Freitag, 11. Oktober 2024

OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 28: Goswin Stöppelmann

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.


Goswin Stöppelmann
Kämpfer und Helfer in widrigen Zeiten

Goswin Stöppelmann (1902-1961) dürfte zur kleinen Zahl jener Menschen im Osnabrücker Widerstand zählen, die ihren lebenslangen Kampf gegen den Faschismus zumindest für kurze Zeit zum Beruf machen dürfen. Als Dezernent der früheren Bezirksregierung Osnabrück wird er kurz nach Kriegsende für NS-Opfer und deren Entschädigungsansprüche zuständig sein. Am Ende muss er resignieren, weil alte Kräfte wieder zu stark geworden sind. Ex-Nazis und Geschichtsverleugner werden mit tatkräftiger Hilfe der Adenauer-Regierung eine echte Aufarbeitung der NS-Geschichte erfolgreich torpedieren.

Ein junger Sozialist – geerdet unter Gleichgesinnten

Bevor auf Goswin Stöppelmanns politisches Handeln eingegangen wird, erscheint es sinnvoll, einige Stichworte zum schulischen und beruflichen Werdegang zu verlieren. Der junge, 1902 geborene Goswin besucht wie die allermeisten Altersgenossen von 1908 bis 1916 die Volksschule. Im April 1920 absolviert er seine Gesellenprüfung als Modelltischler mit „sehr gut“. Dass der junge Stöppelmann lebenslang darum bemüht sein wird, sich weiter zu qualifizieren, belegen die Jahre 1923 und 1924. Hier zieht es ihn in die Nachbarstadt Münster, wo er als Gasthörer Grundlagen einer Geschäftsführung an der dortigen Verwaltungsakademie studiert.

Bereits als junger Mensch schließt sich Goswin Stöppelmann der Sozialdemokratie an. Folgt man den im Osnabrücker Museumsquartier am 15. Februar 2012 protokollierten Aussagen seiner Tochter Ingrid Neumann, hat sich ihr Vater schon in jungen Jahren aktiv in der Arbeiterbewegung betätigt. Bereits in den 20ern stößt er zu den Naturfreunden, zur Sozialistischen Arbeiterjugend sowie zu den Jungsozialisten. Schnell übernimmt er Führungspositionen. Nach der Erinnerung seiner Tochter ist er 1925 gemeinsam mit seinem hiesigen Genossen Friedel Raabe Osnabrücker Delegierter auf einer Reichskonferenz junger Sozialist*innen.

Begeistert beteiligt sich der junge Goswin auch an umfangreichen Bildungs- und Kulturprogrammen. Erlebbare sozialistische Pädagogik wird für Stöppelmann bewusstseinsbildend für sein lebenslanges Handeln. Lernziele bilden Erziehung zur Demokratie, Selbstbestimmung und Solidarität, das Einüben des fairen Gedankenaustausches, das Erlernen von Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft und für solche, die schwächer sind. Junge Sozialist*innen wie er lernen es „von der Pike auf“: Die sozialistische Gemeinschaft praktiziert Solidarität statt Ellenbogengesellschaft, Selbstverwaltung statt Autoritätsglauben und Völkerfreundschaft statt Ausländerhass. Das Gelernte ist eng verbunden mit einer eigenständigen Festkultur. Historische Daten – beispielsweise der 1. Mai, die Revolutionsfeiern am 9. November oder die Verfassungsfeiern am 11. August – bieten hier- ebenso den Anlass zur Zusammenkunft wie das sozialdemokratisch geprägte Gegenstück zur kirchlichen Konfirmation, die „Jugendweihe“. Militärverehrung ist der Arbeiterjugend dagegen ein Gräuel. Antimilitarismus und Friedensliebe werden stetig proklamiert. Völkerfreundschaft praktiziert man auch dadurch, dass nicht selten ausländische Genoss*innen auf Festen oder in Zeltlagern anzutreffen sind, in denen eine sozialistische Gesellschaft mitsamt ihren Debatten, Meinungsbildungen, Entscheidungen und Wahlen spielerisch eingeübt wird.

Die Persönlichkeit, die junge Sozialist*innen Osnabrücks nachhaltig beeindruckt, ist Anna Siemsen. Dokumentiert ist auch dies im genannten Buch „Freiheit-Krise-Diktatur“. Folgt man den seinerzeit dokumentierten Aussagen des Zeitzeugen Friedel Hetling gegenüber dem Autor dieses Aufsatzes, wird die Osnabrücker Pastorentochter und Professorin Siemsen besonders gern von den Jungsozialisten (Jusos) in die Hasestadt eingeladen. Dort referiert sie beispielsweise auf einem Wochenendseminar in einem Lokal in der Herrenteichstraße, dem womöglich auch Goswin Stöppelmann beigewohnt haben dürfte. Speziell zu den Jusos kommt Siemsen u. a. deshalb, weil sie es im Gegensatz zur herrschenden Parteimeinung für wichtig befindet, auch gewaltige innerparteiliche Differenzen im Rahmen der Jugendarbeit anzusprechen. Die OR hat über Siemsen bereits ausführlich berichtet. https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/or-serie-widerstand-im-osnabrueck-der-ns-zeit-folge-24-anna-siemsen/


Enttäuscht von der Partei – Hinwendung nach links

Desillusioniert muss auch Goswin Stöppelmann nach dem letzten SPD-Wahlerfolg von 1928 erleben, wie kompromissbereit sich die vom Sozialdemokraten Hermann Müller angeführte Reichsregierung einer Großen Koalition mit konservativem Zentrum und Rechtsliberalen darstellt – und darin anno 1930 trotzdem scheitern wird.

Als schlichter Verrat ist von Jungen in der Partei zuvor die 1929 vollzogene Zustimmung der SPD­Reichsminister zum Bau von Panzerkreuzern betrachtet worden. Gerade die Parteijugend hatte sich im 1928er-Wahlkampf begeistert für die offizielle Parteiparole· „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer“ eingesetzt. Außerdem haben auch Osnabrücker SPD-Linke überhaupt kein Verständnis dafür, dass die 1930/31 vom Reichspräsidenten Hindenburg eingesetzte Regierung des Zentrumspolitikers Heinrich Brüning, die per Notverordnungen massivsten Sozialabbau betreibt, von der SPD im Reichstag per Stimmenthaltung toleriert wird. Man will, wie kampflos erklärt wird, Schlimmeres in Gestalt der Nazis zu verhindern. In Wahrheit forciert man unbewusst deren Aufstieg.

