Donnerstag, 2. Mai 2024

Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 35: Heinrich Niedergesäß

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.


Heinrich Niedergesäß
Das Opfer eines Haft-Martyriums sondergleichen

Nach dem Regierungsantritt der Hitler-Regierung am 30. Januar 1933 dauert es nur eine kurze Zeit, um eine Verfolgungswelle nie gekannten Ausmaßes in Gang zu setzen. Neben Abgeordneten und Gewerkschaftssekretären der sozialistischen Arbeiterbewegung sind es auch hauptamtliche Parteisekretäre, die auf den braunen Fahndungslisten stehen. Ein besonderes Hassobjekt der Osnabrücker Nazis ist Heinrich Niedergesäß (1883-1945), der seit 1928 Osnabrücker SPD-Parteisekretär gewesen ist. Am Ende wird er Opfer eines Haft-Martyriums, das in dieser Heftigkeit nur wenige erleiden müssen. Wer war dieser stets freundlich anmutende Mann aus Ostfriesland?


Organisationstalent aus Norden

Heinrich Niedergesäß erlernt den Beruf eines Schriftsetzers. Es ist ein Berufsstand mit besonders hohem Organisationsgrad. Der junge Heinrich schließt sich in seiner Heimatstadt Norden schon früh den Freien Gewerkschaften und der Sozialdemokratie an. Nach dem Ersten Weltkrieg ist er, folgt man den biografischen Daten im Buch „100 Jahre SPD in Osnabrück“, SPD-Vorsitzender in seiner Heimatstadt. Parteiarbeit möchte er schon früh zu seiner Lebensaufgabe machen. Indem er 1928, er ist immerhin schon 45 Jahre alt, von den Osnabrücker Sozis zu ihrem Parteisekretär gemacht wird, kommt auf den gebürtigen Ostfriesen vor allem jede Menge Netzwerkarbeit zu. Denn sozialdemokratische Organisationsarbeit bedeutet in jenen Jahren weit mehr als die Betreuung von weit mehr als 1.000 örtlichen Parteimitgliedern. Nicht minder eng miteinander verbunden sind Angehörige der sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften, der Konsumvereine, der hiesigen Arbeitersportbewegung, der Sozialistischen Arbeiterjugend, der Arbeiterwohlfahrt, einem Arbeitersängerbund, der Naturfreunde, der Wehrformationen Reichsbanner bzw. Eiserne Front bis hin zu kleinen Zusammenschlüssen wie dem Arbeiter-Radiobund, in dem sich Niedergesäß auch persönlich engagiert.

Alles muss von einem Sekretär zusammengehalten werden. Einfach ist dies nicht. Wirft man allein einen Blick auf die in der Freien Presse abgedruckten Versammlungstermine, ist es bei allen, oft in Stadtteilgruppen zusammengefassten Organisationsbereichen durchaus üblich, sich wöchentlich zu treffen. Steht gar die Aufgabe an, eine zentrale Kundgebung oder Demonstration zu koordinieren, gelingt es immer wieder, einige Tausend Gleichgesinnte zusammen zu bringen. Die passiert nicht von selbst.

Das Büro von Niedergesäß macht die Wahrnehmung seines vielfältiges Aufgabenfeldes allerdings deutlich leichter. Die reichlich aufgesuchte Arbeitsstätte befindet sich inmitten des Gewerkschaftshauses am Kollegienwall. Ist beispielsweise etwas mit Sekretären der Einzelgewerkschaften oder mit sozialdemokratischen Betriebsräten zu regeln, reicht oft ein Gang über wenige Flure.

Als Niedergesäß seine Stelle angetreten hat, herrscht noch eine deutlich optimistische Grundstimmung. Im gleichen Jahr fährt die SPD bei der Reichstagswahl beinahe 30% der Stimmen ein und stellt in Berlin mit Hermann Müller den Reichskanzler. Gedrückt wird die Euphorie vor allem durch die Blockadepolitik der bürgerlichen Koalitionspartner aus christdemokratischem Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei und vor allem der großbürgerlich-nationalliberalen Deutschen Volkspartei. Auch der rechtsnationale Reichspräsident Paul von Hindenburg unternimmt alles, um mit Riesenlandgütern versehene Großjunker, Bänker und Wirtschaftsbosse vor jeglichen Zusatzabgaben zugunsten ärmerer Bevölkerungsgruppen und Fürsorgeprogrammen zu schützen.

