Ženja Kozinski
Ein jüdischer Offizier opfert sein Leben für die Widerstandsbewegung im OFLAG VI C
Ženja Evgenije (Eugen) Kozinski wurde 1912 in Kiew als Sohn russischer jüdischer Auswanderer geboren, die sich nach der Oktoberrevolution im jugoslawischen Belgrad niederließen. Kozinski wurde Ingenieur. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs heiratete er. Dann wurde der 27jährige Offizier in der königlich jugoslawischen Armee. Das Königreich Jugoslawien wurde durch den Balkanfeldzug 1941 zerschlagen, Serbien nach der Besetzung Jugoslawiens durch die Wehrmacht im April 1941 zu einem Militärverwaltungsgebiet des nationalsozialistischen Deutschlands. Nach dem Feldzug gegen das Königreich Jugoslawien verzeichneten die Deutschen im Mai 1941 337.864 Soldaten und Unteroffiziere sowie 6298 Offiziere als Gefangene. Insgesamt 13.000 gefangene Offiziere wurden in deutsche Gefangenenlager deportiert, an den Standorten Nürnberg, Hammelburg, Osnabrück und Stryj in der Ukraine.Fast der gesamte Generalstab der jugoslawischen Armee, 10.000 Offiziere, wurden im Offiziersgefangenenlager (OFLAG) XIII B in Nürnberg-Langwasser auf dem SA-Zeltplatz des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes vorübergehend untergebracht.
Bei den Kriegsgefangenen der Roten Armee beachteten die Deutschen weder die Genfer Konvention noch die Haager Landkriegsordnung. Sie wurden zwar überwiegend in Kriegsgefangenenlagern, einige auch in Konzentrationslagern untergebracht, aber dort umgebracht, entweder als Sklavenarbeiter ausgebeutet oder zu Tode gehungert. Polnisch-jüdische Soldaten wurden ab 1940 in Konzentrations- und Vernichtungslager nach Ostpolen deportiert. Bei den Offizieren unter den jugoslawischen Kriegsgefangenen hielten sich die Deutschen dagegen weitgehend an die Genfer Konvention. Sogar die Juden unter ihnen waren durch ihren Status als Kriegsgefangene vor der Deportation geschützt. Sie wurden aber häufig schlechter behandelt als ihre nicht-jüdischen Kameraden.
Kollaborateure und Kommunisten
1942 unterzeichneten gefangene jugoslawische Generäle und Offiziere in der Hoffnung auf Entlassung aus der Gefangenschaft eine Loyalitätserklärung gegenüber Ministerpräsident Milan Nedić, der mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborierte und sie beim Kampf gegen die jugoslawischen Partisanen unter Tito und der Durchführung des Holocaust unterstützte. Das führte innerhalb der Lagergesellschaft in Nürnberg zu Konflikten zwischen den Unterzeichnern der Erklärung und den Offizieren, die mit den Tito-Partisanen oder den königstreuen serbisch-nationalen Tschetniks unter Führung von General „Draža“ Miahilović sympathisierten. Die antifaschistisch eingestellte Offiziere, die sich weigerten, diese „Nürnberger Erklärung“ zu unterzeichnen, wurden daraufhin im Lager von den Nedić-Anhängern separiert und im Mai 1942 zusammen mit den Offizieren jüdischer Religion in das OFLAG VI C in Osnabrück verlegt.
