OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit!“ – Folge 9: Heinrich Groos

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (dort finden sich auch Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Nazi-Terror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben. Jeden Sonntag um 18.00 erscheint ein neuer Teil. Links zu bislang erschienenen Folgen am Ende des Textes.


Vorbemerkung des Autors:

Aufmerksame Leserinnen und Leser dürften bereits vieles zum Thema in Erfahrung gebracht haben, denn unsere Serie berichtet schon seit über zwei Monaten allwöchentlich über Menschen, die sich zwischen 1933 und 1945 selbstlos im Widerstand gegen das nationalsozialistische Terrorregime engagiert haben. Dabei kommen häufig die Menschen zur Sprache, die unter Lebensgefahr den Zusammenschluss unter Gleichgesinnten gesucht, Informationen ausgetauscht und verbreitet oder gar direkte, oft konspirative Widerstandsaktionen unternommen haben.

Heinrich Groos, über den wir bereits außerhalb der Serie im Dezember 2021 berichtet haben, steht für eine Widerstandsgruppe, die sich schon in der Frühphase der Weimarer Republik seit Ende 1918 mutig allen nationalistischen, rassistischen und militaristischen Entwicklungen entgegengestellt hat. Zumal der genannte OR-Beitrag unverändert dem aktuellen Wissensstand entspricht, erlauben wir uns, ihn folgend zu wesentlichen Teilen erneut zu dokumentieren.


Heinrich Groos
Widerstand gegen rechts: für Groos eine Lebensaufgabe

20. Dezember 1944 stirbt im Konzentrationslager Neuengamme ein Mann, der im heutigen Osnabrück vielfach vergessen ist. Das darf nicht sein, denn die lokale Geschichtsschreibung befasst sich eigentlich vorrangig mit solchen Menschen, die ihr Leben in herausgehobener Position verbracht haben. Erzählte Lebensgeschichten von sogenannten einfachen Leuten bilden eher die Ausnahme. Zu dürftig scheint die Quellenlage über solche Personen. Gleichwohl: Der frühere Osnabrücker Arbeitsamtsdirektor Heinrich Groos (1876-1944) müsste folglich zu jenen zählen, mit denen sich die Lokalhistorie längst eingehender hätte beschäftigen müssen.

Bereits die zusammengefasten Lebensdaten, die hier ausdrücklich vorweggenommen werden sollen, machen dies auf den ersten Blick durchaus deutlich.


Kurzgefasste Lebensstationen

Zu Lebzeiten ist Heinrich Groos zunächst ein geschätzter und recht bekannter Gewerkschaftssekretär. Nach dem 8. November 1918 wird er Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats, später avanciert er zum SPD-Bürgervorsteher und zum stellvertretenden Vorsitzenden des Osnabrücker Stadtrats, der damals noch offiziell „Bürgervorsteherkollegium“ heißt. Seit 1923 ist Groos beinahe zehn Jahre lang Leiter des Osnabrücker Arbeitsamtes. Zehn Jahre später wird er auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 von den Nazi-Machthabern entlassen. Unter elendigen Umständen kommt er am 12. Dezember 1944 im Konzentrationslager Neuengamme ums Leben.


Zeit für ein Heinrich-Groos-Haus?

Nicht nur sein tragischer Tod für die Ideale von Demokratie und Toleranz in einem Todeslager der deutschen Nazis sollte eigentlich Anlass genug sein, mehr aus dem Leben des bekennenden Sozialdemokraten zu erforschen und zu veröffentlichen. Denn bereits lange vor seiner Deportation in das Todeslager Neuengamme brachte Groos alle Voraussetzungen mit, in die Ahnenreihe verdienstvoller Osnabrücker Demokraten eingereiht zu werden. Der folgende Beitrag möge sich somit als kleiner Anstoß begreifen, mehr über Groos zu erforschen und zu berichten.

Last, but not least ist daraufhin die Frage zu stellen: Warum sollte das Gebäude der heutigen Bundesagentur für Arbeit eigentlich nicht zukünftig Heinrich-Groos-Haus heißen? Womöglich lohnt es sich für Verantwortliche, über diese Frage einmal mit Bedacht nachzudenken.

Es gäbe Gründe dafür. Viele davon sind den folgenden Berichten zu entnehmen.