Der Zusammenbruch der New Yorker Börse am legendären „Schwarzen Freitag“ am 25. Oktober 1929 soll alles ändern. Panik erfasst nach kurzer Zeit auch die deutsche Wirtschaft. Es beginnt die dramatische Zeit ständig steigender Massenarbeitslosigkeit. Zeitgleich wächst der Druck der bürgerlichen Koalitionspartner, das deutsche Kapital vor höheren Sozialversicherungsbeiträgen, insbesondere bei der seit 1927 auf Druck der SPD eingeführten Arbeitslosenversicherung, zu entlasten. Bis März 1930 steigt die Rate auf drei Millionen Erwerbslose. Aufgrund der unüberbrückbaren Differenzen mit den Koalitionspartnern reicht Kanzler Hermann Müller daraufhin am 27. März 1930 den Rücktritt seines Kabinetts ein. Am 30. März setzt Reichspräsident von Hindenburg, im Einvernehmen und gut arrangiert mit Kapital und einflussreichen Bänkern, Heinrich Brüning als neuen Kanzler ein. Der wiederum leitet in der Folgezeit einen beispiellosen Sozialabbau ein. Massenarmut wird auch in Osnabrück forciert produziert und ist schnell unübersehbar.


Osnabrücks Rechte marschiert

Auch in der Hasestadt macht die vereinigte Rechte aus Deutschnationalen und NSDAP die Demokratie und das „Judentum“ für die Krise verantwortlich. Das Wochenblatt „Der Stadtwächter“, das vom Heilpraktiker Dr. Schierbaum herausgegeben wird, wird noch vor dem Aufkommen der Nazis zum Zentralorgan antidemokratischer und antisemitischer Hetze. Mit Gesinnungsfreunden tritt Schierbaum zur Kommunalwahl 1929 an – und erhält immerhin die dritthöchste Zahl der abgegebenen Stimmen. Ein Jahr später erhalten die Nationalsozialisten anlässlich der Reichstagswahlen bereits bedrohliche 27,6 Prozent der Stimmen. Bei den nationalen Wahlen von 1928 hatten sie noch reichsweit ganze 2,6% erhalten.

Niedergesäß und seine Genossinnen und Genossen wissen spätestens jetzt, was die Stunde geschlagen hat. Eine seiner Hauptaufgaben wird die Organisation eines Ordnerdienstes, um die eigenen Versammlungen vor immer militanter auftretenden SA-Horden zu schützen. Er schreckt aber auch nicht davor zurück, gemeinsam couragiert bei den Braunen aufzutreten und aktiv mit eigenen Wortbeiträgen dagegen zu halten.


Saalschlacht bei Laumann

Niedergesäß ist sich nie zu schade, mit gleichgesinnten Genossen auch ins nahe Umland zu reisen, um nationalsozialistischer Demagogie laut zu widersprechen. Dem Autor dieses Aufsatzes liegt dazu eine persönliche Aufzeichnung aus Erinnerungen des Bramscher Sozialdemokraten Fritz Timmer vor, welche die Funktion von Niedergesäß bei derartigen Anlässen recht gut wiedergibt.

Ort des Geschehens ist dabei das Bramscher Hotel Laumann. Man schreibt den 21. Januar 1931. Die Nazis der Ortsgruppe Achmer haben das Hotel angemietet, um eine Rede ihres angebeteten Gauinspektors Gronewald zu hören. Geschickt und gut organisiert haben Niedergesäß und Genossen für eine ordentliche Mobilisierung Gleichgesinnter gesorgt. Sie übertreffen die Nazis im Saale zahlenmäßig deutlich. Zeitnah angerückt sind aufgrund der Hilferufe ihrer Gesinnungsfreunde aber mittlerweile einige Dutzend SA-Männer aus Osnabrück, die in einem Nebenraum des überfüllten Versammlungsraums Quartier beziehen.