Im Stadtteil Eversburg befand sich auf einem 38 Hektar großen Gelände ein Kriegsgefangenenlager, zunächst für französische Kriegsgefangene. Nach dem Balkanfeldzug März/April 1941 wurde es als Kriegsgefangenenlager für 3.247 Gefangene aus dem südosteuropäischen Raum genutzt. Bis 1943 wurde das Lager um weitere 22 Baracken vergrößert, die Zahl der Gefangenen stieg auf nahezu 6.000 an, darunter etwa 450 jüdischen Glaubens. Als jüdische Offiziere am 14. Mai 1942 von Nürnberg nach Osnabrück verlegt wurden, hielten sie es durchaus für möglich, dass die Deutschen „die Dreistigkeit haben, Soldaten in Uniform hinzurichten“. So berichtete es einer der gefangenen Offiziere, der Militärrabbiner Hermann Helfgott, der sich später Zvi Asaria nannte, 1975 in seinem Buch: Wir sind Zeugen. Unmittelbar vor der Verlegung von Nürnberg nach Osnabrück im Mai 1942 erhielt er eine in einem Kuchen versteckte Nachricht aus der Heimat die besagte, dass alle jüdischen Frauen in ein Konzentrationslager deportiert und alle Männer hingerichtet worden seien. Darum waren die jüdischen Offiziere erleichtert, als man sie beim Transport nach Osnabrück nicht separat befördert. Doch bei der Ankunft hieß es sofort: „Juden separat!“ Vergeblich hofften sie, dass ihre Kameraden es nicht zulassen würden, sie von ihnen zu trennen.
Die jüdischen Offiziere wurden in Eversburg in einer eigenen Baracke mit der Nummer 33 untergebracht. Nebenan, in Nummer 34, trafen sie auf 200 weitere jüdischen Offiziere. Insgesamt befanden sich jetzt 400 Juden im Lager an der Landwehrstraße. Längst nicht alle von ihnen waren praktizierende Juden. Die Mehrheit bestand aus „Progressiven“, Kommunisten und Marxisten. Als Professor Árpád Lebl (Löbl), ein Veteran der jugoslawischen kommunistischen Bewegung, gebeten wurde, einen Vortrag über Juden und Zionismus zu halten, erklärte er, dass er überhaupt nicht wisse, was es heiße, ein Jude zu sein, obwohl er eine jüdische Mutter habe. Er sei einfach ein Mensch wie alle anderen. Auch Eugen Ženja Kozinski, der als Jude geboren wurde, deklarierte sich schlicht als jugoslawischer Offizier.
Die Verpflegung im Lager bestand aus Rote-Beete-Suppe mit „sehr wenig drin“, dazu eine Scheibe Brot, etwas Zucker und Margarine pro Tag. Doch die Gefangenen durften über das Rote Kreuz Pakete von ihren Familien bekommen. Wer ein Paket bekam, musste einen Teil abgeben, der von einer Selbsthilfeorganisation im Lager an die Gefangenen verteilt wurde, die nie Pakete erhielten. Doch die jüdischen Gefangenen bekamen bald keine Pakete mehr von Verwandten. Von denen gab es keinerlei Lebenszeichen mehr. Vergeblich wendeten sie sich an das Rote Kreuz, sogar den Vatikan, bastelten heimlich ein Radio, um Nachrichten zu hören. Briefe von Nachbarn in der Heimat berichteten ihnen schließlich, dass alle jüdischen Menschen von dort verschleppt worden waren, wohin, wusste niemand. Von neu eintreffenden Gefangenen hörten sie dann 1944 von den Gräueltaten in den Konzentrationslagern Sajmiste bei Belgrad und Jasenovac auf dem Gebiet des unabhängigen Staats Kroatien, in denen die jüdische Bevölkerung Jugoslawiens erschossen und seit 1942 auch vergast wurde. Auch die Familie von Ženja Kozinski wurde ermordet, nachdem sie vergeblich nach Priština im Kosovo zu fliehen versucht hat.
„Juden Eintritt verboten“
Während die eigentliche Osnabrücker jüdische Gemeinde durch drei Deportationen auf ganze zwölf Personen zusammengeschrumpft war, nahmen am Sabbat-Gottesdienst der „mobilen Gemeinde“ im Lager, wie ihr Rabbiner sie nannte, bis zu 160 der 400 jüdischen Offiziere teil. Den Gefangenen war zwar nach der Genfer Konventionen gestattet, ihre Religion auszuüben, dennoch fürchteten sie mit einem jüdischen Gottesdienst nicht nur die deutschen Wachen, sondern auch die Mitgefangenen zu provozieren. Der Gottesdienst wurde darum schon bald in das Innere einer der Baracken verlegt. Das schützte nicht vor Verfolgung: Am Vorabend des Purimfestes wurde der provisorische Betraum zerstört und die mühsam angefertigten Kultgegenstände vernichtet. Die faschistische Entwicklung in der Heimat färbte auf das Verhalten im Osnabrücker Gefangenenlager ab. Die ohnehin spärlichen Essensrationen (Suppe mit Bohnen, die man zählen konnte) verschlechterten sich. Wer war schuld? Natürlich die Juden. Flugblätter mit antisemitischem Inhalt wurden öffentlich aufgehängt, an den Baracken tauchten Schilder mit der Aufschrift: „Juden Eintritt verboten“ auf – zu einem Zeitpunkt, als sie im übrigen Deutschland längst überflüssig geworden sind, da es hier keine jüdischen Menschen mehr gab.