Erste Daten einer Spurensuche

Beginnen wir die bescheidene Spurensuche mit nackten Daten: Folgt man dem Eintrag seines Namens in die berüchtigten Osnabrücker Gestapo-Akten, wird Groos am 1. Mai 1876 in Solingen und damit im Bergischen Land geboren. Dass dies ausgerechnet am 1. Mai, jenem seit 1889 weltweit gefeierten Kampftag der Arbeiterbewegung geschieht, ist natürlich Zufall, aber durchaus bemerkenswert. Wie es sich beinahe für einen Sprössling aus der berühmten „Klingen-Stadt“ gehört, erlernt der junge Heinrich nach seiner Volksschulzeit den Beruf eines Fabrikschlossers, der Metalle bearbeitet.

Bereits mehrere Jahre vor dem Ersten Weltkrieg führt ihn sein Berufsweg nach Osnabrück. Er kommt in Begleitung seiner Frau Emma Helene, mit der er seit dem 10. Mai 1902 nach einer Eheschließung in der Geburtsstadt Solingen verheiratet ist. Spätestens hier wird deutlich, dass er sich als Gewerkschafter und Sozialdemokrat bereits in eigenen Reihen einen Namen gemacht hatte. Gewürdigt wird sein Engagement für die jeweiligen Belegschaften, indem ihn der Deutsche Metallarbeiterverband im Jahre 1911 zum hauptamtlichen Gewerkschaftssekretär wählt und einstellt. Kommunalpolitische Erfahrungen zu sammeln ist Groos allerdings zumindest bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges verwehrt. Aufgrund der gültigen hannoverschen Städteordnung mit dem dort verankerten Zensuswahlrecht – demzufolge sind im Osnabrück des Jahres 1906 von seinerzeit rund 60.000 Einwohnern ganze 3.149 Bürger wahlberechtigt – besteht für die SPD so gut wie keine Chance, auch nur ein einziges Mitglied im Bürgervorsteherkollegium zu stellen.

Erst bei Kriegsausbruch im Herbst 1914 kommt Groos mit seinen Gewerkschaftskollegen eine besonders verantwortliche Funktion zu. Besonders große Bewährungsproben bilden für ihn und seine Mitsekretäre des Metallarbeiterverbandes das Organisieren von zusätzlichen Hilfen, Stützungsgeldern und Rechtsberatungen. Infolge des „Gesetzes über den Vaterländischen Hilfsdienst“ vom 2. Dezember 1916, das die Bildung von Arbeiterausschüssen in allen Betrieben kriegswichtiger Industrien mit mehr als 50 Beschäftigten regelt, erhalten Gewerkschaftsvertreter wie Groos schließlich erstmals Beteiligungsmöglichkeiten in bislang unerschlossenen betrieblichen Abläufen. Erstmals sind auch Gewerkschafter als Arbeitnehmervertreter an vorsichtigen Mitbestimmungsprozessen wie auch in Schlichtungsausschüssen beteiligt.


Distanz zu Krieg und Gewalt

Im Gegensatz zu vielen national-konservativen Sozialdemokraten wie dem späteren Reichspräsidenten Friedrich Ebert, ganz zu schweigen von dessen Wehrbeauftragtem Gustav Noske, erwärmt sich Groos keineswegs für das ferne Kriegsgeschehen und für patriotische Töne. Im Gegenteil: Dies alles ist ihm offenkundig verhasst. Die Tatsache, dass er vor allem aufgrund seines Alters kein Soldat mehr zu werden braucht, hindert ihn nämlich nicht daran, das Massensterben an der Front tief zu verurteilen. Schon im April 1915 schreibt Groos als örtlicher DMV-Geschäftsführer an den Verbands-Kassierer August Thies einen Brief, in dem er eine eindeutige Wertung des Kriegsgeschehens vornimmt, aus der eine tiefe Friedenssehnsucht deutlich wird:
Wenn ich einen Wunsch aussprechen möchte, so den Wunsch, dass bei dem bevorstehenden Pfingstfest auch ein großer Pfingstgeist über die Völker oder vielmehr ihre Regierungen einziehen möge. Blut ist hüben wie drüben mehr als genug geflossen.“

Wie der reichsweite DMV ist auch dessen Osnabrücker Ableger ab 1917, zumindest bis zum Revolutionsbeginn 1918/1919, eng mit der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD) verbunden, die sich im Reich als Abspaltung der Kriegsgegner gegründet hat. Groos selbst verhält sich zu jener Zeit allerdings wie viele seiner örtlichen DMV-Kollegen: Er bleibt weiter eng mit der traditionellen Osnabrücker SPD verankert. Dass andere DMV-Bevollmächtigte wie Gustav Haas zur USPD zählen, spielt bei der praktischen Bewältigung des Alltags für eine längere Zeit kaum eine Rolle.