Nach Gronewalds erwartbaren Hasstiraden auf Republik, Judentum und Sozialdemokratie meldet sich Niedergesäß zu Wort. Die Gastgeber gestehen ihm 10 Minuten Redezeit zu. Der Parteisekretär stellt sich in vollem Gegensatz zu Gronewald hinter Demokratie und Republik. Zeitzeuge Timmer schreibt:

„Die Nazis suchten ihn durch Unterbrechungen das Reden unmöglich zu machen. Die Nazi-Rüpel wurden jedoch von unseren Genossen in Schach gehalten. Als dann dem Genossen Niedergesäß das Wort entzogen wurde, erklärte derselbe, dass wir an dem weiteren Verlauf der Versammlung – welche schon einen stürmischen Verlauf genommen hatte – kein Interesse mehr hätten. Unsere Anhänger wurden durch ihn aufgefordert, den Saal zu verlassen. Unter Absingen des Liedes ‚Brüder zur Sonne zur Freiheit‘ versuchten unsere Genossen und Anhänger, den Saal zu verlassen, als plötzlich die Verbindungstür zwischen dem kleinen und großen Saal aufgerissen wurde, und schon war die Schlägerei im Gange. Die Osnabrücker SA – unter Führung des Bankbeamten Kassel – eröffnete ein Bombardement mit leeren Weinflaschen. (…) In ganz kurzer Zeit war der Kampf zu Ende.“

Genüsslich berichtet der Zeitzeuge, dass die Nazis, zumindest noch hier, eine deftige Niederlage eingefahren hatten. Was nach derartigen Erlebnissen bleibt, sind dauerhafte Feindlbider jener, welche die Nationalsozialisten als Rädelsführer sehen. Und in dieser Liste besitzt Heinrich Niedergesäß spätestens jetzt einen vorrangigen Platz. Fest schwören sich die Braunhemden bereits bei solchen Anlässen, eines Tages mit Menschen wie dem engagierten Parteisekretär abzurechnen. Sie werden es tun.

Spätestens nach den letzten Reichstagswahlen am 5. März 1933 sind alle Schranken faschistischer Gewalt endgültig beseitigt. Am 11. März wird das Gewerkschaftshaus samt SPD-Parteibüro gestürmt und demoliert, Mitarbeitende zusammengeschlagen. Sein Büro wird Niedergesäß fortan nie mehr betreten dürfen. Schutzlos ist er, wie alle Gleichgesinnten, jetzt der NS-Gewalt ausgeliefert.


Im Visier der Gestapo

Es zählt zu den Eigenheiten des nationalsozialistischen Terror-Regimes, das dessen Bürokraten penibel darauf bedacht sind, alle Verfolgungen der eigenen Todfeinde akribisch zu erfassen. Heute Lesende müssen sich nur die nackten Daten auf der unter der Quellenangabe „NLA OS Rep 439 Nr. 29403“ im Osnabrücker Landesarchiv einlesbaren Gestapo-Karteikarte vor Augen führen, was Niedergesäß seit 1933 widerfährt. Wir wollen es der Einfachheit halber wörtlich wiedergeben, Abkürzungen ausschreiben und unerhebliche Geschäftszeichen weglassen:

„In seiner Wohnung sollen laut Lagebericht noch Zusammenkünfte mit Wiltmann und Burdorf stattfinden. (12.07.1933) am 2.6. festgenommen, am gleichen Tage wieder entlassen, muss sich täglich auf der politischen Polizei melden.“

Ganz behutsam versucht der arbeitslose Parteisekretär, sich und seiner Frau Frida eine Existenz zu sichern. Lange ist er arbeitslos und lebt mit seiner Frau von wöchentlich rund 15 Reichsmark Arbeitslosenhilfe.