Der Lagerkommandant Major Ernst Blümel tat nichts gegen die antisemitische Stimmung im Lager. Er führte eine besonders strenge Behandlung von Offizieren, jugoslawischen Bürgern, der Juden durch. In Absprache mit der Regierung von Nedić brachte er die jüdischen Offiziere Mitte Juni 1943 in einen besonderen Teil des Lagers, dem Lager D unter, wo die Bedingungen viel ungünstiger waren. Es umfasste vier Baracken mit den Nummern 35, 36, 37 und 38. Zwei der vier Baracken waren von jüdischen Offizieren belegt. Sie und etwa 350 andere Offiziere, unter ihnen fünf Generäle, waren jetzt isoliert. Im Gegensatz zur Genfer Konvention übertrug Blümel einen Teil seiner Macht auf Gefangene und Lagerälteste aus den Reihen der Kollaborateure. Er verschärfte die Maßnahmen im Lager und gab den Wachen die Befugnis zu schießen, wenn die Befehle des Lagerkommandos verletzt wurden. Lagerkommandant Blümel erteilte über Radiolautsprecher den Befehl, dass Gefangene keinen Kontakt zu jüdischen Offizieren haben durften. In der Begründung des Urteils gegen Blümel wegen Kriegsverbrechens stellte das Gericht nach Kriegsende fest, dass seine „Haltung gegenüber Juden nationalsozialistisch war“.
Die gefangenen Offiziere organisierten Sprachkurse für sieben Sprachen, berufliche Fortbildungen für Anwälte, Apotheker, Historiker, Ingenieure und Veterinäre. „Der Wissensdurst war riesig. Im Vergleich zu den Nichtjuden war die Teilnahme der Juden an den Kursen überaus groß“, erinnerte sich Rabbiner Helfgott. An einer Art „Volkshochschule“ im Lager wurden Vorträge über Wissenschaft und Kunst gehalten.
Im Lager OFLAG VI C befanden sich etliche Künstler und Intellektuelle, darunter Professoren diverser Universitäten, und die kulturelle Avantgarde des zerschlagenen Jugoslawiens: Maler und Schriftsteller, Surrealisten, Expressionisten, Kunsthistoriker, Journalisten und Literaturtheoretiker, aber auch viele politisch Aktive. Einer von ihnen war der Maler, Schriftsteller und Kunsthistoriker Oto Bihalji-Merin (1904 – 1993). Bihalji-Merin hatte unter diversen Pseudonymen wie Otto Biha, Paul Köppe, Peter Thöne, Peter Merin, Pierre Merin und Peter Zell publiziert. Dennoch ist kaum zu glauben, dass sowohl der Gestapo als auch den Abwehroffizieren des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht im Lager entging, welchen aktiven Gegner des NS-Regimes sie in ihren Händen hatten: Bihalji war seit 1924 Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, später auch der Kommunistischen Partei Deutschlands. Er studierte in Belgrad und Berlin, wo er gemeinsam mit dem Osnabrücker Maler Felix Nussbaum im Wintersemester 1924/25 Schüler des Malers César Kleins (1876-1954) an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst war. 1928 kehrte er nach Belgrad zurück und wurde Pilot in der Königlichen jugoslawischen Luftwaffe. Bihalji publizierte zusammen mit seinem von den Deutschen ermordeten Bruder Pavle im Nolit Verlag von 1928-1941 jugoslawische Übersetzungen u.a. von Romanen von Jack London, John Steinbeck, Maxim Gorkij, Franz Werfel und auch Erich Maria Remarque, „um Jugoslawien der modernen europäischen und amerikanischen Kunst und Literatur zu öffnen“.
