Hans Lücke
Bäcker mit poetischem Talent
Betrachtet man Lebensläufe von Menschen, die im Osnabrück von den 20er- bis in die 60er-Jahre hinein eine wichtige Rolle gespielt haben, scheint eine Persönlichkeit beinah vergessen zu sein: Hans Lücke. Zu Unrecht. Der gelernte Bäcker (1901-1968) zählt in Wahrheit schon früh zu den kreativsten Köpfen der demokratisch-sozialistischen Jugendbewegung. Er warnt eher als viele andere vor den Gefahren des Faschismus und ist der eigentliche Initiator des Widerstandskreises „Eekenpacht“. Im Kriegsgeschehen wechselt er als Soldat zu den Befreiern. Zurückgekehrt, baut er nach der Befreiung 1945 in verantwortlicher Funktion die Osnabrücker Sozialdemokratie wieder auf und ist überdies bis 1965 acht Jahre lang SPD-Bundestagsabgeordneter.
Wer war dieser Mann, der Backstube, Bühne bis hin zum Parlament in einer Person vereinte und an den bis heute kein Straßenname erinnert?
Genosse der Genossenschaft
Johannes Lücke, alle nennen ihn nur Hans, wird schon als junger Mensch von Idealen eines humanen und solidarischen Zusammenlebens geprägt. Als aktiver Genosse im genossenschaftlich aufgestellten Konsum- und Sparverein Osnabrück lernt er früh, dass es ganz konkret möglich ist, ganz anders zu arbeiten und zu wirtschaften als in einem herkömmlichen kapitalistischen Betrieb.
Nach seinem Volksschulabschluss muss der junge Hans zuerst aber lernen, mächtig früh aufzustehen: Er beginnt eine Lehre als Bäcker. In kleinen Bäckereinen, so muss er es früh erkennen, sind nächtliches Backen, endlos lange Arbeitszeiten und verweigerte tarifliche Rechte an der Tagesordnung. Als 17-Jähriger entnimmt er es gewerkschaftlichen Informationen, dass in seinem Beruf endlich ein Durchbruch zugunsten der abhängigen Beschäftigten erreicht worden ist. Infolge der Novemberrevolution 1918 führen Verhandlungen zwischen sozialdemokratischer Reichsregierung und Gewerkschaften zum Ergebnis, dass die regelmäßige Arbeitszeit eines Bäckergesellen zukünftig höchstens acht Stunden betragen soll.
Lücke will nun aktiv dabei sein, weitere Fortschritte für die hart arbeitende Bevölkerung durchzusetzen. Im gleichen Jahr 1918 besteht er seine Gesellenprüfung und tritt, so belegen es der OR zugegangene Unterlagen der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie des Bundestagsarchivs, der Sozialdemokratischen Partei und den freien Gewerkschaften bei. Zur eigenen Verbitterung muss er danach erleben, dass nicht nur die mühsam erkämpften Rechte im Bäckerhandwerk Schritt für Schritt unterlaufen oder gar beseitigt werden. Zumal die gesamte Weimarer Republik von einer Mehrheit pro-kapitalistischer Parteien geprägt ist, kann Lückes SPD diesen Prozess nicht aufhalten.
Schon früh hält er dagegen. Genosse Lücke zeigt sich stets gut informiert und unterlässt keine Gelegenheit, Kolleginnen und Kollegen über ihre Rechte aufzuklären. Konsequenterweise entschließt er sich, persönlich fortan dort zu arbeiten, wo am ehesten garantiert ist, dass humane Arbeitsbedingungen herrschen und tariflich erkämpfte Rechte garantiert eingehalten werden. So wird er Bäcker beim örtlichen Konsum- und Sparverein. Es ist in der Weimarer Republik jene sozialistische Genossenschaft, in der es keine klassischen Chefs gibt und die sich nach Maßstäben der Selbstverwaltung organisiert.
Auch Lückes Backstube funktioniert somit gänzlich anderes als herkömmliche Unternehmen. Der genossenschaftliche Zusammenschluss bildet den radikalen Gegenenwurf zum kapitalistischen Betrieb, in dem der Inhaber den Gewinn einstreicht, abhängig Beschäftigte aber ausgebeutet werden und ohne Mitwirkungsrechte sind.