Problembeladene Existenzsuche

Heinrich Niedergesäß macht es notgedrungen wie viele Gleichgesinnte, die sich fortan im Handel und Einzelhandel betätigen. Alle Genossinnen und Genossen können dabei auf alte Kontakte zurückgreifen, was einen gewissen Stamm an Kunden und Geschäftspartnern ermöglicht. Probleme sind im Fall von Heinrich Niedergesäß allerdings mit dem Standort seiner selbständigen Tätigkeit verbunden.

Dass Zeitumstände zuweilen widerwärtige Alternativen produzieren, dokumentieren Hintergründe  jener Geschäftsübernahme, mit deren Hilfe sich der bis dahin arbeitslose Niedergesäß endlich wieder die ersehnte neue Existenz aufbauen kann. Im Frühjahr stehen er und seine Frau nämlich vor der äußerst schwierigen Frage, ein vormals jüdisch geführten Ladenlokal in der Hasestraße 60 zu übernehmen.

Fritz Mosbach ist an diesem Ort bis dahin der Inhaber eines Konfitüren, Tee- und Kaffeegeschäftes, das auch unter dem Namen „Knusperhäuschen” eingetragen ist. Seit dem NS-gesteuerten Boykotts jüdisch geführter Einkaufsstätten am 1. April 1933 erleben zahllose der betroffenen Betriebe einen dramatischen Niedergang und sehen sich in ihrer immensen Not zum Verkauf von zuvor gut laufenden Geschäften gezwungen.  Die Mosbachs werden sich im April 1934 von Osnabrück zunächst nach Hörde abmelden. Danach werden sie über die Niederlande und Großbritannien nach Südafrika gelangen und dort sesshaft werden.

Heinrich Niedergesäß vereinbart schließlich mit Fritz Mosbach tatsächlich für den 4. April 1934 die Übernahme des Ladenlokals in der Hasestraße 60, wo das Ehepaar Niedergesäß auch die Wohnung der Mosbachs übernimmt. Daraus folgern im Interesse einer redlichen Geschichtsaufarbeitung natürlich Fragen: War die Geschäftsübernahme beiderseits und einvernehmlich die Konsequenz einer jeweiligen Notsituation? Oder nutzt Niedergesäß gar die Notlage des Vertragspartners zum persönlichen Vorteil?

Auf den Tisch legt der unter ständiger Gestapo-Aufsicht handelnde Niedergesäß zunächst eine Anzahlung für Einrichtung und Warenbestand, die er sich mutmaßlich aus mühsam zurückgelegter Arbeitslosenhilfe zusammengespart hat. Laut eidesstattlicher Aussage von Johanna Mosbach von 1958, Niedergesäß ist bereits 13 Jahre tot, ist den Mosbachs die weitere Zahlung in den Folgejahren verweigert worden.

 

Erinnerungstafel in der Hasestraße 60. Foto: ORErinnerungstafel in der Hasestraße 60. Foto: OR

Ob dahinter eine von ihr tatsächlich vermutete Judenfeindlichkeit von Niedergesäß, eine für ihn getätigte NS-Beamtenaussage aus der Haft- beziehungsweise Überwachungszeit oder schlichtweg die Notlage eines Menschen steht, der nach seiner Einlieferung ins KZ Buchenwald den Boden unter den Füßen verloren hat, dürfte niemals aufgeklärt werden. Der Autor dieses Beitrags kann aufgrund seiner Erkenntnisse zu Haftzeiten, ökonomischer Situation der Familie oder zu Charaktereigenschaften des Heinrich Niedergesäß allerhöchstens Letzteres, am wahrscheinlichsten jedoch die im Namen von Niedergesäß abgegebene Stellungnahme eines NS-Aufsehers oder Gestapo-Beamten vermuten.