Im Arbeiter- und Soldatenrat

Am 8. November 1918 ist auch in Osnabrück das Kriegsende und die damit einhergehende Novemberrevolution angekommen. Tonangebender Sozialdemokrat wird nicht nur in jenen Tagen der Gewerkschaftssekretär Otto Vesper, der im Januar 1919 zum Abgeordneten der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung gewählt wird. Doch auch Groos zählt zu den maßgebenden SPD-Genossen jener Zeit. Wie sein Sprecher Otto Vesper zählt Gewerkschaftssekretär Heinrich Groos – neben Johann Kaldenbach vom Ortskartell der Gewerkschaften, Carl Wilkesmann, Wilhelm Dense und Waldemar Sörensen für die Konsum- und Sparvereine – dem ersten Arbeiterrat an, der sich mit den in Kasernen gewählten Soldatensprechern noch am 8. November 1918 zum Arbeiter- und Soldatenrat zusammenschließt. Bis zur Wahl eines neuen Bürgervorsteherkollegiums am 2. März 1919, zu dem dann auch Groos als gewählter Ratsherr zählt, organisiert vor allem der Arbeiterrat, ausgehend von seinem Sitz im Osnabrücker Schloss, gemeinsam mit der altkaiserlichen Stadtverwaltung die Daseinsvorsorge der Bevölkerung. Groos ist in vorderster Reihe dabei.

2-Groos im ASR Osnabrück 1918-19

Gleich zu Beginn der Umbruchszeit tritt er als Redner, der den Unmut alter Kräfte auf sich zieht, in Erscheinung. Anlässlich des Empfangs von Resten des von Osnabrücker Soldaten geprägten 78er-Regiments am Neujahrsmorgen 1919 auf dem Neumarkt hebt Groos sich deutlich von Oberbürgermeister Rissmüller ab. Denn der hatte der Truppe pathetisch mitgeteilt, dass sie „unbesiegt“ zurückgekehrt sei. Groos dagegen betont im Gegenzug für den Arbeiter- und Soldatenrat, dass mit dem alten Kaiserreich endlich „Morsches zusammengebrochen“ sei, wobei er sich sprachlich bewusst an jenen Sätzen orientiert, die in Berlin der Mehrheitssozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November bei der Ausrufung der Republik aus einem Fenster des Reichstagsgebäudes benutzt hat. Dass Groos mit solchen Worten Unmut und Hass der unbelehrbaren Nationalisten auf sich zieht, wird ihm bei seiner Wortwahl bewusst gewesen sein.

Osnabrück, dass von unversöhnlichen Spaltungen der Arbeiterbewegung ebenso verschont wird wie von blutigen Unruhen in Revolutionszentren des Reiches, erlebt seine heftigsten Unruhen infolge des Kampfes vieler Menschen um das nackte Überleben. Vor allem die einfache Bevölkerung hungert und verlangt von den Stadtverantwortlichen anlässlich eines „Hungeraufstands“ am 19. Februar 1919 dringende Abhilfe. Groos und sein Genosse Walter Bubert empfangen Tausende, die mit roten Fahnen und Losungen wie „Raus mit dem Speck!“ herbeigezogen sind, mutig direkt vor dem Rathaus. Im Auftrag der Demonstrierenden handeln beide mit dem altkaiserlichen Magistrat der Stadt aus, dass alle Menschen der Stadt fortan eine deutlich erhöhte Brotration sowie eine einmalige Extraration Pferdefleisch erhalten. Nachdem die Situation unter anderem im Zuge von Auseinandersetzungen vor dem Gerichtsgebäude die ersten Verletzten gefordert hat, beruhigt sich die Lage erst allmählich. Zur Beruhigung trägt ein vielfach verteilter Aufruf des Arbeiter- und Soldatenrates zur Herstellung von Ruhe und Ordnung bei, der auch von Groos mitgetragen und öffentlich vertreten wird. Es wird zugesagt, sämtliche Lebensmittel der Stadt bestmöglich zu erfassen und allgemein zugänglich zu machen. Alle „in den umliegenden Bezirken produzierten Lebensmittel“ sollen „restlos der Bevölkerung zugeführt werden.“
Zumal zumindest bis Mitte 1920, als erneut Proteste ausgelöst werden, keine vergleichbaren Unruhen mehr auftreten, darf davon ausgegangen werden, dass auch Handelnde wie Heinrich Groos in jener Zeit Handlungskompetenz demonstriert und sich Vertrauen erworben haben.