In einer solidarischen Genossenschaft besitzt alles seinen festen programmatischen Rahmen. Sozialistische Genossenschaften bilden in der Weimarer Republik neben Partei, Gewerkschaft und Freizeitorganisationen die berühmte „vierte Säule“ der Arbeiterbewegung. Während die Sozialdemokratische Partei für bessere Gesetze in Parlamenten streitet, die Gewerkschaft die Arbeitskraft stärkt und Freizeitorganisationen in Kultur und Sport für die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft sorgen, helfen Genossenschaften dabei, die Kaufkraft der Mitglieder zu sichern und den eigenen Beschäftigten grundlegende Selbstverwaltungsrechte zu gewähren.
Ein Ziel der sozialistischen Genossenschaftsbewegung lautet, mühsam erstrittene Lohnerhöhungen nicht unnötig durch profitorientierte Preiserhöhungen zu gefährden. Konsumgenossenschaften, die in der Weimarer Zeit oft bis zu einem Fünftel der Bevölkerung mit dem alltäglichen Bedarf versorgen, schließen sich in einem Netzwerk zusammen. Sie können Waren deshalb günstiger produzieren und verkaufen als herkömmliche Betriebe. Bei der jährlichen Gewinnausschüttung an alle Mitglieder, so lautet ein Spruch, der gern benutzt wird, sollte „die Weihnachtsgans für die Familie immer drin sein“.
Die Genossenschaft, der man natürlich zunächst beitreten muss, um in den Genuss ihrer Möglichkeiten zu kommen, ist Einzelhändler, Großhändler, Kreditgeber und Produzent zugleich. Überdies bilden die sozialistischen Produktions- wie Konsumgenossenschaften einen recht beachtlichen Beschäftigungssektor im Reich: Es sind reichsweit etwa 60.000 Menschen, die dort, wie Hans Lücke, ihrem Erwerb nachgehen. In Osnabrück sind es, folgt man einer im Landesarchiv verwahrten Festschrift des Vereins von 1927, insgesamt 105 Beschäftigte. Nahezu alle sind gewerkschaftlich organisiert. Hans Lücke ist in Osnabrück Mitbegründer des freigewerkschaftlichen Bäcker- und Konditorenverbandes, dessen Vorsitzender er 1928 wird. Seit 1930 ist er Betriebsratsvorsitzender des gesamten Konsumvereins und vertritt seine Kolleginnen und Kollegen mit ihren Alltagsproblemen. In der Bäckerei selbst arbeitet Lücke mit einem knappen Dutzend Beschäftigten zusammen.
Gut 11.000 Mitglieder kaufen für ihre Osnabrücker Familien in rund 15 städtischen und ebenso vielen Verteilungsstellen im Umkreis ein. Lücke arbeitet wie die Berufskollegen in einer beachtlich großen Bäckerei im Fledder, die dort seit 1915 in Betrieb ist und in der Gerste, Mais, aber auch Roggen, Hafer, Weizen, Kartoffelflocken und Fischmehl verarbeitet werden. Als junger Gewerkschafter ist Lücke entscheidend daran mitbeteiligt, dass der Durchschnittsurlaub mit damals drei Wochen erheblich über dem Durchschnitt vergleichbarer Betriebe liegt, die oftmals überhaupt noch keinen Urlaub kennen. Hinzu kommen eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eine Umsatzprovision und ein Rentenzuschuss, was in rein kapitalistisch geführten Betrieben eher als Utopie gilt.
In den „Verteilungsstellen“ – der Begriff „Laden“ wird als kapitalistisch geprägt abgelehnt – sowie in den Produktionsgenossenschaften versuchen die Genossinnen und Genossen täglich, nach Prinzipien einer sozialistischen Ökonomie zu leben. Zugleich bilden die Orte Treffpunkte, in denen sich die Mitglieder rund um die Uhr austauschen können und die nicht selten den Standort für Geselligkeiten, Schulungs- und Bildungsveranstaltungen bieten. Gemeinsam wird von den Beschäftigten über Produktion, Verkauf und Arbeitsbedingungen entschieden.