 

Jusos, SAJ, Rote Falken und Kinderfreunde auf der Demo zum 1. Mai 1931 in der Wörthstraße. Foto: Archiv Heiko SchulzeJusos, SAJ, Rote Falken und Kinderfreunde auf der Demo zum 1. Mai 1931 in der Wörthstraße. Foto: Archiv Heiko Schulze

Die Jungen erfahren die schwache Republik ohnehin anders. Sie erleben Wirtschaftskrisen, wachsende Arbeitslosigkeit und vor allem die Ohnmacht, in Verwaltungen, Schulen, Justiz und Heer nichts gegen die erstarkten Rechten ausrichten zu können. 1918/19, so der bleibende Vorwurf, habe es die Parteiführung versäumt, die Macht alter Eliten in den staatlichen Institutionen und Unternehmensetagen zu brechen. Zentraler Ausdruck des gespannten Verhältnisses zur Republik ist deshalb die Juso-Parole „Republik das ist nicht viel, Sozialismus heißt das Ziel!“. Sie wird, sorgsam auf Transparent gemalt, von vielen jungen Sozialist*innen jener Jahre auch in Osnabrück anlässlich von Demonstrationen mitgeführt – und erregt immer wieder innerparteiliche Kontroversen.


Von der SAP zur KPD

Fast notwendigerweise kommt es irgendwann zum offenen Bruch. Im Reichstag bildet sich eine Widerstandsgruppe gegen den Kurs der Parteiführung. Die jungen Linken der Osnabrücker SPD solidarisieren sich schnell mit den innerparteilich verfemten Reichstags-Dissidenten. Deren Sprecher, die Abgeordneten Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz, werden aus der SPD ausgeschlossen. Danach gründen sie mit anderen Oppositionellen am 4. Oktober 1931 in Berlin die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands. Die wichtigste Forderung der SAP, der sich auch der junge Willy Brandt in Lübeck, ebenso Anna Siemsen und ihr Bruder August anschließen, ist bis 1933 die Einheitsfront von SPD und KPD, die von beiden Parteien bis zum Schluss im Grundsatz abgelehnt wird. Reichsweit verliert die Sozialistische Arbeiterjugend infolge der SAP-Gründung etwa 5.000 Mitglieder und damit ca. 10% ihrer Aktivisten. Goswin Stöppelmann, damals 29 Jahre alt, muss nicht lange zaudern: Er schließt sich hoffnungsvoll der neuen Partei an und übernimmt, folgt man den Ermittlungen der politischen Polizei, welche sich später auf der Gestapo-Karteikarte wiederfinden, verantwortliche Positionen.

Auch in Osnabrück gewinnt die neue Partei, folgt man den oben zitierten Aussagen des Zeitzeugen Friedel Hetling, schnell Zulauf. Eher zynisch berichtet die sozialdemokratische Tageszeitung Freie Presse am 20.10. 31 von der Gründungsversammlung der SAP, „an der einige dreißig Leute teilnahmen“. Dennoch gelingt es in der Hasestadt, bis zu 100 Mitglieder für die Gruppierung zu gewinnen. Ihr Quartier bezieht sie in einer alten Baracke am heutigen Niedersachsenplatz. Das SAP-Organ, die Sozialistische Arbeiterzeitung aus Breslau, hat in der Stadt laut Hetling zwischen 50 und 60 Abonnenten.

Als eine tragische Bestätigung ihrer Linie empfinden es Osnabrücks junge SAP-ler, dass die SPD-Führung im Reich kampflos dabei zuschaut, als die vom Sozialdemokraten Otto Braun geführte preußische Regierung durch den neuen Reichskanzler Franz von Papen (Zentrum) am 20. Juli 1932 amtsenthoben wird. Infolge dieses „Preußenputsches“ durchdringen zahllose SA- und SS-Angehörige die preußische Polizei. Sozialdemokraten werden reihenweise entlassen. Die Hoffnung Stöppelmanns und seiner Genoss*innen auf Resonanz unter den Wahlberechtigten erfüllt sich bei den letzten Reichstagswahlen allerdings nicht. Die SAP bleibt, wie fast überall im Reich, eine Splitterpartei.

Goswin Stöppelmann orientiert sich wohl auch deshalb neu. Er erlebt die desaströsen Wahlergebnisse der SAP spätestens seit Ende 1932 nicht mehr als Mitglied der linkssozialistischen Partei. Folgt man seinen persönlichen Angaben in seiner „Entnazifizierungsakte“, stimmt er im Wahllokal sowohl im November 1932 wie im März 33 für die Kommunistische Partei. Und nicht nur das: 1933 scheint ihn offenkundig auch der massive, risiko- wie opferreiche Widerstand, nicht minder ein starker Zusammenhalt innerhalb der KPD tief zu beeindrucken. Goswin Stöppelmann tritt der Partei noch 1933 bei und wird fortan für viele Jahre zum überzeugten Kommunisten. Mit den Brüdern und vormaligen jungen Sozialisten Ernst und Willi Hardiek, dem Schriftleiter der Freien Presse Josef Burgdorf und dem vormaligen SPD-Vorsitzenden Wilhelm Wiltmann sind es nicht wenige ehemalige Sozialdemokraten, die jetzt, tief enttäuscht von ihrer alten Partei, zur KPD zählen und dort im aktiven Widerstand gegen die seit dem 30. Januar 1933 amtierende Hitler-Regierung neue Bundesgenoss*innen finden.


Fluchtort und Oppositionsquelle: die Eekenpacht

Was tun angesichts einer Dauerbeobachtung durch die Gestapo? Als guter Weg bietet sich an, einen geeigneten Treffpunkt außerhalb der Stadtgrenzen zu suchen. Osnabrücker Antifaschisten wir Hans und Anne Lücke, Franz Lenz und auch Goswin Stöppelmann nutzen dazu einen Ort, der bereits vor 1933 angepachtet worden ist. Die OR hat über jene „Eekenpacht“ bereits in zwei Beiträgen über Franz Lenz wie Hans Lücke ausgiebig berichtet.