Als Groos nach der Kommunalwahl am 2. März 1919 als Kandidat einer beinahe alle Parteien umfassenden Einheitsliste zum Mitglied des Bürgervorsteherkollegiums gewählt wird, bekommt sein Fortkommen in verantwortlichen Position allerdings einen merklichen Dämpfer. Die Sozialdemokratie hatte ihn gezielt zum Kandidaten für die öffentlichkeitswirksame Funktion des Ratsvorsitzenden, er nennt sich offiziell „Wortführer des Bürgervorsteherkollegiums“, bestimmt. Entgegen aller Absprachen mit den Bündnispartnern aus den bürgerlichen Parteien wählen diese allerdings mit knapper Mehrheit den Zentrumskandidaten Rechtsanwalt Theodor Schwegmann. Auch Groos muss spätestens hier erkennen, dass eine Zusammenarbeit mit bürgerlichen Parteien, insbesondere mit dem in Osnabrück besonders konservativen katholischen Zentrum, häufig schnell ihre Grenzen findet. Zumindest wird ihm zugestanden, fortan als stellvertretender Vorsitzender des Osnabrücker Rats zu fungieren, was sich auch nach der Kommunalwahl anno 1924 fortsetzen wird.


Im Osnabrücker Arbeitsamt

Dass es nach dem Ersten Weltkrieg so etwas wie eine Arbeitsverwaltung gibt, ist eine Errungenschaft der jungen Republik. Die Erfahrungen des Krieges, aber auch der Wunsch der Gewerkschaften, die Arbeitsvermittlung im ganzen Reich einheitlich zu regeln, führen 1920 zu der Errichtung des „Reichsamts für Arbeitsvermittlung“ und 1922 zum Arbeitsnachweisgesetz. All dies verschafft der Arbeitsvermittlung auf kommunaler Ebene, somit auch für Osnabrück, trotz schwieriger Zeitumstände zumindest eine Rechtsgrundlage.

Vorgänger als Arbeitsamtsleiter: Otto Vesper (1875-1923)

Otto Vesper, nach Beendigung seiner Abgeordnetentätigkeit in der Nationalversammlung zurück in Osnabrück, wird erster Leiter des seinerzeit noch städtischen Arbeitsamtes. Angesiedelt ist es seit dem Kriegsende in den unteren Räumen des Schlosses am Neuen Graben. Eingerichtet worden ist das neue Amt vor allem angesichts der mühseligen Wiedereingliederung ehemaliger Weltkriegssoldaten in den Arbeitsprozess. Erstmals werden Arbeitsbeschaffung und Erwerbslosenfürsorge zusammengefasst. Hinzu treten Aufgaben wie die Zuweisung Erwerbsloser in Notstandsarbeiten, Berufsberatung, Lehrstellenvermittlung, die Beschaffung von Unterkunft und Verpflegung für Arbeitssuchende bis hin zur Abfassung statistischer Daten und Gutachten. Eingerichtet wird das Arbeitsamt am 12. November 1919 als selbständiges Dezernat.

Reichsgesetzliche Vorgaben und Anstöße für die Alltagsarbeit gewährt ab 1920 das in jenem Jahr errichtete „Reichsamt für Arbeitsvermittlung“ und das anno 1922 in Kraft getretene Arbeitsnachweisgesetz, das die Arbeitsvermittlung auf kommunaler Ebene organisiert.

Otto Vesper, schon lange vor dem Weltkrieg als Gesellensprecher und Arbeitersekretär einschlägig mit den Sorgen und Nöten Arbeitsloser vertraut, verrichtet sein neues Amt gesundheitlich angeschlagen, jedoch mit großer Hingabe. Als er am 28. Juli 1923 aber plötzlich infolge eines Schlaganfalls stirbt, müssen sich die Verantwortlichen der Stadt umgehend auf die Suche nach einem gleichwertigen Ersatz machen. Die Suche währt nicht lange. Die Wahl fällt auf Heinrich Groos.

Die Rahmenbedingungen seiner Dienstaufnahme sind, betrachtet man das Reichsgeschehen in jenem Schicksalsjahr der jungen Republik, allerdings katastrophal. Noch immer gibt es allerorten bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen. Die Reichswehr marschiert in die links regierten Länder Sachsen und Thüringen ein. Und nicht nur das Ruhrgebiet leidet unter dem Einmarsch französischer und belgischer Truppen, die wiederum massive Reparationsleistungen und Kohlelieferungen des Reiches einfordern. Im Laufe des Jahres grassiert letztendlich eine Inflation, deren verheerenden Auswirkungen in Deutschland bis dahin unbekannt sind. Ein Pfund Margarine kostet irgendwann gigantisch hohe Millionenbeträge. Jeder mühselig angelegte Sparpfennig ist für immer vernichtet. Auch die Republik droht aus den Fugen zu geraten: In München misslingt am 9. November ein erster Putsch, der Hitler an die Macht bringen soll – und die Lage auf dem Arbeitsmarkt, dessen Beschädigungen Heinrich Groos jetzt in seinem neuen Amt lindern soll, ist unverändert dramatisch.