Vom Zuchthaus nach Buchenwald: Folgen der Almeloer SPD-Konferenz

Am 24.04.1937 verzeichnet die oben genannte Gestapo-Karteikarte ein Vergehen, dass von nun an alles ändert und die bescheiden aufgebaute Existenz wieder zunichtemacht:

„Gegen N. schwebt ein Verfahren wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Sachen Olthuis u. andere. (siehe Karte Olthuis). (28.11.1941) Niedergesäß wurde auf Anordnung des RSHA. vom 17.9.41 aus der Schutzhaft entlassen und hier strengstens gewarnt sowie unter Nachüberwachung gestellt, er wurde dem Arbeitsamt überstellt.“

Die angesprochene „Karte Olthuis“ bezieht sich auf die Durchführung einer illegalen, im niederländischen Almelo zur Neubelebung ihrer Partei durchgeführten SPD-Konferenz, an welcher jener Hermann Olthuis ebenso teilgenommen hat wie sein Genosse Heinz Listemann oder der ehemals für Osnabrück zuständige Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel, welcher seinerzeit bereits schon im niederländischen Exil lebt. Auch Niedergesäß wird von den Nazis wegen seiner Vorbereitung und Beteiligung an der Zusammenkunft angeklagt – und verurteilt. Wegen angeblichen Hochverrats werden die drei Osnabrücker für mehrere Jahre inhaftiert. Aus freien Stücken verteidigt werden zumindest Olthuis und Listemann, womöglich auch Niedergesäß, vom damaligen VfL-Präsidenten und Rechtsanwalt Dr. Hermann Gösmann, was in dessen Entnazifizierungsakte (NLA OS Rep 980 Nr. 24451) in Gestalt von Zeugenaussagen belegt ist.

Die Leidenszeit, die jetzt für Niedergesäß beginnt, wird später nur kurz unterbrochen. Mehrfach drangsaliert und polizeilich vorgeführt, wird er „wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ durch den Strafsenat des Oberlandgerichts in Hamm am 28. Juni 1937 zunächst zu einer Haftstrafe von einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Haftorte sind das Osnabrücker Stadtgefängnis in der Turnerstraße und das berüchtigte Zuchthaus in Hamm. Vom 27. August 1938 bis zum 12. September 1941 verbüßt Biedergesäß die folgende Haftzeit im KZ Buchenwald. Summieren lässt sich die bisherige Zeit in Haft somit auf annähernd viereinhalb Jahre. Folgt man den Unterlagen aus der Gedenkstätte Neuengamme, die dem Autor von dort digitalisiert zugingen, wird Niedergesäß nach seiner Entlassung nicht wieder selbständig.

Er wird als Buchhalter beschäftigt, was die Gestapo-Beamten sogar, folgt man dem Eintrag auf deren Karteikarte, eigenartigerweise mit einem gewissen Wohlwollen goutieren. Der Eintrag vom 17.02.1942 lautet interessanterweise: „Die Aufhebung der Nachüberwachung gegen N. wurde beim beim RSHA. beantragt, da N. ein fleißiger Arbeiter geworden ist.“

Beim RSHA handelt es sich um das Reichssicherheitshauptamt. Gestapo und Kriminalpolizei waren mit dem Sicherheitsdienst der SS im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) zusammengefasst worden.

Neuer Arbeitgeber von Niedergesäß, bei dem er angeblich als „fleißiger Arbeiter“ agiert, ist die Firma „Osnabrücker Metallwerke“. Gemäß einer Bescheinigung des Werkes vom 19. Oktober 1954 ist Niedergesäß dort offiziell vom 1. Oktober 1942 bis zum 30. November 1944 als Lohnbuchhalter beschäftigt. Zusätzlich bemerkt wird der Satz: „Herr N. wurde seinerzeit von der damaligen Gestapo aus unseren Diensten geholt.“