Der Verzicht auf pompöse Werbung in Medien und Schaufenstern und die komplette Ausschüttung der Erträge auf die Genossenschaftsmitglieder sollen den Menschen einen kleinen Vorgeschmack auf jene sozialistische Gesellschaftsordnung vermitteln, welche die Sozialdemokratie als Vision des Zusammenlebens anstrebt. Wann immer Hans Lücke im politischen Meinungsstreit von politischen Gegnern aus dem bürgerlichen Lager belehrt werden sollen, ohne einen Boss im Geschäft würde nichts funktionieren, kann er mit gutem Gewissen auf seinen eigenen Arbeitsort verweisen.
Schon früh prägen Hans Lücke somit feste Ideale und Prinzipien einer solidarischen sozialistischen Gemeinschaft. Gern bringt er diese auch in andere Organisationsbereiche der Sozialdemokratie ein. Schnell genießt der fleißige, kreative und redebegabte junge Genosse in der gesamten Partei Anerkennung. Bereits 1920, 19 Jahre alt, wird er Mitglied des Osnabrücker SPD-Vorstandes.
Ideenschmieden in der Arbeiterjugend
Ein Organisationsbereich der Sozialdemokratie liegt dem jungen Lücke besonders am Herzen: Schon früh stößt er zur Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) und zu den Jungsozialisten in der SPD. Prägend wird für ihn vor allem das breit aufgestellte Angebot der SAJ, dass die jungen Genossinnen und Genossen beinah täglich irgendwo zusammenführt.
Das Spektrum der Aktivitäten und die Rolle von Hans Lücke formuliert Jahrzehnte später der vormalige SAJ-Genosse und spätere Gewerkschaftssekretär Fritz Schmalstieg. In einer für alte Weggefährten anno 1978 verfassten Darstellung, die dem Autor als Schreibmaschinenmanuskript vorliegt, klingt dies im Originalton so:
„… Wandern, Singen, Heimabende, auch mal ein Vortrag über ein aktuelles Thema, Einführungen in die Literatur, Leseabende, Vorbereitungen von Werbeveranstaltungen, Hilfen bei Nachbargruppen, Sonnenwendfeuer und -feiern, Heubodenromantik, das alles gab es im ständigen Wechsel. Hier muss ich unbedingt H. Lücke erwähnen, der sich immer wieder mit neuen Ideen und Experimenten hervortat.“
Doch auch sehr heftige Konflikte, die am Ende der Republik innerhalb der Sozialdemokratie ausgetragen werden, prägen Hans Lücke wie seine Altersgenossen. Wie alle hatten sie 1928 einen SPD-Wahlerfolg mit beinahe 30% der Stimmen erkämpft, der mit der Lösung „Kinderspeisung statt Panzerkreuzerbau“ geführt worden war. Die Nazis hatten bei dieser Wahl ganze 2,6% der Stimmen erhalten. Verbittert erleben junge Genossinnen und Genossen, wie das SPD-geführte Kabinett von Hermann Müller anschließend, auf Druck der bürgerlichen Koalitionspartner, für den Panzerkreuzerbau stimmt. Dass die SPD-Reichstagsfraktion am Ende Widerstand leistet, führt nicht mehr zur Umkehrung der Aufrüstung.
Lücke und andere empört die Tolerierungspolitik gegenüber einem Zentrums-Kanzler Heinrich Brüning, der nach dem Rücktritt Müllers 27. März 1930 auf Basis sogenannter „Notverordnungen“ des Reichspräsidenten von Hindenburg massiven Soziallabbau betreibt und unzählige Menschen ins Elend stürzt. Massiv steigen die Arbeitslosenzahlen. Um die Nazis nicht als noch schlimmere Alternative zu stärken, hatte sich die SPD-Reichstagsfraktion gegenüber den Brüning-Maßnahmen zur Stimmenthaltung entschlossen. Große Teile der Jugendorganisation sind schier entsetzt. Ebenfalls viel zu passiv erscheint jungen Sozialistinnen und Sozialisten die Haltung ihrer Partei gegenüber den braunen Schlägertrupps der NSDAP, die in der Endphase der Republik auch in Osnabrück Angst und Schrecken verbreiten und denen die jungen Roten wesentlich militanter entgegentreten wollen. Zudem kritisieren sie, dass der eigenen Wehrformation „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ als Minderheit auch Mitglieder bürgerlicher Parteien angehören, statt eine eindeutig sozialistische Organisation aufzubauen.