1929 ging er zurück nach Berlin, wo er bis 1932 als Redakteur der Linkskurve arbeitete, der Zeitschrift des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, der der Kommunistischen Partei Deutschlands nahestand. Er nahm an internationalen Kongressen proletarischer Schriftsteller teil, hielt als Delegierter der deutschen Schriftsteller auf der II. Internationalen Konferenz proletarischer und revolutionärer Schriftsteller in Charkiw 1930 ein Hauptreferat und war befreundet mit Johannes R. Becher, Bertolt Brecht und Anna Seghers. 1933 mußte er aus Berlin fliehen und kam über Prag und Zürich nach Paris. Der Schriftsteller Manès Sperber beschrieb Bihalji „als einen schon in seinen Berliner Jahren angesehenen Intellektuellen.“
Mit Freunden organisierte Bihalji in Paris 1933 eine John-Heartfield-Ausstellung. Zu Beginn des Bürgerkrieges ging er nach Spanien. 1938 initiierte er in London eine Gegenausstellung zur Münchner Ausstellung Entartete Kunst unter dem Titel 20th Century German Art. Im April 1939 kehrte er nach Jugoslawien zurück, wo er nach der deutschen Invasion als Offizier der jugoslawischen Armee gefangen genommen und im Eversburger Lager interniert wurde. Dort blieb er nicht untätig. Wie der Mitgefangene Oto Fredro (geboren als Oto Hofbauer) 1996 in einem Interview von Steven Spielbergs Shoah Foundation berichtete, war Bihalji der Kopf des kommunistischen Widerstands im Lager.
OFLAG VI C, Baracke 37, Zimmer 7
Das Zimmer Nummer 7 in der von jüdischen Offizieren bewohnen Baracke 37 war das konspirative Zentrum der illegalen Arbeit. Dort hielt ein Komitee tägliche Sitzungen ab. Fredro nennt die Untergrundbewegung in einem Interview der Shoah Foundation „the living force in the camp“. In Bezug auf die kulturelle Arbeit im Lager heißt es, speziell Zimmer Nummer 7 der Baracke 37 sei bekannt gewesen für die konstruktiven Ideen, die dort entwickelt wurden. Zu diesen Ideen gehörte aber nicht nur die Organisation von Veranstaltungen, sondern auch die Beschaffung von Waffen und Informationen für den Widerstand gegen das NS-Regime. Die Widerstandsgruppe soll im Tausch gegen Kaffee und Zigaretten aus den Rotkreuz-Paketen ein Maschinengewehr und andere Waffen beschafft haben, die aber nie in Aktion traten, dazu verschiedene Werkzeuge, gefälschte Dokumente, Pässe, und illegale Literatur.
Das Wichtigste für die illegale Arbeit im Lager war jedoch der Kauf von Komponenten für ein Radio, um Nachrichten zu hören. Die Bauteile für das Radio wurden von der Nachtwache am Körper eines Wachhundes in das Lager geschmuggelt. Trotz regelmäßiger Durchsuchungen wurde das fertige Gerät von den Wachen nicht entdeckt. Der jüdische Offizier Rudi Štajn war für die Lagerung und Wartung des Radios verantwortlich. Dafür mussten jeden Tag 10-12 Steine vom Boden entfernt werden, um zum Gerät zu gelangen. Nachdem man die Nachrichten gehört hatte, wurde das Gerät in den Bunker zurückgebracht, die Steine neu angeordnet, befestigt und mit Staub getarnt. Obwohl einmal sogar die Gestapo erschien, um mit Detektoren nach dem Gerät zu suchen, wurde es nicht entdeckt: Die Gefangenen vergruben schnell überall Flaschen, Messer, Behälter und andere Metallgegenstände, so dass die Deutschen mit ihren Detektoren überall auf Metall stießen und die Suche aufgaben.