Dass Groos es schafft, in jenen unruhigen Zeiten seine Position als Arbeitsamtsleiter zu halten, spricht für ihn. Die mittlerweile große bürgerliche Mehrheit des Osnabrücker Rates, insbesondere der seit 1927 – wie sein nationalliberaler Vorgänger Rißmüller – auch als Verwaltungschef amtierende rechtsliberale Oberbürgermeister Dr. Erich Gärtner hätten dem Leiter der Arbeitsverwaltung naturgemäß zu jeder Zeit so viele Steine in den Weg legen können, dass eine weitere Arbeit sinnlos geworden wäre.

Dafür erlebt Groos eine historische Aufwertung, die alle kommunalen Arbeitsämter des Reiches betrifft. Am 16. Juli 1927 beschließt der Reichstag in Berlin das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Das vormalige Reichsamt für Arbeitsvermittlung geht in die neu gegründete „Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ über, in deren Aufgaben der reichsweit verbindliche Zusammenschluss von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung festgelegt wird. Auch Organe der Selbstverwaltung sind als Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerschaft vorgesehen. Groos darf somit, als Leiter des neu aufgestellten Arbeitsamtes, daran mitwirken, nicht nur rechtlich abgesicherte Arbeitslosenentschädigungen auf den Weg zu bringen, sondern zugleich die Vermittlung in freie Stellen zu verbessern. Der „schwarze Freitag“ in Gestalt der in New York ausgelösten Weltwirtschaftskrise wird allerdings im Laufe der kommenden Jahre viele Fortschritte bei der Arbeitsverwaltung beinahe zunichtemachen. Eine stetig anwachsende Massenarbeitslosigkeit verwandelt engagierte Arbeitsamtsleiter wie Heinrich Groos häufig nur noch in bessere Konkursverwalter. Wie andere versucht Groos verzweifelt, Arbeitslose befristet zumindest in Gestalt von Beschäftigungsmaßnahmen im Rahmen der „wertschaffenden Arbeitslosenfürsorge“ in Lohn und Brot zu bringen.


Ein Amt im Bauhaus-Stil

Nur selten gibt es für Heinrich Groos und seine Mitarbeiter kleine Lichtblicke. Ein solcher ist für alle vor allem ein hochmodernes neues Domizil, das Osnabrücks Arbeitslosen und Arbeitssuchenden eine zumindest schwellenarme Zugangsmöglichkeit bietet. Für dieses hatte sich der Arbeitsamtsleiter bereits seit Jahren mühsam eingesetzt. Bereits am 3. November 1926 hatte Groos seine persönliche Sicht im Rahmen eines Berichts an andere Verwaltungsstellen zum Ausdruck gebracht. Weitsichtig hatte er betont:

„Die nächsten Jahre werden (…) beweisen, dass die bittere Notwendigkeit vorliegt, mehr als bisher die nationale Arbeitskraft im Interesse des Volksganzen pfleglicher (…) zu behandeln. Hierzu gehört auch eine würdige und zweckdienliche Unterbringung des Arbeitsamtes.“

Arbeitsamt in der Alten Poststraße um 1930. Foto: Lichtenberg-Foto, KMO

Das am 27. Juni 1930 eingeweihte Arbeitsamt an der Alten Poststraße 2 dürfte die Jahre zuvor geäußerten Wünsche seines Leiters erfüllt haben, zumal es vom weltoffenen und republikanischen Bauhaus-Stil geprägt ist. Architekt des Baus ist kein Geringerer als der städtische Stadtbaurat Friedrich Lehmann persönlich, der zu den besonders ausgeprägten Bauhaus-Befürwortern in Osnabrück zählt.

 

Abbau sozialer – und dann demokratischer Rechte

Jenseits der neuen Räumlichkeiten wird die Alltagsarbeit für Groos und seine Mitarbeitenden allerdings immer schwieriger. Seit 1930 ist die SPD nicht mehr in der Reichsregierung vertreten. Anlass waren die von bürgerlichen Koalitionspartnern eingeforderten Verschlechterungen bei der Arbeitslosenunterstützung. Der vom Reichspräsidenten Hindenburg zu „Notverordnungen“ ermächtigte neue Reichskanzler, der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, leitet einen gigantischen Sozialabbau ein. Groos muss als Arbeitsamtsleiter alle Verschlechterungen bei der Höhe der Arbeitslosenunterstützung, vor allem auch bei der zugelassenen Bezugsdauer, die permanent gesenkt wird, mitvollziehen.