 

Stöppelmann (links) vor der Eekenpacht. Rechts von ihm Hans und Anne Lücke. Foto: MQ 4Stöppelmann (links) vor der Eekenpacht. Rechts von ihm Hans und Anne Lücke. Foto: MQ 4

In Lienen-Holperdorp besitzen folglich etliche Sozialdemokraten, Kommunisten und SAP-ler, die ihre Differenzen im Widerstand endlich zurückstellen, fortan über viele Jahre einen Treffpunkt. Sogar eine Bibliothek mit verbotener sozialistischer Literatur kann rege genutzt werden. Regelmäßig tauschen sich die NS-Gegner in altgewohnter Weise zu Fragen der Gegenwart und Zukunft aus. Auch Heranwachsende wie Werner Lenz, Sohn des Metallgewerkschafters Franz Lenz sowie die Stöppelmann-Tochter Ingrid sind sehr gern dort. Letztere beschreibt im genannten Zeitzeugengespräch auch das Innere des Hauses als sehr angenehmes Ambiente:

„Das war ein wunderschöner Kotten mit einem Kamin und ein anderes Zimmer mit einem schönen grünen Kachelofen und mehrere Räumchen gingen von der Diele ab.“

Das unscheinbare Gebäude bildet fortan eine winzige Oase im tiefbraunen Umfeld – und funktioniert zugleich als Ideenwerkstatt für ein künftiges, demokratisch-sozialistisches wie antimilitaristisches Deutschland. Auch Theater und zeitkritisches Kabarett kommen keineswegs zu kurz. Sie offenbaren auch bei Goswin Stöppelmann bislang ungeahnte Talente. Tochter Ingrid Neumann berichtet dazu eine besondere Anekdote:

„Mein Vater hat den Hitler gemacht, dann hat er draußen sein Auto abends mit Scheinwerferlicht angemacht und dann haben sie irgendwelche Szenarien gespielt, also juxig noch.“

Alle fühlen sich dabei unbeobachtet. Dies aber ist ein Irrtum. Auf Goswin Stöppelmanns Gestapo-Karteikarte wird ersichtlich, dass die Treffen in der Eekenpacht den Nazi-Machthabern keineswegs verborgen bleiben. Originalton:

„St. ist angebl. Mitpächter des Kottens „Eckenpacht“ in Holperdorf b. Lienen, in dem kommunist. Versammlungen stattfinden sollen.“

Bis heute bleibt ungeklärt, weshalb die Gestapo nie ernsthafte Versuche unternommen hat, den Widerstandsort „auszuheben“. Hat man die dort gebildeten Netzwerke etwa nicht ernst genug genommen?


Widerstand, Verfolgung und ein Martyrium in KZ und Gestapo-Keller

Zumindest beruflich gerät Stöppelmann nach 1933 in keine Existenznöte. Folgt man seinen eigenen Angaben aus der Entnazifizierungsakte, arbeitet er noch bis 1940 für die Buchhandelsfirma Otto Halbenz als Reisender, was er bereits seit 1931 tut.

Trotzdem belegt seine überraschende Einberufung zur Wehrmacht im Juni 1940, dass die NS-Machthaber ihn durchaus boshaft und willkürlich an der Front schicken. Laut Tochter Ingrid hat man ihn „angeschwärzt“, weil er aus seinen antifaschistischen Einstellungen selten einen Hehl macht. Schließlich ist er bereits 38 Jahre alt und ohne jedes soldatische Wissen, als er zum „Schützen“ ausgebildet wird.

 

Unter ständiger Beobachtung: Gestapo-Karteikarte zu Goswin Stöppelmann. Abbildung: Verein Gedenkstätte Augustaschacht/Gestapo-KellerUnter ständiger Beobachtung: Gestapo-Karteikarte zu Goswin Stöppelmann. Abbildung: Verein Gedenkstätte Augustaschacht/Gestapo-Keller

Wegen Krankheit wird Schütze Stöppelmann kurzfristig wieder aus der Wehrmacht entlassen, dann aber August 1940 zuerst nach Polen kommandiert, von wo aus er relativ schnell bis zum November nach Frankreich eingezogen wird. Folgt man Tochter Ingrid, erfährt er dort in der Schreibstube von einem Aktenvermerk über ihn: „War rot, ist rot, wird immer rot bleiben“ soll dort über ihn notiert sein.

Mit viel Glück muss Stöppelmann aus gesundheitlichen Gründen zum Jahresende keinen Militärdienst mehr leisten – und findet sogar eine neue berufliche Aufgabe. Vom April 1941 bis zu seiner späteren Verhaftung im Juni 1944 wirkt er für die Allgemeine Krankenversicherung in jener Firma, in der eine gewisse Fides Grundmeyer als Geschäftsführerin fungiert. Stöppelmann agiert als ihr Organisationsleiter.

Tochter Ingrid macht in ihren Erinnerungen deutlich, dass es bei den Eltern in unbeobachteten Zeiten dazu gehört, „Feindsender“ am heimischen Radio zu hören. Voller Gier nach freien Informationen hat Stöppelmann sich gemeinsam mit seinem engen Freund August Staperfeld gut isoliert vor dem Radio eingefunden, britische BBC-Meldungen wahrgenommen und noch heute existierende Landkarten bearbeitet, um akribisch aktuelle Frontverläufe darzustellen. Früh erkennt Stöppelmann bereits 1940 die Gefahren des Bombenkrieges für Deutschland, nachdem die Luftwaffe Bomben auf London und Coventry abgeworfen hat. Tochter Ingrid zitiert ihn mit diesen Worten:

„Das kriegen wir auch. Die Engländer werden uns gnadenlos bombardieren. Das ist ein Bombenkrieg.“

Dass er trotz seiner eher unauffälligen Tätigkeit ständig im Visier der Gestapo bleibt, belegt seine abrupte Inhaftierung durch plötzlich aufkreuzende Gestapomänner. Offenkundig ist auch das Radio-Hören aufgeflogen. Tochter Ingrid stellt all dies so dar:

„Das war eine Szene, die ich noch vor Augen habe. Mein Vater hatte Tränen in den Augen, meine Mutter war sehr beherrscht, war leichenblass und ich hab geweint. Er hat uns umarmt und dann haben sie ihn mitgenommen. Am anderen Tag wurde das Radio geholt.“

Bei einer Aussage in der Fahndungsabteilung der Kriminalpolizei, protokolliert am 12.11.1949, schildert der nun wieder als Kaufmann tätige Stöppelmann, was ihm insgesamt zwischen Juni 1944 bis zum Kriegsende widerfahren ist:

„Ich wurde am 12. Juni 1944 durch die Gestapo Osnabrück verhaftet. Als Widerstandskämpfer gegen den Faschismus gehörte meiner Gruppe unter anderem die Zeugen Herr August Staperfeld, Osnabrück, Klöntrupstraße 19 und der Bezirkssekretär der SPD, Herr Hans Lücke, Osnabrück, Parteibüro der SPD, an. Der Grund für meine Verhaftung war: Ich sollte Leiter einer Widerstandsgruppe gewesen sein.“

Folgt man seiner Aussage gegenüber dem Leiter der Anklagebehörde beim Spruchgericht Benefeld-Bomlitz, protokolliert am 8. Juli 1948, wird Stöppelmann im Juni 1944 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung“ durch die Gestapo festgenommen.