Die Gruppe in Zimmer 7 gab eine tägliche Parteizeitung namens „7“ heraus, seit dem Frühling 1937 als Fachblatt der antifaschistischen Front. Chefredakteur war Oto Bihalji, der aus seiner Berliner Zeit über einschlägige Erfahrung verfügte. Jeden Morgen ging jemand durch das Lager und verbreitete die neuesten Radionachrichten – auch im Hauptlager C, zum Beispiel beim Abholen der Wäsche oder wenn die Kessel mit Essen aus der Küche geholt wurden. Die Gruppe der Antifaschisten im Lager soll sich auch bemüht haben, die Grenzen des OFLAG VI C zu überwinden und die antifaschistische Idee in den verschiedenen Kriegsgefangenenlagern zu verbreiten. „Wir hatten eine illegale Organisation in mehreren Lagern aufgebaut und besaßen sogar Waffen, um uns bei einem Aufstand deutscher Arbeiter gegen Hitler zu beteiligen“, erzählte Bihalji in einem Interview mit Fritz J. Raddatz anlässlich seines 80. Geburtstages 1983. „Du wirst noch erleben, was die Kommunisten in Deutschland alles fertigbringen werden”, sagte Bihalji in einem Gespräch im Lager zu Militärabbiner Hermann Helfgott (Zvi Asaria), der der mit ihm über einen “Judenstaat” diskutiert, der nach Ansicht der Kommunisten Bihalji ein sozialistischer Staat sein sollte.
Das Komitee in Zimmer 7 beschloss und organisierte auch Fluchten. Oto Fredro erinnerte sich, dass Bihalji, der perfekt Deutsch sprach, im Auftrag des Ausschusses im Lager einen Fluchtversuch unternahm. Er sollte versuchen, die Schweiz zu erreichen, wurde aber an der französischen Grenze aufgegriffen, zu ein paar Tagen Gefängnis verurteilt und dann in das Lager zurückgeschickt. Auch diesmal erkannten die Deutschen den Kommunisten nicht, der in Paris einer der Gründer eines „Instituts zum Studium des Faschismus“ war, 1934 u.a. mit André Malraux, Ernst Toller und Johannes R. Becher zum internationalen Schriftstellerkongress in Moskau gefahren war und öffentlich zu vielen antifaschistischen Aktivitäten aufgerufen hatte. Doch nach Bihaljis Fluchtversuch verschärfte sich die Bewachung im Lager. Leutnant Vladislav Geiger und Leutnant Mirko Vajs wurden erschossen, weil sie das Verbot missachten, die Baracke nach neun Uhr zu verlassen oder auch nur aus der Baracke zu blicken.
Doch das Komitee in Zimmer 7 bemühte sich trotzdem weiter, mit anderen Lagern Kontakt aufzunehmen, zum Beispiel mit der Broschüre „Was jeder Soldat und Arbeiter in Deutschland wissen sollte – Botschaft der Volksbefreiungsbewegung Jugoslawiens zu gefangenen Soldaten“. In Miniaturschrift wurden auf feinem Zigarettenpapier in mikroskopisch kleinen Buchstaben Botschaften geschrieben, die im Umschlag eines Buches versteckt werden konnten, das als Geschenk an Verwandte verschickt wurde. Ženja Kozinski machte die Gefangenschaft stark zu schaffen. Er war einer von den Gefangenen, die sich zunächst ganz in sich selbst zurückzogen. Doch langsam begann er, Verantwortung für anfallende Aufgaben unter den Gefangenen zu übernehmen. Als 120 Offiziere im Lager die Befreiungsfront Narodnooslobodilačkipokret (NOP) gründeten, schloss er sich an und gehörte damit zur Widerstandsgruppe in „Zimmer 7“. Bald wurde Kozinski der „Meister des kleinen Schreibens“, der viele der Botschaften auf Zigarettenpapier verfasst. Doch auf ihn wartete noch eine andere, äußerst gefährliche Aufgabe.