Spätestens zu jenem Zeitpunkt, als die wichtigsten Kritiker des Berliner Parteikurses um Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossen werden und die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten wegen ihrer kritischen Haltung ersatzlos aufgelöst wird, schließt sich mit Hans Lücke eine große Mehrheit der Osnabrücker Jungsozialisten der neu gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) an. Zu jenen zählt im fernen Lübeck auch der junge Willy Brandt, der damals noch den Namen Herbert Frahm führt. Die SAP kommt allerdings in der Endphase der Republik nicht über das Stadium einer Splitterpartei hinaus, deren aktiven Kerne, soweit sie Widerstand, NS-Terror und Krieg überlebt haben, sich nach 1945 wieder erneut der SPD anschließen werden.
In einer im Osnabrücker Landesarchiv verwahrten Karteikarte, die bereits im Jahre 1932 von der politischen Polizei angelegt wird, wird Hans Lücke sogar als führendes SAP-Mitglied geführt. Vermerkt ist darin, dass er am 23. Mai 1932 mit der Leitung einer SAP-Versammlung in Georgsmarienhütte betraut worden ist. Werner Lenz bestätigt später in seinen Lebenserinnerungen, dass Lücke tatsächlich zu jenen Jungsozialisten gezählt hat, die bis zum Verbot 1933 den Kern der Osnabrücker SAP bilden.
Pächter der Eekenpacht
Bereits in der OR-Folge über den Gewerkschafter Franz Lenz ist darüber berichtet worden, dass die Anpachtung des unscheinbar wirkenden Eekenpacht-Kottens im Jahre 1933 in erster Linie Hans Lücke zu verdanken ist. Er hat den Kotten bereits zuvor persönlich genutzt und begutachtet.
Streng konspirativ werben Lücke wie Franz Lenz intensiv für den neuen Rückzugsort. Aufrechte Antifaschistinnen und Antifaschisten aus dem Osnabrücker und Münsteraner Raum besitzen fortan in Lienen-Holperdorp einen festen Treffpunkt. Dort finden sie sich regelmäßig, meist zu den Wochenenden ein und pflegen, egal ob SPD-, KPD- oder SAP-orientiert, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Hans Lücke kommt dabei, folgt man der Darstellung des Lenz-Sohnes Werner in seinen Lebenserinnerungen „Gerade Wege gibt es nicht“, eine führende Rolle zu.
Vor allem ist der kulturell vielseitig aufgestellte Bäcker der Erfinder des wöchentlichen „Eekenpachtfestes“, in dem Tanz-, Theater- und Rollenspielaktivitäten vom tristen Alltag in Nazi-Deutschland ablenken sollen. Nach den Festen finden, ebenfalls unter der Leitung Lückes, konferenzartige Zusammenkünfte statt, in denen man sich gemeinsam Gedanken über Lehren aus der Geschichte und über das ersehnte demokratisch-sozialistische Deutschland nach der NS-Zeit macht. „Nach Hitler – wir!“ ist die einhellige Überzeugung und Erwartung.