„Aktion Gitter“

Gemeint ist dabei offenkundig jene Verhaftung, die ihn mit anderen Antifaschisten nach dem gescheiterten Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 trifft. Die entweder „Aktion Gitter“ oder „Aktion Gewitter“ genannte Aktion beruht auf einer Initiative des SS-Führers Heinrich Himmler. Am 14. August 1944 ergeht an alle Polizei- und Gestapo-Stellen dessen Befehl, vorwiegend ehemalige Funktionäre der Arbeiterbewegung festzunehmen. Niedergesäß zählt am 22. August 1944 zu rund 5.000 ehemaligen Funktionsträgern von KPD und SPD, die im Nu in unterschiedlichen Haftzellen zusammengepfercht werden, ohne dass ihnen im Einzelfall eine konkrete Widerstandshandlung nachgewiesen werden kann. Hilflos muss der frühere Parteisekretär damit klarkommen, dass inzwischen auch der gemeinsame Haushalt mit seiner Frau Frida nicht von den Folgen des Bombenkriegs verschont worden ist. „Wir sind zweimal ausgebombt, das erste Mal am 13.6.44, wo wir einen Teil unseres Haushalts retten konnten und das zweite Mal am 13.9.44, wo wir alles verloren haben“, berichtet Frida Niedergesäß nach dem Kriege im Rahmen ihrer Korrespondenzen bezüglich ihrer persönlichen Entschädigungsansprüche – auch dies verwahrt in der Gedenkstätte Neuengamme.

Dokumentiert ist infolge der „Aktion Gitter“ die Einkerkerung von insgesamt 51 Männern, von denen danach 39 der SPD, drei der KPD und zehn den – ebenfalls sozialdemokratischen – Gewerkschaften angehören. Nach ersten Nächten in den Gestapo-Zellen im Schloss bildet das „Arbeitserziehungslager“ Augustaschacht nahe Ohrbeck die nächste Station. Ungewollt treffen sich dort zahlreiche alte Genossen und Kollegen, was keinerlei Wiedersehensfreude, sondern eher Todesangst auslöst.

Die Mehrzahl der Inhaftierten wird in den nächsten Tagen oder Wochen wieder entlassen oder erweisen sich aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes als transportunfähig. Niedergesäß droht Schlimmeres. Gemeinsam mit seinen SPD-Genossen Wilhelm Mentrup, Heinrich Groos und Fritz Szalinski sowie dem Kommunisten August Wille wird er gen Hamburg in das Konzentrationslager Neuengamme transportiert.

Für das Martyrium, was er dort erlebt, gibt es keine konkreten Zeugenaussagen oder Belege. Im KZ muss er, nachlesbar in einem kurzen Brief seiner Frau Frieda, enthalten in der Dokumentensammlung des Arolsen-Archivs, im Block 24 die Häftlingsnummer 54335 tragen. In einem vom Verwaltungsangestellten Max Löwenstein verfassten Schreiben des Sonderhilfsausschusses für ehemalige politische Häftlinge der Stadt Osnabrück vom 29. Januar 1949 werden letzte Momente erwähnt, in denen Niedergesäß sich bemerkbar machen kann: „Die letzte Nachricht von ihm datiert vom 11. Februar 1945. Gesehen wurde er zuletzt am 7. April 1945 im Lager Neuengamme. Er ist wahrscheinlich mit dem Schiff ‚Cap Arcona‘ untergegangen.“