Eine russische Widerstandszelle im Stadtkrankenhaus
Die Gruppe Zimmer 7 wollte nach der gescheiterten Flucht von Bihalji noch einmal versuchen, sich mit anderen Widerstandsbewegungen zu vernetzen. Sie beschloss, Kontakt mit sowjetischen Gefangenen und anderen internierten Sowjetbürgern aufzunehmen, die in Osnabrück und Umgebung lebten und arbeiteten, um festzustellen, ob und welche Art von Organisation unter den Sowjets existierte und sich über die Situation in ihren Lagern zu informieren. Als die Offiziere feststellten, dass die Menschen aus der Sowjetunion sich in einem miserablen Zustand befanden und von den Deutschen noch schlimmer behandelt wurden als die jugoslawischen Gefangenen, lieferten sie ihnen in einem Akt der Solidarität heimlich Kleidung, Schuhe, Zigaretten und Lebensmittel, die von den Mitgliedern der Organisation über verschiedene Kanäle gesammelt wurden. Die Jugoslawen wollen den Sowjetbürgern Informationen über die Situation in den jugoslawischen Lagern und an den Fronten bereitstellen, um Kommunikationskanäle einzurichten, und im Falle des Zusammenbruchs Deutschlands oder unter anderen außergewöhnlichen Umständen möglicherweise gemeinsame Aktionen organisieren.
Auch Verwundete aus dem OFLAG wurden in einer Klinik außerhalb des Lagers versorgt. Daher bekamen die jugoslawischen Offizieren mit, dass es im städtischen Krankenhaus eine russische Widerstandszelle gab, und die Klinik ein „Zentrum geheimen Informationsaustausches“ sein sollte. Die Jugoslawen wollten deshalb unbedingt Kontakt zu dieser Organisation herstellen. Einer der Männer in Zimmer 7 schien dafür prädestiniert zu sein: Zenja Kozinski konnte nicht nur mikroskopisch klein schreiben – in Kiew geboren, sprach er auch gut Russisch. Er sollte deshalb konspirativ Kontakt mit den sowjetischen Widerständlern aufnehmen. Wie gut es war, dass die Wahl auf Kozinski fiel, sollte sich später noch zeigen. Er besorgte sich zur Tarnung die Erlaubnis, zum Hospital zu gehen und dort Medizin abzuholen.
Mit dem Kopf nach unten aufgehängt
Doch die Deutschen erfuhren von dem Plan. Sie fanden unter den Russen einen Verräter, der ihnen half, diese Aktion aufzuspüren. Kozinski wurde als Mitglied der Befreiungsfront NOP–Narodnooslobodilački enttarnt. Insgesamt sechs jugoslawische Offiziere wurden in Osnabrück festgenommen. Kozinski war mit allen jüdischen Offizieren des OFLAG VI C im August 1944 nach Straßburg und von dort am 9. September nach Barkenbrügge in Pommern im Landkreis Neustettin in Hinterpommern verlegt worden, wo er verhaftet, in Handschellen abgeführt und wieder nach Osnabrück gebracht wurde. Von dort kehrte er nicht mehr zurück. Das Komitee im Lager war äußerst besorgt über seine Verhaftung, weil der Offizier aus Zimmer Nr. 7 über alle Mitglieder der Widerstandsgruppe und ihre Aktivitäten detailliert Bescheid wusste. Wenn die Gestapo ihn zum Sprechen bringen würde, wäre die gesamte Gruppe verloren. Doch der junge Offizier verriet sie nicht. Der 32jährige Kozinski entwickelt ungeahnte Kräfte. Obwohl er mit Handschellen gefesselt war, gelang es ihm auf dem Transport von Pommern nach Osnabrück, den Wachen zu entkommen und aus dem Zug zu springen. Doch er wurde wieder gefasst und dabei verwundet. Man brachte ihn ins Gefängnis der Gestapo. Ein dort tätiger Dolmetscher bekam mit, daß sieben Serben durch die Gestapo vernommen werden und berichtete später, dass diese Offiziere zu einer Untergrundbewegung im Lager Eversburg gehörten.