Wie sehr Lücke den Eekenpacht-Zusammenkünften seinen unvergleichbaren Stempel aufdrückt und welche Charaktereigenschaften ihm dabei zugutekommen, bringt Werner Lenz im Mittelteil seines Buches, auf das Ansehen Lückes bei anderen Eekenpachtnutzern bezogen, im Originalton so auf den Punkt:
„Stillschweigend akzeptierten sie ihn als Patron und Vordenker. Sein Kopf mit dem wallenden Haar und der breiten hohen Stirn gab ihm das Aussehen eines leibhaftigen Poeten. Die unnachahmliche Art, wie er Ringelnatz-Gedichte rezitierte oder eigene Verse, die er gelegentlich schrieb, vortrug, verstärkte diesen Eindruck. Neben meinem Vater war Hans Lücke in den Jahren, als ich meinen schwierigen Weg vom Kind zum Jüngling zurücklegte, mein Vorbild. In ihm verschmolzen sich in meinen Augen Geist und Witz, soziales Engagement und politischer Weitblick ebenso wie intellektuelle Kraft, Charakterstärke und menschliche Güte.“
Die starke Stellung Lückes im Kreis der Eekenpacht steht in keinem Widerspruch zu seiner schwierigen materiellen Situation. Die Nationalsozialisten versuchen in den ersten Jahren ihrer Herrschaft zwar, die in der Bevölkerung sehr angesehenen Konsumgenossenschaften zu erhalten. Politisch und organisatorisch werden sie jedoch gleichschaltet. Mitglieder und Mitarbeitende verlieren im neuen Führerstaat alle Selbstverwaltungsrechte. Führende Mitglieder werden zunehmend verhaftet. Alle politisch missliebigen Beschäftigten, insbesondere auch jene im Leitungspersonal und in den Interessenvertretungen, werden fristlos entlassen. Auch Hans Lücke erhält sofort seine Kündigung und wird dadurch seiner beruflichen Existenz beraubt. Fortan ist er gezwungen, sich als Gelegenheitsarbeiter, unter anderem als Kohlenfahrer, mühsam durchs Leben zu schlagen. Im Adressbuch des Jahres 1937 ist er, nun offenbar wohnhaft in der Kornstraße 49, als „Bote“ verzeichnet.
Soldatendasein, der „D-Day“ – und ein „Überläufer“
Hans Lücke ist 42 Jahre alt, als er am 6. Dezember 1943, rund vier Jahre nach Kriegsbeginn, für den Fronteinsatz eingezogen wird. Seit Juni 1940 ist er mit seiner zwölf Jahre jüngeren Frau Änne verheiratet.
Besuchern der Eekenpacht und anderen vertrauten Menschen vertraut Hans Lücke sofort nach Erhalt seines Stellungsbefehls an, die erstbeste Gelegenheit nutzen zu wollen, um sich der Wehrmacht zu entziehen. Die damit verbundene Lebensgefahr schreckt ihn nicht. Ihn prägt dabei ohnehin kein schlechtes Gewissen. Im Gegenteil: Er betrachtet sein geplantes Desertieren als persönlichen Beitrag, das mörderische Kriegsgeschehen so schnell wie möglich in Gestalt einer Niederlage des Nazi-Reiches zu beenden.
Im Alltag des Fronteinsatzes muss er jedoch schnell erleben, dass sein Vorsatz einer schnellstmöglichen Flucht aus dem Wehrmachtseinsatz am Einsatzort in nur schwer zu verwirklichen ist. Er ist gezwungen, sich notgedrungen zunächst mit dem soldatischen Umfeld, das ihm gänzlich fremd ist, vertraut zu machen. Zumindest schafft er es, Briefe zu verfassen. Werner Lenz berichtet, dass es Lücke zuletzt im Mai 1944 gelingt, sich bei seiner Frau aus der Normandie zu melden.
Nur sehr kurze Zeit später, am 6. Juni 1944, erlebt er dort plötzlich und überraschend den „D-Day“. Jener Tag symbolisiert die erfolgreiche Übersetzung US-amerikanischer und britischer Streitkräfte über die Nordsee auf das französische Festland, wo sie deutsche Granaten, Mörser und Maschinengewehre empfangen. „D-Day“ wird als Abkürzung für „Decision Day“ verwendet, also für den „Tag der Entscheidung“. Der „D-Day“, der trotz hoher Blutopfer der Alliierten für die Befreier erfolgreich verläuft, dürfte deshalb für Lücke, auch angesichts mörderischer Kämpfe, mehr als einen Hoffnungsschimmer dargestellt haben. Endlich scheint sich das Nazi-Reich und die Versklavung der europäischen Völker dem Ende zuzuneigen.