In Verhören versucht man aus ihm im Keller der Geheimen Staatspolizei im Schloss ein Geständnis heraus zu prügeln, dass er einer Widerstandsgruppe angehört. Darüber hinaus werfen die Folterer ihm vor, russische Flakhelfer angeblich dazu angestiftet zu haben, bei Luftangriffen statt auf alliierte Bomber ins Stadtgebiet hinein zu schießen.

Stöppelmann weigert sich, ein Geständnis abzulegen. Angedroht wird ihm daraufhin die Anwendung sogenannter „GPU-Methoden“. Offenbar orientieren sich die folternden Nazis hier makabrer Weise tatsächlich an der GPU, also berüchtigten Foltervarianten der Geheimpolizei der Sowjetunion. Gestapo-Mann Naber, später wegen derartiger Dinge verurteilt, wartet bereits auf den Befehl seines Vorgesetzten Enssen zum Quälen. Was dann folgt, schildert Stöppelmann im Originalton so:

„Zu diesem Zwecke nahm Naber aus einem Schrank einen Ochsenziemer, und Enssen und Naber brachten mich in den Kellerraum, der anscheinend eigens für derartige Vernehmungen hergerichtet war: denn die Fenster waren mit schalldichten Eisenklappen versehen, anscheinend, damit kein Laut auf die Straßen dringen sollte.“

An anderer Stelle berichtet das Folteropfer, wie es im Schlosskeller weitergeht:

„Enssen versuchte noch einmal, mich zu einem Geständnis zu bewegen. Er zeigte mit der Hand zum Fenster und sagte zu mir: ‚Herr Stöppelmann, denken Sie an Ihre Frau und Kinder! Gestehen Sie mir, und Sie sind sofort draußen.‘ Ich erwiderte, dass ich mich keines Verbrechens schuldig fühlte und deshalb auch kein Geständnis abzulegen hätte. Daraufhin musste ich mich auf einen dort bereitstehenden Prügelbock legen. Dies war eine etwa 1 Meter lange Bank von etwa ¾ Meter Höhe. Zwei Beine waren etwas höher als die anderen beiden. Mir wurde die Hose heruntergezogen und die Jacke über den Kopf. Ich lag auf dem Bauch, Jenssen hielt mich an den Schultern fest, und Naber schlug mit dem Ochsenziemer auf mein Gesäß ein. Er schlug so lange auf mich ein, bis mir die Sinne schwanden. Nach einiger Zeit fand ich mich auf der Erde wieder. Nachdem man mir einen Eimer Wasser übers Gesicht gegossen hatte, war ich wieder zu mir gekommen. Enssen und Naber setzten mich auf und setzten mich auf eine danebenstehende Bank. Wiederum versuchte Enssen mich zu einem Geständnis zu bewegen. Als ihm dies misslang, wurde ich ein zweites Mal auf den Prügelbock gelegt, und der Akt wiederholte sich von neuem, bis ich abermals das Bewusstsein verlor. Als ich wieder zu mir gekommen war, wurde ich dann von Naber und Enssen in eine Einzelzelle geführt.“

Tochter Ingrid weiß später zu berichten, welche Folgen die geschilderten Torturen für Goswin Stöppelmann gehabt haben: „Bis zu seinem Tod hatte er die Narben auf dem Po und dem unteren Rücken.“

Polizeigefängnis Turnerstraße (Ausschnitt)

Anlässlich der eingangs erwähnten Aussage vor der Fahndungsabteilung der Kriminalpolizei, protokolliert am 12.11.1949, schildert der nun wieder als Kaufmann tätige Stöppelmann, was ihm in der Folgezeit bis zum Kriegsende widerfahren ist:

„Nach neunmonatiger Untersuchungshaft konnte man meine Mitgefangenen und mir keine illegale Tätigkeit nachweisen und wurde daraufhin mit dem Vermerk ‚ohne Urteil‘ wegen Hochverrat und Feindbegünstigung in das Außenlager von Neuengamme nach Kiel-Hassee mit meinem Kameraden Staperfeld eingeliefert.“

Die genannte Untersuchungshaft hatte er im berüchtigten Polizeigefängnis an der Turnerstraße verbringen müssen. Hier gelingt es ihm noch, zuweilen Besuch von Frau und Kindern empfangen zu dürfen. Ein besonderes Zusammentreffen verbindet ihn auch mit Anni Löwenstein, deren Werdegang in der OR bereits beleuchtet wurde.

Mit der Familie Löwenstein sind die Stöppelmanns, folgt man Ingrid Neumanns Darstellung, seit langem sehr eng befreundet. Ein Foto, das beide Familien anlässlich eines privaten Treffens vor der Verhaftung Annis und Goswins zeigt, hatte die OR bereits im Artikel zu Anni Löwenstein veröffentlicht.

 

Die Löwensteins und Stöppelmanns anlässlich eines Treffens vor dem Juni 1944. Hinten stehend: Goswin Stöppelmann. Foto: VfL-MuseumDie Löwensteins und Stöppelmanns anlässlich eines Treffens vor dem Juni 1944. Hinten stehend: Goswin Stöppelmann. Foto: VfL-Museum

Als Stöppelmann gemeinsam mit seinem Freund August Staperfeld den Weg in das Lager bei Kiel antreten muss, gibt es bei den verbliebenen Familienangehörigen die schlimmsten Befürchtungen. Für beide ergibt sich jedoch in den Wirren der letzten Kriegstage, als selbst Nazi-Schergen auf der Flucht sind, die große Chance, sich einem „Hungermarsch“ aus dem aufgelösten Lager hinaus zu entziehen. Freund Staperfeld kommt frei, weil er sich mit seinen schlohweißen Haaren als zu alt zu erkennen gibt. Stöppelmann kommt eine Eingebung zugute, die seine Tochter Ingrid wie folgt wiedergibt, die ihren Vater zitiert:

„‘Ich habe mir selbst einen Tritt in den Hintern gegeben und bin also auch raus und sagte, dass ich entlassen werden sollte. Ich bin bloß wegen Schwarzhörens feindlicher Sender verurteilt worden und ich sollte auch entlassen werden.‘ Die waren froh, dass sie ihn los waren, dass er sie nicht mehr belästigte und waren so mit sich beschäftigt, da ist er einfach mit den anderen zusammen rausgelaufen.“

