arcona. Foto: Museum Cap Arcona Neustadt in Holstein

Auch Mentrup stirbt am 3. Mai 1945, fünf Tage vor der Befreiung. Im britischen Bombenhagel versinken der ehemalige Luxusliner „Cap Arcona“ und das Frachtschiff „Thielbek“, auf der sich der Osnabrücker befindet.

Die Briten, welche ihre Ziele auf dem Wasser anpeilen, haben fatalerweise deutsche Truppen auf den Schiffen vermutet. Die vermeintliche Erkenntnis entpuppt sich als tragischer Irrtum: An Bord sind 7.500 KZ-Häftlinge, von denen 7.000 elendig sterben. Die „Thielbek“ sinkt, so eine Darstellung des NDR, innerhalb von 20 Minuten nach dem Luftangriff. Britische Kampfflieger beschießen laut dieser Quelle selbst die Rettungsboote auf ihrem Weg ans Neustädter Ufer. Von den 2.800 Häftlingen auf diesem Schiff erreichen lediglich 50 lebend das Land.

Was ist mit Mentrup geschehen? Jahrelang herrscht Ungewissheit. Der Suchdienst Hamburg kann der Familie des vormaligen AOK-Kollegen erst gut fünf Jahre nach Kriegsende, am 7. September 1950, mitteilen, dass nach der Hebung der „Thielbeck“ die „KZ-Nummer 54331 aufgefunden“ worden sei. Es ist die Nummer Wilhelm Mentrups.

Mahnmal zur Erinnerung an den Tod der Häftlinge in der Lübecker Bucht. Foto: Gedenkstätte NeuengammeMahnmal zur Erinnerung an den Tod der Häftlinge in der Lübecker Bucht. Foto: Gedenkstätte Neuengamme

 


Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

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