Im Rahmen der heftigen Kämpfe gelingt es Hans Lücke tatsächlich, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Ein vorzeitiges Entdecken seiner Desertation hätte sein sofortiges Erschießen oder Erhängen wegen „Feigheit vor dem Feind“ bedeutet. Mit erhobenen Armen läuft er am Ende erfolgreich zu den Reihen der US-Amerikaner über. Offiziell gilt er denen zunächst als „normaler“ Kriegsgefangener, so dass er zunächst mit anderen Kameraden in entsprechenden Lagern innerhalb der Normandie interniert wird. Irgendwann steht sein Weitertransport in die USA an.
Werner Lenz, der Lücke später in Bonn als Abgeordneter in der gemeinsamen SPD-Bundestagsfraktion wiedertreffen wird, berichtet in den USA allerdings von einer besonderen Rolle des Osnabrückers. Offenkundig gelingt es ihm, die Bewacher glaubhaft von seiner antifaschistischen Haltung zu überzeugen. Tatsächlich wird ihm danach innerhalb des dortigen Gefangenenlagers im sonnigen Kalifornien bis 1946 die Funktion eines Lehrers übertragen. In Gestalt von zahllosen Vorträgen informiert der gestandene Sozialist die Gefangenen über die wahren Hintergründe des Nazi-Faschismus und vor allem über die Vorzüge einer Demokratie, deren baldigen Aufbau sich nicht nur Lücke nach 1945, eng verwoben mit einer sozialistischen Grundordnung, sehnlichst wünscht. Dass er im Rahmen seiner Vorträge von rechts eingestellten deutschen Mitgefangenen als „Vaterlandsverräter“ empfunden wird, hält Lücke zu keiner Minute von seinem Engagement ab.
Aufbau der Osnabrücker SPD
Folgt man Hans Lückes Angaben aus einem von ihm persönlich ausgefüllten Fragebogen anlässlich der Bundestagswahl von 1957, kehrt er erst im Mai 1946 aus Kalifornien in seine Heimatstadt Osnabrück zurück. Gut ein Jahr ist der Krieg in der Hasestadt vorbei. Kurze Zeit zuvor, am 7. April, hatte die Osnabrücker Sozialdemokratie innerhalb eines großen Festrahmens in der Reithalle der Von-Stein-Kaserne ihre Neugründung gefeiert. Obwohl bereits wichtige Funktionen in der SPD besetzt sind, wird Hans Lücke – folgt man den Angaben des oben erwähnten Fragebogens – sofort die Funktion eines hauptamtlichen Parteisekretärs zugetragen. Nicht zu Unrecht erinnern sich Genossinnen und Genossen an sein früheres Organisationstalent. Zumal der Sozialdemokratie schnell eine führende Rolle beim Wiederaufbau der Stadt zukommt, zählt Lücke somit zu jenen, die alles daransetzen müssen, die Katastrophe der Stadtzerstörung abzumindern.
Das Aufgabenfeld, das der von den Nazis entfachte Krieg hinterlassen hat, ist für alle Beteiligten gigantisch. Osnabrück gleicht einer Ruinenstadt. Sechs von zehn Gebäuden der Stadt sind zerstört. Bei den Altstadt-Häusern sind es acht von zehn. Fast 1400 Menschen sind im Bombeninferno umgekommen. Unzählige der Überlebenden wohnen in schlecht beheizten Behelfsunterkünften. Heimkehrer finden im Schutt der Straßen noch immer nur mühsam den Weg zu ehemaligen Wohnstätten. Zur Versorgung tragen „Schwarzmärkte“ bei, auf denen die letzten Habseligkeiten getauscht werden. „Hamsterfahrten“ zu Landwirten des Umlands sorgen seit einem Jahr für ein Minimum an Brot, Schmalz, Butter, Fleisch oder Wurst. Emsig arbeitet eine von den Briten eingesetzte 34-köpfige Stadtvertretung an der Behebung der größten Not. SPD-Mitglieder sind in vorderster Reihe dabei. Lückes innerparteiliche Kernaufgabe wird es, möglichst viele der überlebenden Genossinnen und Genossen für die Aufbauarbeit zu gewinnen und auch zuvor fernstehende Menschen von den Idealen des demokratischen Sozialismus zu begeistern.