Der zum Eekenpacht-Kreis gehörende Osnabrücker Sozialdemokrat Goswin Stöppelmann, selber Häftling der Gestapo, berichtete nach dem Krieg, wie die Jugoslawen nach der Vernehmung aussahen: „Ihre Leiber waren zerschunden, ich konnte deutlich die Striemen, die durch den Ochsenziemer verursacht waren, feststellen. Mir haben russische und jugoslawische Offiziere erzählt, dass sie von Gestapobeamten mit dem Kopf nach unten wiederholt zwischen zwei Schränken aufgehängt worden wären und zwar jeweils für die Dauer von drei Stunden, dann wurden sie abgenommen, erhielten drei Stunden Ruhe, worauf sie abermals auf die Dauer von drei Stunden auf die gleiche Weise aufgehängt wurden. Ein jugoslawischer Offizier entleibte sich, weil er diese Folter nicht mehr ertragen konnte.“
Der Dolmetscher der Gestapo berichtete, dass ein Mitglied der Widerstandsgruppe im Lager, der die anderen Mitglieder verraten und „im Sinne der Behauptung der Gestapobeamten“ belasten sollte, eines nachts Selbstmord durch Aufschneiden der Pulsadern mit einer Rasierklinge verübte. Nach anderen Berichten soll sich Kozinski mit einer Glasscherbe die Adern aufgeschnitten haben. Ženja Kozinski war bewusst, über welche wichtigen Informationen er verfügte und wieviel Leben von ihm abhingen, und entschied sich zum Schutz seiner Kameraden zum Suizid. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Osnabrück begraben. In der Gräberkartei ist als Todesdatum für Kozinski der 11. November 1944 vermerkt. Die Gefangenen in Barkenbrügge hörten, dass er Selbstmord begangen haben sollte. Nicht alle glaubten das, sondern nahmen an, dass ihn die Gestapo umgebracht hatte.
In Barkenbrügge sollte die letzte jüdische Gemeinde in Deutschland im allerletzten Moment doch noch liquidiert werden. Das Komitee im Lager erfuhr von einem antifaschistisch eingestellten deutschen Unteroffizier, der in der Kommandantur arbeitete, von einer Liste mit den Namen von 200 kommunistischen Offizieren und denen aller Juden, insgesamt ungefähr 600 Personen, die der Gestapo übergeben werden sollten. Die Widerstandsbewegung bereitete sich daraufhin auf einen Ausbruch vor und begann einen Tunnel zu graben, der direkt unter dem nächsten Wachturm herauskommen würde. Doch die schnelle Offensive der Roten Arme verhinderte, dass die Liquidation stattfand. Einige Gefangene waren der Meinung, dass sie ihr Überleben dem Lagerkommandant aus Straßburg, Graf von Oldenburg, verdankten, der mit den Gefangenen nach Barkenbrügge kam. Er soll den Befehl, die Offiziere zu liquidieren, nicht ausgeführt haben und verhielt sich anders als der Osnabrücker Lagerkommandant Blümel korrekt, ohne die Juden unter ihnen zu diskriminieren.
Am 27. Februar 1945 wurde befohlen, das gesamte Lager in Barkenbrügge zu evakuieren. Am Tag darauf machten die Offiziere sich bei Schnee und Kälte auf den Weg nach Westen und erreichten nach 30 Kilometern zu Fuß am späten Abend nach Einbruch der Dunkelheit das Kriegsgefangenenlager OFLAG II D Große Born in Rederitz (Nadarzyce). Die dort befindlichen kriegsgefangenen polnischen Soldaten und Offiziere waren bereits einen Monat zuvor, am 28. Januar 1945, evakuiert worden. In diesem Lager, in dem General Erwin Rommel in einer künstlich angelegten Wüste das Afrikakorps ausgebildet hatte, befanden sich aber noch etwas tausend bei der Evakuierung zurückgelassene polnische Offiziere, die krank und unfähig gewesen waren zu marschieren. Die deutschen Wachen waren schon ausgedünnt. Das nutzten die jugoslawischen Offiziere zur Flucht. Sie versteckten sich in den leeren Kasernen, einem verlassenen Theater, in Krankenwagen oder in Heuhaufen. Einigen gelang es, Uniformen von polnischen Offizieren zu bekommen und sich so als kranke polnische Offiziere zu tarnen.