Tod in der Lübecker Bucht

Mit dem Verweis auf die „Cap Arcona“ bezieht sich der Verfasser auf ein besonders perfides NS-Verbrechen. Geschuldet ist es der kruden Nazi-Logik zum Kriegsende: Die KZ-Bewacher um den Lagerkommandanten in Neuengamme sind angesichts des nahenden Kriegsendes hektisch darum bemüht, möglichst viele Beweise zu vernichten. Außerdem hatte SS-Reichsführer Heinrich Himmler den Befehl erteilt, KZ-Häftlinge nicht in die Hände der Alliierten fallen zu lassen. Die Konsequenz mutet geradezu zynisch an: 7000 Häftlinge werden in die Lübecker Bucht transportiert und dort auf verschiedene Schiffe verladen. Die „Cap Arcona“, auf die Niedergesäß nach der oben genannten Aussage gerät, ist makabrerweise ein ehemaliger, nun restlos überfüllter Erholungsdampfer der NS-Propagandaorganisation „Kraft durch Freude“. Nicht auszuschließen ist allerdings auch, dass Niedergesäß auf dem Frachtschiff „Thielbeck“ ist, wie es später auf seinem Stolperstein verzeichnet wird. Fest wird auf jeden Fall einkalkuliert und herbeigeführt, dass alliierte Bomber anstelle der Nazis das Leben von Häftlingen vernichten. Karl Kaufmann, Hamburger Gauleiter und Reichskommissar für die Seeschifffahrt, führt alles eiskalt aus – und wird nach 1945 für seine Verbrechen niemals zur Rechenschaft gezogen werden. Sein Kalkül des initiierten Massenmordes geht auf. Die vollgepferchten Häftlingsschiffe „Cap Arcona“, makabrerweise ein früherer Urlaubsdampfer der NS-Organisation „Kraft durch Freude“ sowie das Frachtschiff „Thielbek“ sinken mit ihren Insassen im Bombenhagel. Die Briten meinen, wie zugetragen ihnen dies auch immer wurde, dass sich angeblich deutsche Truppen auf den Schiffen befinden. In Wahrheit sind 7.500 KZ-Häftlinge an Bord, von denen 7.000 elendig sterben. Heinrich Niedergesäß zählt neben dem anderen Osnabrücker Wilhelm Mentrup, bis 1933 Verwaltungsdirektor der AOK, zu den tragischen Opfern des „Friendly Fire“. Zu Mentrup informierte zuletzt dieser OR-Beitrag. Mentrup stirbt unbestritten auf dem früheren Frachtschiff „Thielbeck“.

Stolperstein vor dem ehemaligen Gewerkschaftshaus am Kollegienwall. Abbildung: Stadt OsnabrückStolperstein vor dem ehemaligen Gewerkschaftshaus am Kollegienwall. Abbildung: Stadt Osnabrück

Ob sich Mentrup und Niedergesäß zuvor persönlich im KZ begegnet sind, ist nicht überliefert. Beide hatte Jahre zuvor geeint, dass sie sich jeweils intensiv um notleidende Menschen aus der verbotenen Sozialdemokratie gekümmert hatten. In einem später dokumentierten Brief, den die langjährige SPD-Landtagsabgeordnete Alwine Wellmann nach ihrer Flucht ins bulgarische Sofia verfasst hat, konnte sie erwähnen, dass sich insbesondere Mentrup und Niedergesäß gemeinsam sehr stark um ihre Mutter und behinderte Schwester gekümmert hatten, was Wellmann die Flucht seinerzeit entscheidend zu erleichtern vermochte. Nun sind beide früheren Helfer gemeinsam in der Lübecker Bucht auf schreckliche Weise zu Tode gekommen.

Erst am 4. September 1947 ergeht der Beschluss des Amtsgerichts: Als Todestag ihres Mannes wird seiner Witwe Frida Niedergesäß eher behelfsmäßig der 8. Mai 1945 mitgeteilt. Der gleiche Tag gilt heute mit Recht als Tag der Befreiung vom Nazi-Faschismus. Heinrich Niedergesäß ist zum Todeszeitpunkt 62 Jahre alt.


Taschenuhr und Ehering: eine makabre Bürokraten-Posse

Das Behördenwirrwarr, dass Opfer oder Angehörige von NS-Opfern in der Nachkriegszeit erleiden müssen, ist zuweilen nur durch Zynismus zu ertragen. Frida Niedergesäß trifft dies in besonderer Weise. Erfahren hat sie, dass in der Spar- und Darlehenskasse in Husum die letzten Gegenstände lagerten, die Heinrich im KZ hinterlassen hatte. In der „Effektenlise“ des KZ Neuengamme sind eine Taschenuhr mit Kette sowie ein Trauring mit der Kennzeichnung FK 11.5.12 verzeichnet, die Heinrich zugeordnet werden. Die Ziffern auf dem Ring beziehen sich auf das Datum der Verlobung, die Ziffern auf Frida mit ihrem Geburtsnamen Kundel. Nun folgt eine makaber anmutende Posse: Das Zentralamt für Vermögensverwaltung (Britische Zone) weist am 30. April 1954 darauf hin, dass Frieda „laut Erbschein nur Erbin der Hälfte des Nachlasses“ sei. Andere Erben sollten bestätigen, dass sie nichts gegen die Aushändigung an die Witwe einzuwenden hätten. Frida, ohnehin angefasst wegen ungeheuer mühsamen Briefwechseln mit Behörden bezüglich ihrer Entschädigungsrente, setzt ein zynisch anmutendes Antwortschreiben auf und sendet es, gerichtet an das Zentralamt für Vermögensverwaltung in Nenndorf, Wertsachen-Abteilung, am 27. Mai 1954 ab:

„Ich habe seit 1945 viele Schreiben in Angelegenheit meines im Konzentrationslager umgekommenen Mannes erhalten, die Veranlassung zu lebhaftem Kopfschütteln waren, aber kein Schreiben hat mich so erschüttert, wie ihr obiges. Mein verstorbener Mann hatte mehrere Brüder, von denen keiner mehr lebt. Mit ihren Nachkommen habe ich kaum mehr Verbindung. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass diese Leute damit einverstanden sein müssten, dass der Trauring meines Mannes mir gegeben würde. Ich sehe mich außerstande, wegen des Traurings und der Uhr einen großen Papierkrieg anzufangen. Wenn Sie die beiden persönlichen Erinnerungsstücke nicht anders herausgeben können, als Sie geschrieben haben, dann behalten Sie sie ruhig. Dann halten Sie sich recht fest an dieser Erbschaft des Dritten Reiches.“

Ende gut, alles gut? Mit Schreiben des Zentralamtes vom 3. Juni 1954 werden ihr die Taschenuhr und der Trauring tatsächlich noch ohne jedwede Auflagen übersandt. Absender ist derselbe Sachbearbeiter P., der bereits den erstem Brief verfasst hatte. Ob ihm da jemand auf das Pult gehauen hat?


Erinnerungen

Was erinnert heute an Heinrich Niedergesäß? Offenkundig ist es dem ungünstigen Nachnamen geschuldet, dass es bislang niemals zu einer Platz- oder Straßenbenennung gekommen ist. Immerhin ist Heinrich Niedergesäß einer der rund 300 Stolpersteine gewidmet, der vor dem ehemaligen Gewerkschaftshaus am Kollegienwall zu finden ist. Eher Insidern bekannt ist eine Informationstafel über einem Friseurladen in der Hasestraße 60. Die lange im Hausinneren versteckte Tafel war eher zufällig bei Renovierungsarbeiten gefunden, danach postwendend wieder an der Fassade angebracht worden. Nichts erinnert allerdings bislang an die früheren jüdischen Inhaber. Ein ergänzender Text, der auch auf solche NS-Opfer hinweist, wäre sicher nicht nur hier, sondern auch andernorts sinnvoll.Es lohnt sich somit, die Hasestraße 60 aufzusuchen und kurz innezuhalten, um an Heinrich Niedergesäß und die damaligen Verfolgungen zu erinnern. Er hat es verdient.


Literatur und Quellen zum Weiterforschen:

Günter Heuzeroth (Hrsg.), Unter der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus 1933-1945. Dargestellt an den Ereignissen in Weser-Ems, Osnabrück 1989
Geschichtsgruppe Arbeit und Leben, Freiheit, Krise, Diktatur. Zur Zerschlagung der Gewerkschaften in Osnabrück 1933, Bramsche 1985
Thorsten Heese (Hrsg.), Typografien des Terrors. Nationalsozialismus in Osnabrück, Bramsche 2015
Wilhelm van Kampen, Tilman Westphalen (Hrsg.), 100 Jahre SPD Osnabrück, Osnabrück 1975
Landschaftsverband Osnabrücker Land, Biografisches Handbuch, Bramsche 1990
NLA OS Rep 439 Nr. 29403
NLA OS Rep 980 Nr. 24451
Freie Presse v. 6.6.1932, Nr. 130, NLA OS, Zeitungsarchiv
Archivunterlagen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Archivunterlagen des Arolsen-Archivs: www.arolsen-archives.org

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