Mühsam wird der Fußweg nach Hause, den die beiden Freunde mit einem großen, per Ölfarbe aufgebrachten Kreuz auf dem Rücken absolvieren. Die eigenartige Kennzeichnung bildet die Markierung für politische Gefangene. Die Freunde schaffen den Heimweg auch mit Hilfe einer Nonne, die sie zufällig treffen und welche Stöppelmanns älteste Tochter in früheren Jahren im Kindergarten betreut hat. Rein zufällig erkennt sie den Vater des Mädchens auf seinem Marsch wieder. Beide Freunde erhalten im Kloster gutes Essen und sind danach in der Lage, ihren langen Weg fortzusetzen. Tochter Ingrid schildert die glückliche Heimkehr des Vaters ins zerstörte Osnabrück mit eigenen Worten:

„Ja, sie haben sich irgendwo Transportmittel gesucht. Sie mussten natürlich vorsichtig sein, weil viele auf der Flucht waren vor den Nazis oder sie liefen Gefahr erneut verhaftet oder aufgegriffen zu werden. Sie sahen ja auch abenteuerlich aus mit viel zu weiten Klamotten und dem großen Kreuz hinten draufgepinselt und ziemlich abgerissen. Ich weiß nicht, wie sie sich durchgeschlagen haben. Auf jeden Fall stand er eines Tages unten an der Gartenpforte und die Freude war groß, weil Papa wieder da war.“


Erster Aufbruch nach dem Kriege

Goswin Stöppelmann hofft nach der Befreiung am 8. Mai 1945 wie viele andere darauf, dass möglichst früh eine demokratische Aufbruchsstimmung einzieht. Er verfolgt diesen Kurs auch als stellvertretender Vorsitzender der Osnabrücker KPD, die von der britischen Militärverwaltung, lange vor der demokratischen Konkurrenz, als erste Osnabrücker Partei zugelassen wird. Schnell suchen auch die Briten Akteure, die Erfahrungen aus dem Widerstand, aus der Emigration, aus Haft oder Verfolgung mitbringen, um den Wiederaufbau im neuen, jetzt demokratischen Geist zu bewerkstelligen.

Eine Bewährungsprobe für den Wiederaufbau bildet die Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Schon unmittelbar nach der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 bilden sich selbst organisierte „Hilfskomitees für die ehemaligen politischen Gefangenen“, die zunächst als Abteilungen in die allmählich wieder eingerichteten kommunalen Sozialämter integriert werden. Als erste Sofortmaßnahmen werden Unterkünfte besorgt, einmalige Unterstützungszahlungen, Bekleidungshilfen und die Ausgabe von Lebensmittelkarten veranlasst. Es folgen erste Regelungen zu Hinterbliebenenrenten, Steuerermäßigungen, ärztliche Betreuung und Arbeitsvermittlung bis hin zur Errichtung und Belegung von Erholungsheimen.

Im Sommer 1946, ein gutes Jahr nach Kriegsende, werden in der britischen, US-amerikanischen, französischen wie sowjetischen Besatzungszone durch örtliche Ausschüsse insgesamt 250.000 bis 300.000 NS-Verfolgte erfasst. Dazu zählen allerdings ausschließlich die im Inland verfolgten Deutschen. Nichtdeutsche Naziopfer und die etwa sieben Millionen Zwangsarbeiter*innen fallen ausdrücklich nicht darunter.

Konsequenterweise sind im zerstörten Deutschland echte Verwaltungsstrukturen nötig, um auch derartige Aufgaben zu bewältigen. Erst am 13. Oktober 1946 können Kommunalwahlen stattfinden. Ein demokratisch gewählter Stadtrat soll fortan dafür sorgen, dass ihm eine ebenfalls demokratisch ausgerichtete Verwaltung gegenübersteht.

Am 20. April 1947 schaffen die ersten Landtagswahlen im völlig neu entstandenen Bundesland Niedersachsen weitere Verwaltungsstrukturen. Ein Bindeglied zwischen Kommunen und Land bilden die einzelnen Bezirksregierungen. Noch bis 1978 wird der Regierungsbezirk Osnabrück bestehen, der den heutigen Landkreis Osnabrück, die Stadt und darüber hinaus das Emsland und die Grafschaft Bentheim umfasst. Hier wird sich für Goswin Stöppelmann das wohl wichtigste Betätigungsfeld seines Lebens erschließen – wenn auch nur für kurze Zeit.

Dezernent im Strudel des Kalten Krieges

Die Bezirksregierung Osnabrück ist es nämlich, in welcher dem damaligen Kommunisten Goswin Stöppelmann, mit maßgeblicher Unterstützung der Briten, eine besonders verantwortliche Aufgabe übertragen wird. Er wird „Dezernent für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“. Ihm eröffnet sich damit eine geradezu gigantische Aufgabe: Opfer der Schreckensherrschaft, die, oft mit schweren gesundheitlichen Schäden und traumatisiert, in Deutschland überlebt haben oder aus dem Asyl heimkehren, stehen vor zahlreichen bürokratischen Hürden. Bei zu Tode gekommenen NS-Opfern gilt es, Angehörige zu versorgen. Alle möchten zu ihrem Recht kommen und angemessen für ihr erduldetes Leid entschädigt werden. Die meisten benötigen vor allem niedrigschwellige und ganz persönliche Hilfen, für die Goswin Stöppelmann weit über sein Berufsfeld hinaus einsteht.

Visitenkarte Stöppelmanns. Abbildung: Museumsquartier Osnabrück

Zahllose Briefwechsel und Gespräche gehen über seinen Schreibtisch. Immer wieder handelt es sich um Nachweise der eigenen Verfolgung, um Justiz-Unterlagen, um eingeholte Zeugenaussagen bis hin zur Bearbeitung von Rentenansprüchen und Anträgen auf Haftentschädigung. Ehemalige Verfolgte mit Familie, die finanziell schlecht gestellt sind, erhalten überdies Chancen, dass ihre Kinder an Erholungs- und Ferienfreizeiten teilnehmen können. Auch dies ist ein mühevoller Weg: Regeln und Ausführungsbestimmungen für alle Hilfsmaßnahmen müssen, Routinetätigkeit an Stöppelmanns Schreibtisch, sorgsam zusammengestellt und dann auch durchgesetzt werden.