Auch die von Brüning durchgesetzten Verschlechterungen zu Lasten der Ärmsten im Lande lassen die Zahlen derer, die in Osnabrück auf öffentliche Hilfe angewiesen sind, kontinuierlich wachsen. Von insgesamt rund 95.000 Einwohnern Osnabrücks leben im Dezember 1932 insgesamt 4.100, die auf Zuwendungen der Wohlfahrt angewiesen sind. 2.400 bekommen die sogenannte „Krisenfürsorge“. Nur noch 1.300 bekommen Leistungen als gesetzlich zustehende Arbeitslosenunterstützung.

Lesende können sicher sein, dass Heinrich Groos verzweifelt über die Lage gewesen sein muss. Hinzu tritt, dass ihm speziell Osnabrücker Nazis tagtäglich mit inbrünstigem Hass und „Mann des Systems“ oder als „SPD-Bonzen“ verteufeln. Menschen wie ihm, keineswegs aber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, wird die Schuld am Elend der Arbeitslosen und für die Angst der Menschen vor ihrem Existenzverlust zugewiesen.

Groos versucht verzweifelt, das Beste aus der Situation zu machen: Seit Sommer 1931 besteht für ihn wenigstens die neue Möglichkeit, mit Mitteln der Arbeitslosenunterstützung und Krisenfürsorge einen Freiwilligen Arbeitsdienst in der Stadt zu organisieren, der unter anderem das neue Fußballstadion an der Bremer Brücke errichtet. Alle Maßnahmen bleiben aber nur die berühmten „Tropfen auf den heißen Stein“.

Nach der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 muss Groos wie alle anderen Genossinnen und Genossen erleben, dass die Demokratie scheibchenweise von ihren Nazi-Feinden liquidiert wird.

Naturfreundehaus nach der Übernahme der SANaturfreundehaus nach der Übernahme der SA
Naturfreundehaus heuteNaturfreundehaus heute


Festnahme im Haus der Naturfreunde

Als aktiver Gewerkschafter und Sozialdemokrat zeigt sich Heinrich Groos vor allem der SPD-nahestehende Ortsgruppe der Osnabrücker Naturfreunde stets besonders freundschaftlich verbunden. Die dort organisierten Sozialistinnen und Sozialisten hatten sich schon 1912 gegründet und ihren Zusammenhalt fortan vorwiegend durch gemeinsame Wanderungen und Bildungs- wie Kulturabende gefunden. In mühevoller Kleinarbeit war es den Naturfreunden bis 1932 mit eigenen Mitteln, Geldsammlungen wie tatkräftigen Bauarbeiten per Schaufel, Hacke und Maurerkelle, gelungen, das noch heute bestehende Naturfreundehaus in Vehrte zu errichten. Man wollte liebend gern ein eigenes Wanderdomizil besitzen und war stolz darauf, alles ohne Hilfe von Dritten eigenständig aufgebaut zu haben.
Die Zusammenarbeit mit Heinrich Groos, der offenkundig auch persönlich ein Mitglied der Naturfreunde ist, zeigt sich dabei einmal sogar besonders erfreulich: Im Oktober 1932 hat man im Haus im Rahmen einer Gemeinschaftsaktion dreißig arbeitslose junge Frauen untergebracht, die vom Arbeitsamt unterstützt werden und in den Innenräumen für alte und gebrechliche Menschen in der Stadt nähen und sticken. Dass die gewohnten Aktivitäten der Naturfreunde zu jener Zeit, ihr Haus betreffend, zurückstehen müssen, ist für alle selbstverständlich.

Als die machthabenden Nazis spätestens im März 1933 damit beginnen, politische Gegner einzusperren und zu schikanieren, muss auch Heinrich Groos als verhasster „SPD-Bonze“ um seine körperliche Unversehrtheit fürchten. In großer Verzweiflung flüchtet er am Ende in das ihm vertraute Naturfreundehaus, um sich dort vor Polizei und braunen Helfershelfern zu verstecken. In die eigene Wohnung, dort lebt er mit seiner Frau Emma Helene, hat er sich längst nicht mehr trauen können. Seine vormalige Arbeitsstätte, das Osnabrücker Arbeitsamt in der Alten Poststraße, wäre als Versteck erst recht nicht mehr in Frage gekommen.