Insgesamt gelang es 600 jugoslawischen Offizieren, darunter 200 Juden, sich abzusetzen und zu verstecken. Otto Bihalji-Merin übernahm, wie von der Widerstandsbewegung für den Fall der Befreiung geplant, mit zwei weiteren Offizieren mit Kriegserfahrung die militärische Führung. Die drei retteten die übrigen Offiziere durch Kontaktaufnahme mit der in unmittelbarer Nähe befindlichen polnischen Armee vor der Bombardierung durch ein friendly fire, denn die Polen ahnten nicht, dass sich auf dem Hügel vor ihnen ein Lager für polnische kriegsgefangene Offiziere und Soldaten befand, das sie beinahe beschossen hätten. In dem Lager waren fast alle polnischen Offiziere interniert worden, die sich am militärischen Aufstand der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) gegen die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg in Warschau im Spätsommer 1944 beteiligt hatten. So entgingen nicht nur die wie durch ein Wunder bis dahin überlebenden jüdischen und auch etliche kommunistische Offiziere aus dem OFLAG VI C, sondern vermutlich auch einige am Warschauer Aufstand beteiligte polnische Offiziere dank der gut organisierten politischen Widerstandsbewegung unter den jugoslawischen Offizieren des OFLAG VI C dem Tod im letzten Augenblick.
Sechs der Offiziere aus dem OFLAG VI C liegen auf dem jüdischen Friedhof in Osnabrück begraben, darunter Ženja Kozinski. Ohne sein Opfer hätte es dort viele weitere Gräber von Offizieren aus der Baracke 37 gegeben. Auf Bitten eines der früheren Kriegsgefangenen, Leutnant Lederer, wurden am 16. Dezember 1945 Grabsteine für die ermordeten jugoslawischen Offiziere auf dem jüdischen Friedhof an der Magdalenenstraße aufgestellt. Am Tag nach der Einweihung erreichte Rabbiner Helfgott (Asaria) die Nachricht, dass sämtliche Grabsteine geschändet und umgeworfen wurden. In der Heimat von Kozinski ging man anders mit der Erinnerung an den tapferen jungen Mann um. Ehemalige Gefangene wie der Musikprofessor Rafael Blam haben im Namen der jüdischen Gemeinde Belgrad das Grab in den 1960er Jahren besucht und dort einen Kranz niedergelegt. Blam sprach noch oft von Kozinski, den er sehr mochte: „Er war einfach ein ganz lieber Mensch.“ Noch weitere Mitgefangene vergaßen Kozinskis Opfer nicht und erinnerten nach dem Krieg an seinen Heroismus, so Nikola Vujanović in dem Aufsatz Junaštvo ŽvuJv Kozinskog (Heroism of ŽvuJv Kozinski) in „Parteiarbeit im Kriegsgefangenenlager in Osnabrück“, einer von Kulture, Belgrad, veröffentlichten Sammlung von Erinnerungen an Aktivisten der jugoslawischen revolutionären Bewegung 1941-1945.
Sima Karaoglanović, ein Offizier aus der Baracke 37, schrieb nach seiner Freilassung ein Buch über Kozinski mit dem Titel Dnevnik Ženje Kozinskog. Otto Bihalji-Mein hat in Belgrad 1947 einen Bericht über seine Lagerzeit Do Vidjenja o Octobru (Wiedersehen im Oktober) verfasst, der auch verfilmt wurde. Sämtliche Materialien sind bis heute in Osnabrück nicht zugänglich. Es ist höchste Zeit, dass Aufsätze und Buch auf Deutsch übersetzt und publiziert werden, um Ženja Kozinski und die Widerstandsbewegung im OFLAG VI C in Osnabrück weiter erforschen und angemessen würdigen zu können. Auch die jugoslawische Verfilmung von Oto Bihalji-Merins Erinnerungen an seine Zeit in Osnabrück von 1950 mit dem Titel The Red Flower wäre sicher sehenswert.
Ein Verein setzt sich seit Jahren für die Erinnerung an das OFLAG VI C und den Erhalt der letzten Baracke Nr. 35 ein. Der Katalog zur Ausstellung über das Offizierslager VI c – Kriegsgefangene in Osnabrück ist beim Verein Antikriegsbaracke Atter-Osnabrück e.V. www.baracke35.org mail@baracke35.org erhältlich. Die Baracke befindet sich an der Landwehrstraße.
Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
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