Wie der Alltag des engagierten Dezernenten zuweilen aussieht, beschreibt Tochter Ingrid im mehrfach erwähnten Zeitzeugengespräch durchaus plastisch:

„… nach dem Krieg kriegte er von irgendeinem Nazi ein Auto zur Verfügung gestellt. Er fuhr viel über Land. In Bad Essen in der ehemaligen Villa Rickmer haben sie ein KZ-Erholungsheim eingerichtet. (…) Mein Vater hat viele Lebensmittel bei den Bauern organisiert, ist über das Land gezogen und hat versucht Lebensmittel zu besorgen und dort hinzubringen.“

Zuweilen gleicht Stöppelmanns täglicher Kampf jenem gegen die berühmten Windmühlen. Zusehends mehr bestimmen ehemalige Wehrmachtssoldaten, auch vermehrt reaktivierte alte Nazis die Alltagsarbeit in den Entschädigungsbehörden. Technokraten denken und fühlen in der Regel völlig anders als Menschen, die, wie Stöppelmann, NS-Verfolgung hautnah gespürt haben. Menschliche Schicksale wandeln bei Bürokraten zu eiskalten und leblosen „Akten-Vorgängen“. Die Bediener jener Akten besitzen in den seltensten Fällen ein Gespür dafür, welch unsägliches persönliches Leid die Antragsteller erlebt haben. Denn die Opfer der NS-Diktatur sind oft nicht nur finanziell, sondern auch psychisch und körperlich schwer geschädigt. Gar nicht so selten trauen sie sich nicht einmal in die Amtsstuben hinein und müssen aufgesucht werden. Traumatisierte Menschen sind überdies selten souverän und eloquent genug, um zielsicher die erwünschten Antworten zu geben.

Die Bonner Adenauer-Regierung, die, gemeinsam mit Alt-Nazis auch in Landesministerien, im Zuge des Kalten Krieges eine Rückkehr reaktionärer Kräfte in Machtpositionen zunehmend fördert, unternimmt weitere Schritte, um eine echte Entschädigung aller Nazi-Opfer zur puren Illusion zu machen. 1952 wird Adenauer jenen legendären Satz im Bundestag sagen, der von da an endgültig die Abkehr von einer Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen begründet: „Wir sollten jetzt mit der Naziriecherei einmal Schluss machen, …“. Jene Losung gibt fortan die Direktive konservativer Politik vor. Täter und Mitläufer eilen vermehrt in alte Wirkungsstätten zurück.

Adenauer hat bereits seit 1949 als Kurs fortgesetzt, was zahlreiche Opfergruppen bereits vorher entsetzt und offen empört hat. Leidtragende sind etliche Gruppen von NS-Verfolgten. Viele kommen als Gruppe in den Wiedergutmachungsbestimmungen gar nicht vor: Homosexuelle, „Asoziale“ und Sinti wie Roma, zunehmend auch Kommunisten, werden größtenteils von der Entschädigung ausgeschlossen. Nichtdeutsche Opfer werden nur ausnahmsweise entschädigt. Das „Londoner Schuldenabkommen“ von 1953 wird deren Abfindung sogar „bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage“ verschieben.

Immer häufiger geschieht es, dass Stöppelmanns menschliche und couragierte Vorgehensweise in der eigenen Behörde aneckt. Er gerät in einen Strudel voller Macht- und Kompetenzgerangel. Immer häufiger spielt es dabei eine Rolle, er würde seine berufliche Funktion viel zu ernst nehmen und immer wieder versuchen, mit allen Mitteln das Bestmögliche für ratsuchende Klienten herauszuholen.


VVN: NS-Verfolgte im Sog von Kaltem Krieg und Restauration

In der Tat: Stöppelmann wirkt weit über sein Büro hinaus. Ehrenamtlich aktiv ist er darum zeitgleich in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), deren Gründung er in Osnabrück maßgeblich vorangetrieben hat. Diese Organisation breitet sich schnell flächenmäßig aus und umfasst zunächst kommunistische, sozialdemokratische, jüdische und christliche NS-Verfolgte.

Konsens ist der Geist des Schwurs von Buchenwald: „Entnazifizierung, Entmilitarisierung, Entmonopolisierung, Demokratisierung, Sozialstaatlichkeit, Völkerverständigung und antifaschistische Einheit in ganz Deutschland“.

Im Oktober 1947 organisiert die VVN bereits rund 300.000 Mitglieder in allen vier deutschen Besatzungszonen. Der Rote Winkel – das Kennzeichen der politischen Häftlinge in den Konzentrationslagern – wird zum Verbandszeichen der VVN.

Mit Ausbrechen des Ost-West-Gegensatzes beginnt ein unvorstellbarer Aderlass der VVN. Gegner machen sie mitverantwortlich für das Geschehen in Osteuropa. Denn Diktator Josef Stalin errichtet dort mit seinen Vasallen kommunistisch geführte Diktaturen. Die Westmächte setzen dagegen und unterstützen selbst ultrarechte Bewegungen bis hin zu früheren Faschisten und Nationalsozialisten, um dagegen zu halten. Und auch die Sozialdemokratie verfolgt zunehmend einen antikommunistischen Kurs. Der Hauptanlass dazu passiert in Ostdeutschland: 1946 wird die vormals stolze SPD unter massivem Druck der Stalin-Regierung mit der KPD zur „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED) vereinigt. Selbst fusionsfreundliche Sozialdemokrat*innen werden zunehmend zugunsten stalinistischer Kader aus ihren Positionen gedrängt. Sozialdemokraten, die weiter eigenständig aktiv bleiben wollen, werden, hier gibt es tragische Parallelen zur NS-Zeit, sogar verhaftet und in Gefängnisse gesperrt. Als eine vieler Konsequenz dieses Prozesses empfiehlt die stramm antikommunistische Führungsgruppe der West-SPD, das „Büro Schumacher“, allen Sozialdemokraten, der VVN nicht beizutreten und jede Mitarbeit einzustellen. Im September 1948 folgen die Delegierten des Düsseldorfer SPD-Parteitags dem Schumacher-Kurs. Offiziell gibt es danach einen Unvereinbarkeitsbeschluss für den Fall einer gleichzeitigen Mitgliedschaft in SPD und VVN.

Zweifellos ist ein starker Einfluss der KPD auf die VVN allein aus geschichtlichen Gründen eine logische Folge der erlebten Verfolgung. Etwa die Hälfte der 1933 rund 360.000 KPD-Mitglieder sind im Nationalsozialismus inhaftiert gewesen. Etwa 25.000 sind ermordet worden. Vor allem dieser Blutzoll führt innerhalb der VVN noch eine gewisse Zeit für eine Solidarisierung. 1949 sind immerhin noch 17.000 SPD-Angehörige Mitglied der VVN und missachten dem Ausgrenzungskurs ihrer Parteiführung..