Alles aber hilft nicht. SA-Schergen spüren ihn im Versteck auf, quälen ihn in brutaler Manier und überführen ihn in die berühmte „Schutzhaft“. Als verhasster „Bonze“ ist er der Willkür der NS-Schergen fortan ausgeliefert. Nach seiner Entlassung muss der jetzt arbeitslose Heinrich Groos erleben, dass die SA das vormalige Naturfreundehaus inzwischen in ein „Erholungsheim“ für eigene Anhänger umfunktioniert hat.


Opfer der „Aktion Gewitter“

Irgendwann wird Groos, dem keinerlei finanzieller Ausgleich für seine fristlose Entlassung gewährt wird, wieder eine Stelle gefunden haben. Das städtische Adressbuch von 1937/38 verzeichnet ihn jedenfalls als Angestellten, der mit seiner Frau in einem Mietshaus in der Lengericher Straße 135, 2. Stock, lebt. Als ehemals führender Sozialdemokrat und Gewerkschafter unterliegt er allerdings der ständigen Überwachung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo).

Es gelingt ihm, so dürfen wir vermuten, Kontakte zu ehemaligen Genossinnen und Genossen aufrecht zu erhalten. Doch allen Treffen sind enge Grenzen gesetzt. Jedes allzu offensive Auftreten wird mit der sofortigen Inhaftierung beantwortet. Die Kriegszeit ab September 1939 bietet naturgemäß noch weniger Möglichkeiten, sich Freiräume zu suchen.

Eine Zäsur in der politischen Verfolgung Andersdenkender ist das sogenannte Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Nicht etwa oppositionelle Angehörige der Reichswehr, sondern Aktive der bereits zerschlagenen Arbeiterbewegung bilden fortan die weitaus größte Gruppe der Verfolgten und Inhaftierten.

SS-Chef Heinrich Himmler gibt am 14. August 1944 den Auftrag zur Inhaftierung von ehemaligen KPD- und SPD-Funktionären. Festzunehmen seien alle früheren Reichs-, Landtags- und Stadtverordneten von KPD und SPD sowie alle ehemaligen Gewerkschafts- und Parteifunktionäre der SPD, „gleichgültig …, ob diesen im Augenblick etwas nachzuweisen ist oder nicht.“ Die Verhaftungen erfolgen reichsweit in den frühen Morgenstunden des 22. August. Himmlers Befehl läuft unter dem Decknamen „Aktion Gewitter“. Die Verhaftungen beginnen in den Morgenstunden und werden entweder durch die Gestapo allein oder in Zusammenarbeit mit örtlichen Polizeikräften durchgeführt. Schätzungen gehen von insgesamt etwa 5.000 Verhaftungen aus. Unter ihnen befindet sich auch Heinrich Groos.


Leidenswege in Schloss und Augustaschacht

Die erste Station des beginnenden Leidensweg des gesundheitlich angegriffenen, mittlerweile 68 Jahre alten Mannes, bilden die Gefängnis-Zellen im Gestapo-Keller des Osnabrücker Schlosses. Groos ist nicht allein: Aus den überlieferten Gestapo-Unterlagen geht hervor, dass mit Groos auch weitere 51 Männer im Zuge der Aktion festgenommen werden. Von ihnen werden von den Nazi-Bürokraten 39 der SPD, drei der KPD und zehn den – meist ebenfalls sozialdemokratischen – Gewerkschaften zugeordnet.

Groos muss die ersten Tage seiner Inhaftierung unter besonders elenden Bedingungen ertragen. Der spätere Oberkreisdirektor und Landrat Walter Bubert, der alles nur mit großem Glück überlebt, berichtet nach dem Krieg über die horrende Zeit im Gestapo-Keller:
„Die Häftlinge mussten zum erheblichen Teil auf dem feuchten Zementfußboden schlafen, ohne einen Strohsack oder sonst etwas als Unterlage zu erhalten, und ebenfalls wurden keine Decken zum Zudecken gegeben, so dass die Häftlinge auf dem feuchten Zementfußboden ruhen mussten und sich schwer erkälteten. Bereits am zweiten Tag nach der Verhaftung mussten schon einige Leute dem Krankenhaus überwiesen werden.“

Augustaschacht heute. Foto: Stahlwerksstiftung

Die nächste Station der in Osnabrück Verhafteten bildet das sogenannte „Arbeitserziehungslager“ Augustaschacht, jene bei Ohrbeck gelegene Außenstelle der Osnabrücker Gestapo, das eigentlich für missliebig aufgefallene Zwangsarbeiter vorgesehen ist. Während ihrer kurzen Internierungszeit werden die politischen Gefangenen, verglichen mit den Tagen im Gestapo-Keller und den übel behandelten nichtdeutschen Gefangenen, noch unter deutlich besseren Bedingungen festgehalten. Wenigstens bekommen Groos und die anderen noch regelmäßiges Essen und müssen nicht hart arbeiten. Mehr noch: Einer beachtlichen Mehrheit der Verhafteten gelingt es, mal mehr, mal weniger mühsam, wieder entlassen zu werden.