Parteisekretär Hans Lücke trägt somit einen entscheidenden Teil dazu bei, dass seine SPD aufgrund des britisch auferlegten Mehrheitswahlrechts bei den ersten demokratischen Kommunalwahlen am 13. Oktober 1946 mit 22 von 36 Sitzen die mit Abstand stärkste Stadtratsfraktion stellt – obwohl sie nur ein Drittel der Stimmen erhalten hat. Am 28. November 1948 wird der Rat nach dem bis heute gültigen repräsentativen Wahlrecht gewählt. Die SPD erhält 37,1 der Stimmen und wird fortan bis 1972 gegenüber den bürgerlichen Parteien in der Minderheit sein, was den eigenen Gestaltungsraum naturgemäß für lange Zeit einengen wird.
Tonangebend, da werden sich Lücke wie andere freuen, wird die Sozialdemokratie allerdings fortan bei der Wahl des Stadtoberhauptes sein. Für die ersten zwei Jahrzehnte des Neuaufbaus werden SPD-Oberbürgermeister wie Heinrich Herlitzius (1946 bis 1948 sowie 1949 bis 1951), Hellmut Drescher (1956 bis 1959) und Willi Kelch (gewählt 1959 und amtierend bis 1972) die Kommunalpolitik prägen.
Hans Lücke selbst ist entscheidend an vielen Weichenstellungen beteiligt. 1956 wird er zum Ratsherrn gewählt und gehört dem Stadtrat bis zum 3. April 1961 an
Die wichtigste Funktion, in die Lücke über die Landesliste seiner Partei gewählt wird, ist der Einzug in den Bonner Bundestag. Endlich besitzt die Osnabrücker SPD wieder einen Abgeordneten im nationalen Parlament. Für gleich zwei Wahlperioden, von 1957 bis 1965, gehört Lücke dem ersten demokratischen Parlament seit 1933 an. Nach Angaben des Bundestagsarchivs betätigt er sich in seiner ersten Wahlperiode als ordentliches Mitglied im Ausschuss für Kulturpolitik und Publizistik sowie im Ausschuss für Heimatvertriebene. In seiner zweiten Legislaturperiode von 1961 bis 1965 ist er erneut ordentliches Mitglied im Ausschuss für Heimatvertriebene sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung.
Unmittelbarer Zeitzeuge wird er zu Beginn seiner Abgeordnetentätigkeit auch an einer richtungsweisenden Richtungsentscheidung seiner Partei. Vom 13.-15. November 1959 ist er Delegierter des legendären SPD-Bundesparteitags in Bad Godesberg. Hans Lücke ist, so verzeichnet es das Parteitagsprotokoll, neben dem anderen Osnabrücker Hans Ils – seinem direkten Nachfolger als örtlicher Bundestagsabgeordneter – einer von nur fünf Delegierten des SPD-Bezirks Weser-Ems. Beschlossen wird jenes legendäre „Godesberger Programm“, das sich als grundlegende Station auf dem Weg von der „Klassenpartei zur Volkspartei“ begreift und dem nachgesagt wird, späteren Regierungsjahren der SPD den Weg gebahnt zu haben.
Den von Lücke stets innig gewünschten Bundeskanzler Willy Brandt, der 1969 in dieses Amt gewählt werden wird, soll der Osnabrücker Sozialdemokrat allerdings nicht mehr erleben. Kinderlos, aber nach einem erfüllten Leben stirbt er am 19. Dezember 1968 im Alter von 67 Jahren.
Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei
Folge 01: Walter Bubert
Folge 02: Hans Bodensieck
Folge 03: Emil Berckemeyer
Folge 04: Josef Burgdorf
Folge 05: Fritz Bringmann
Folge 06: Anna Daumeyer-Bitter
Folge 07: Erwin Förstner
Folge 08: Ruth Gottschalk-Stern
Folge 09: Heinrich Groos
Folge 10: Gustav Haas
Folge 11: Frieda Höchster
Folge 12: Ženja Kozinski
Folge 13: Luwig Landwehr
Folge 14: Franz Lenz
Folge 15: Paul Leo