Doch der Zersetzungsprozess schreitet fort. Längst ist es inzwischen nicht bei inhaltlichen Debatten geblieben: Im Zuge der allgemeinen Kommunistenverfolgung entscheidet die seit 1949 regierende Bundesregierung unter Konrad Adenauer 1950, dass die Mitgliedschaft in der VVN mit einer Anstellung im öffentlichen Dienst unvereinbar sei. Das Berufsverbot im öffentlichen Dienst führt bei vielen konsequenten Antifaschisten zu Existenzverlusten. Mehr noch: Mitglieder der VVN werden vom Inlandsgeheimdienst observiert oder können von der Polizei auch an einem privatwirtschaftlichen Arbeitsplatz festgenommen, erkennungsdienstlich behandelt und vom Chef entlassen werden.

Es ist somit auch die Verfolgung aller VVN-Mitglieder, welche schließlich auch Goswin Stöppelmann seine weitere Tätigkeit als Dezernent der Bezirksregierung unmöglich macht. Folgt man seiner ehemaligen Sekretärin Ursula Klinger, geborene Ellenberger und Kind einer rundum sozialdemokratischen Familie, verlässt ihr Vorgesetzter die Regierung – nachzulesen in der oben erwähnten Osnabrück-Anthologie auf Seite 226 – „nach gut einem Jahr.“ Bereits im Jahre 1949 firmiert Stöppelmann offiziell wieder als „Kaufmann“. Im genannten Zeitzeugengespräch mit Ingrid Neumann erwähnt Klinger, dass daraufhin die Kompetenzen von Stöppelmanns Dezernat auf andere übertragen werden.

Stöppelmanns Tochter berichtet von einem, später tragischerweise vernichteten Karteikasten, den ihr Vater über benachteiligte NS-Verfolgte angelegt hat und nach seiner Demission bei der Regierung bei sich zu Hause einlagert. Unvermindert scheint er zu hoffen, jenseits seiner alten Funktion dennoch etwas für seine ehemalige Klientel erstreiten zu können. Womöglich werden sich später daraus Anknüpfungspunkte mit der Sozialdemokratin Alwine Wellmann ergeben, die noch bis 1953 als engagierte Vertrauensfrau für politisch, rassisch und religiös Verfolgte bei der Bezirksregierung amtiert, ehe auch ihre Stelle der Restauration zum Opfer fallen und abgeschafft wird. Wellmanns eigener Werdegang wird ebenfalls noch in einer weiteren Folge der OR-Serie dargestellt werden.

In der Familie Stöppelmann beherrscht nach dem Rückzug Goswins aus der Bezirksregierung eine tiefe Ernüchterung. Im Zeitzeugengespräch formuliert Tochter Ingrid die Enttäuschung so:

„Es gab keine Dienststelle mehr, die da noch aktiv arbeitete und das geriet langsam in Vergessenheit. Das weiß man, in den 50er-Jahren war das nicht mehr opportun, darüber zu sprechen, dass es mal so etwas wie Verfolgung gegeben hatte. (…) Als die Engländer hier waren, lag es wohl auch dran, wer hier gerade das Sagen hatte. Ich weiß, dass mein Vater immer sagte, so lange der Mayor Day noch da war, mit dem konnte man reden, der hat auch vieles bewegt, aber es wurde immer weniger.“


Ausgegrenzt und ausgebootet

Am 26. Juli 1951 wird der Rat der VVN von der Bundesregierung verboten und deren Gesamtdeutsches Büro in Frankfurt unter Einsatz der Polizei geschlossen. Dem Verbot folgt auch das SPD-geführte Land Niedersachsen. Ein später verkündeter Bescheid des Verwaltungsgerichts, das eine Verfassungsfeindlichkeit verneint, dämmt die Ächtung der VVN auch in Osnabrück nur geringfügig. Die Hatz gegen die VVN erfolgt weiter mit voller Härte – und trifft am Ende auch engagierte Antifaschisten wie Goswin Stöppelmann.

Ausgangspunkt des Streits ist eine Beratungsstelle für politisch und rassisch Verfolgte, welche in der Schepelerstraße 6 angesiedelt ist und vorwiegend von VVN-Angehörigen zur Beratung von Hilfesuchenden genutzt wird. Weil die VVN zu diesem Zeitraum als verbotene Organisation gilt, wird ihr immer massiver jede Beratungstätigkeit untersagt. Im Originalton lautet die Lagebeschreibung im Dezernat I 4 der Informationsabteilung des Regierungspräsidenten am 2. Oktober 1951 wie folgt und weist unter anderem auch auf Stöppelmann hin:

„Die Beratungsstelle für ehemals politisch und rassisch Verfolgte wurde kurz nach dem Verbot der VVN bei der ehem. VVN-Angehörigen Franzke, Osnabrück, Schepelerstraße 6, errichtet. Die Beratungsstelle soll anlässlich einer illegalen Tagung der bereits verbotenen VVN am 10.8.1951 in Osnabrück gegründet worden sein. Als führende Mitglieder dieser Beratungsstelle sind hier nachstehend aufgeführte Personen bekannt:

1) Kaufmann Wilhelm Sudowe, Osnabrück, Blumenhallerweg 34
2) Rechtsberater Ewald Adams, Bramsche, Krs. Bersenbrück
3) Vers.Vertreter Goswin Stöppelmann, Osnabrück, Schölerbergstraße 34
4) Lehrerin a.D. Agnes Franzke, Osnabrück, Schepelerstr. 6

Aufgrund der Tatsache, dass auch diese führenden Mitglieder sämtlich der VVN bis zu ihrem Verbot angehört hatten, entstand hier die Vermutung, dass es sich bei dieser Beratungsstelle um eine Tarnorganisation der VVN handelte, die unter einer neuen Firmenbezeichnung eine illegale Fortsetzung der verbotenen Tätigkeit der VVN ermöglichen sollte. Es war deshalb die Schließung der Beratungsstelle beabsichtigt.“

Massive Drohungen, auf mit Verweis auf eine Rechtsbestimmung von 1935 (!), sorgen binnen weniger Wochen dafür, dass der VVN und ihren Mitgliedern jeder Boden unter den Füßen entzogen wird.

Am 25. Oktober 1951 wird in einem Vermerk des Regierungspräsidenten der Verlauf eines Gesprächs mit Philipp Münz und Josef Burgdorf wiedergegeben. Beide erklären dabei ihre Absicht, den Standort Schepelerstraße 6 fortan für die Organisation „Bund der Verfolgten des Naziregimes“ als Ort für Rechtsberatungen nutzen zu wollen. Die Organisation konstituiert sich danach offiziell am 29. September 1951. Münz ist Vorsitzender, der frühere Freie-Presse-Redakteur und KZ-Häftling Josef Burgdorf, mittlerweile wieder von der KPD zur SPD zurückgekehrt, Schriftführer. Einer der Beisitzer ist der Sozialdemokrat und ehemalige NS-Verfolgte Hermann Olthuis.