Heinrich Groos, noch immer sichtlich gezeichnet von der Zeit im Gestapo-Keller, zählt ausdrücklich nicht zu den Entlassenen. Offenkundig gehört er zu denjenigen Menschen mit tiefer antifaschistischer Überzeugung, dem die Nazis mit besonderem Hass begegnen und von denen sie fürchten, dass sie die NS-Diktatur im Zuge der herannahenden militärischen Katastrophe gefährden. Gemeinsam mit seinen SPD-Genossen Heinrich Niedergesäß, Wilhelm Mentup und Fritz Szalinski sowie dem Kommunisten August Wille wird Groos vom Arbeitserziehungslager Ohrbeck gen Norden ins Konzentrationslager Neuengamme gebracht.

 

Endpunkt KZ Neuengamme

Das Konzentrationslager Neuengamme liegt im heutigen Hamburger Bezirk Bergedorf. Das Todeslager wird nach seiner Befreiung mindestens 23.394 Todesopfer, die akribisch in Totenbüchern erfasst sind, verzeichnen. Mehr als die Hälfte dieser Häftlinge sterben direkt im Hauptlager, andere in Außenlagern und sogenannten SS-Baubrigaden.

 

KZ-Häftlinge in Neuengamme. Foto: Gedenkstätte Neuengamme

Äußerst wenig ist heute über den Leidensweg von Heinrich Groos im KZ Neuengamme bekannt. Denn die dortigen Archivbestände weisen große Lücken auf. Die beaufsichtigende SS hatte wichtige Dokumente der Verwaltung im Zuge der Räumung des KZ vernichten lassen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Sicher ist heute allein dies: Heinrich Groos wird als „Reichsdeutscher“ (RD) mit der Haftnummer 54333 im Konzentrationslager Neuengamme registriert. Eingeliefert wird er dort am 1. Oktober 1944. Nach weniger als drei Monaten, am 20. Dezember, kommt er, angeblich verursacht durch eine Darmerkrankung namens „Enterocolitis“, um.

Diese eher kargen Informationen können, innerhalb des Gedenkstätten-Archivs, den Dokumenten des Krankenrevier-Totenbuchs und dem Sterberegister des Sonderstandesamtes Neuengamme entnommen werden. Die in den Dokumenten eingetragenen Todesursachen sind nach Angaben ehemaliger Häftlinge meist willkürlich aus einer vorgegebenen Liste von Krankheiten ausgewählt worden, um die wirklichen Todesursachen wie Hunger, Misshandlungen und tödliche Erschöpfung durch die schwere Zwangsarbeit zu verschleiern. Es bleibt somit unklar, was sich in Wahrheit hinter jener „Enterocolitis“ des 68-jährigen Heinrich Groos verbirgt, zumal auffallend viele Namen im Totenbuch, das auch seinen mit dem Todeszeitpunkt von 4:20 Uhr enthält, mit dieser Diagnose eingetragen sind.

Heinrich Groos zählt damit zu jenen 2892 deutschen Staatsbürgern, die, ausgestattet mit einer seelenlosen Nummer, hinter dem Stacheldraht des Lagers ihr Leben verlieren. Als Todesursache werden von der KZ-Verwaltung Magen- und Darmbeschwerden angegeben.

Die Osnabrücker Mithäftlinge Niedergesäß, Mentrup und Wille sterben nach Groos. Ihre letzte Station bildet vermutlich die „Kap Arcona“, als dieses mit Häftlingen vollbeladene Schiff durch einen englischen Luftangriff bei Kriegsende in der Lübecker Bucht versenkt wird. Die Leichen der Osnabrücker werden nie geborgen.

Auszug aus dem Totenbuch, das die Opfer im KZ Neuengamme samt der offiziellen Todesdiagnose und dem Sterbedatum erfasst. Der Eintrag über Groos wurde vom Verfasser nachträglich markiert. – Foto: Gedenkstätte Neuengamme

Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

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