Auf den ersten Blick gewinnt der Leser den Eindruck, dass hier die exakt gleiche Arbeit unter ähnlichen politischen Vorzeichen und einer beinahe gleichnamigen Organisation fortgeführt werden kann. Was in der Rückbetrachtung, ganz im Gegenteil, eigenartig anmutet: Der Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN) gilt heute in der Rückbetrachtung als eine 1950 durch den Emigranten Peter Lütsches initiierte, eher christdemokratische und dezidiert antikommunistische Abspaltung der VVN. Ob die Situation damals in Osnabrück anders ist und speziell Sozialdemokraten wie Burgdorf und Olthuis versuchen, der Ausrichtung eine andere Richtung zu verleihen? Die Antwort auf diese Frage muss vor weiteren Nachforschungen offenbleiben. Für Stöppelmann und seine Mitstreiter*innen dürfte sich die Sachlage auf jeden Fall fatal darstellen. Am 14. Dezember 1951 heißt es in einem Schreiben des Regierungspräsidenten an die Mitglieder vormaligen Beratungsstelle für politisch und rassisch Verfolgte:

„Die rechtberatende Tätigkeit bestimmter Personen unter der Bezeichnung ‚Beratungsstelle für politisch und rassisch Verfolgte in Osnabrück‘ ist eingestellt worden. Jedenfalls hat der Landgerichtspräsident die betreffenden Personen davon verständigt, dass jede Ausübung einer rechtsberatenden Tätigkeit ohne seine Genehmigung verboten und unter Strafe gestellt ist.“

Ein politisches Engagement Goswin Stöppelmanns, das mit dem seiner Vergangenheit vergleichbar ist, ist in seinem letzten Lebensjahrzehnt nicht mehr nachzuweisen. 1953 erleidet er durch den Krebstod seiner Frau einen heftigen Schicksalsschlag. Später heiratet er erneut und lässt sich in Bad Essen nieder. Nach Aussagen seiner Tochter Ingrid hat er die Kommunistische Partei, die 1956 durch die Adenauer-Regierung verboten wird, wieder verlassen und sich erneut seiner früheren Partei, der SPD, angeschlossen. Seinen Idealen und Prinzipien bleibt er treu. Er stirbt 1961 – nicht zuletzt an den Folgen eines Asthma-Leidens, dass er sich nach Meinung seiner Tochter in den Zeiten der Verfolgung zugezogen hat.

Ein Schlusswort zum Finden und Weitersuchen

Weil es besonders bei Internet-Lektüren nervig ist, Fußnoten zu platzieren oder detaillierte Quellen zwischen Klammern in Sätze einzubauen, sollen die wichtigsten (!) Fundstellen des Beitrags am Ende genannt werden. Womöglich verführen sie ja auch zum tieferen Eintauchen in das Thema. Wo also lässt sich das unten Berichtete nachlesen?

Erwähnenswert ist da zunächst die klassische Buchlektüre. Ein Standardwerk für Erforschende der NS-Geschichte bleibt natürlich der von Thorsten Heese 2015 herausgegebene Sammelband „Topografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück“, bezüglich der Arbeiterbewegung nicht minder das bereits 1985 unter Mitwirkung des Autors von der Geschichtsgruppe Arbeit und Leben herausgegebene Werk „Freiheit-Krise-Diktatur. Zur Zerschlagung der Gewerkschaften in Osnabrück 1933“. Spannend nachzulesen ist der 2020 von Thorsten Heese erstellte Band „Braune Relikte“, der sich ab Seite 74 mit Goswin Stöppelmann und seinem oben erwähnten Atlas zum Frontverlauf befasst.

Die von Gerd Steinwascher 2006 herausgegebene Geschichte der Stadt Osnabrück ist für den Gesamtüberblick eine ebenso unverzichtbare Grundlage wie das ebenfalls von ihm 1995 herausgegebene Quellenbuch „Gestapo Osnabrück meldet …“. Zusätzlich spannend nachzulesen sind bislang unveröffentlichte Interviews, die seit 2004 im Kulturgeschichtlichen Museum, dem heutigen Museumsquartier, im Rahmen des „Forums Zeitgeschichte“ mit Zeitzeug*innen geführt und dokumentiert werden.

Ausgewählt für den folgenden Bericht wurde dazu eine Befragung der mittlerweile verstorbenen Stöppelmann-Tochter Ingrid Neumann. Im vom Autor 2012 mitherausgegebenen Lesebuch „Osnabrück. Heimatstadt zwischen Osnabrück und Kattenvenne“ befindet sich ein bemerkenswerter Aufsatz über Lebenserinnerungen von Ursula Klinger geb. Ellenberger, die seinerzeit Sekretärin Goswin Stöppelmanns in der Osnabrücker Bezirksregierung war. Eine unverzichtbare Quelle bilden auch die Lebenserinnerungen von Werner Lenz, „Gerade Wege gibt es nicht“, die 2006 erschienen sind.

Last, but not least soll diese Quellenreise ein Verweis auf Akten im Landesarchiv beenden. Mittlerweile digital zugänglich sind da beispielsweise die Karteikarten der Osnabrücker Geheimen Staatspolizei (Gestapo) unter der Aktennummer „NLA Osnabrück, Rep 980 Nr. 37852“. Verweist man auf die Akte „NLA Rep 345“, findet man gerichtliche Unterlagen mitsamt Zeugenaussagen zu Folterungen und Verhören. Unter der Kennzeichnung „NLA Rep 430 Dez 902 acc 8/65 Nr. 57“ entdeckt man außerdem unveröffentlichte Informationen über die Beratungsstelle für politisch und rassisch Verfolgte in Osnabrück bei der hiesigen Bezirksregierung. Blickt man auf die Akte „NLA Osnabrück, Rep 980 Nr. 37852“, finden sich dort unter anderem die von Stöppelmann persönlich ausgefüllten Fragebögen zur sogenannten „Entnazifizierung“ – von der er natürlich nicht betroffen war.

All dies mag so nebenbei das Grundproblem historischer Forschung verdeutlichen: Es sind in aller Regel immer nur Bruchstücke aus einem Leben, die viel später bei biografischen Darstellungen verwendet werden können. Dies mag als Entschuldigung für Lücken gelten.

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