OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 21: Lissy Rieke

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (am Ende dieses Textes finden sich Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

 

Lissy Rieke
Unter dem Fallbeil im „Lübecker Hof“

Dortmund, 05. Januar 1945, Haftanstalt „Lübecker Hof“. Die Henkersknechte führen die Kahlgeschorene, barfuß und nur mit einem Gefängnishemd bekleidet in den Vollstreckungsraum zu einem brusthohen Brett und schnallen sie daran fest. Ein letzter Ruf, vielleicht „nieder mit Hitler“, darf nicht protokolliert werden. Das Brett wird in die Waagerechte gehoben und nach vorne geschoben. Der Nacken wird fixiert.

KLACK, das Auslösen des Fallbeils ist das letzte Geräusch, das die zum Tode durch Enthaupten Verurteilte hört. Lissy Rieke, erst 31 Jahre alt, ist tot.


Von Osnabrück nach Amsterdam

Lissy Rieke wurde am 18.08.1913 in Osnabrück geboren. Über ihre frühere Kindheit ist nichts Näheres bekannt. Bereits mit 16 Jahren schloss sie sich dem Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) an. In der politischen Arbeit fand sie zu besonderem Interesse an Theater und Gesang und wurde in einer Agitprop-Gruppe aktiv. Es ging um die satirische Auseinandersetzung mit Faschismus und Militarismus.

Kurz nach dem Reichstagsbrand wurde der später im KZ Buchenwald ermordete KPD- Vorsitzende Ernst Thälmann verhaftet. In vielen Ländern entstanden Solidaritätsbewegungen für ihn, so auch in den Niederlanden. Um sich hier für die Freilassung des verhafteten Arbeiterführers einzusetzen, zog Lissy Rieke schon im August 1933 nach Amsterdam. Dort fand sie Kontakt zu Wilhelm Knöchel (1899-1944), der 1936 zum Aufbau eines Widerstandsnetzes nach Amsterdam gegangen war.

Foto: Wilhelm Knöchel / GDW

1942 wurde Wilhelm Knöchel dann beauftragt, eine neue Inlandsleitung der KPD in Deutschland aufzubauen, zunächst mit Schwerpunkt Wuppertal, Düsseldorf, Duisburg und Solingen. In den Niederlanden wurden Flugblätter und Zeitschriften gedruckt, z.B. „Der Friedenskämpfer“, die ab Februar 1942 in Deutschland in Umlauf gebracht wurden.

Die Druckmaterialien des Widerstandes wurden mit Hilfe von Binnenschiffern nach Duisburg gebracht und Lissy Rieke fiel die Aufgabe zu, die weitere Verteilung zu organisieren, wie auch insgesamt die Kommunikation zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen in Berlin, Bielefeld, Bottrop, Duisburg, Düsseldorf, Oberhausen, Remscheid, Solingen und Wuppertal auf der deutschen Seite und in Amsterdam auf der niederländischen Seite.

In Deutschland konnte Wilhelm Knöchel auch persönlich Verbindungen halten, weil Reichsbahner ihm das Mitreisen  in  Mitropa-Speisewagenals „Silberputzer“ ermöglichten.

Ein weiterer wichtiger Funktionär in diesem Widerstandsnetz war Willi Seng (1909-1944). Ihn konnte die Gestapo am 20. Januar 1943 verhaften.

Foto: Willi Seng / waterboelles.de.

In verschiedenen Quellen, auch in der Biografie zum Osnabrücker Stolperstein, heißt es, er habe unter Folter zahlreiche Genossen und auch Lissy Rieke verraten. Das kann aber nicht richtig sein, weil Lissy Rieke bereits einen Tag zuvor, nämlich am 19. Januar 1943, verhaftet worden war. Möglicherweise stand dahinter eine Finte der Gestapo, die unter Hinweis auf Seng weiteren Verhafteten Folter androhte, um sie aussagewillig zu machen. Auch könnte es sich um gezielte Desinformation gehandelt haben, um die Widerstandskämpfer gegeneinander auszuspielen. Und schließlich wollte die Gestapo sich auch kaum in die Karten schauen lassen, auf welche Weise sie denn die Widerstandsgruppe aufgerollt hätte.

Lissy Rieke jedenfalls wurde nach ihrer Rückkehr von einem klandestinen Besuch in Osnabrück auf dem Bahnsteig des Duisburger Hauptbahnhofs verhaftet. Möglicherweise war sie in Osnabrück erkannt und denunziert worden.

Auch über Lissy wurde dann verbreitet, sie hätte mindestens einen Mitkämpfer verraten. Als Quelle für einen solchen Hinweis kommt allerdings nur die Gestapo selber in Betracht, – also ebenfalls wohl eher eine Desinformation.

Die Verhöre erstreckten sich über viele Monate. Ende 1944 wurde sie von Staatsanwalt Karl-Hermann Bellwinkel beim Volksgerichtshof angeklagt und von dem Vizepräsidenten des Volksberichtshofes Wilhelm Crohne in Bielefeld wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Crohne hatte auch ein Jahr zuvor das Todesurteil gegen den Kaplan Johannes Prassek https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/hartmut-boehm/or-serie-widerstand-im-osnabrueck-der-ns-zeit-folge-19-johannes-prassek/ gesprochen.

Am Vormittag des 5. Januar 1945 wurden in Dortmund die letzten Todesurteile vollstreckt, neben Lissy Rieke gegen noch drei andere Angehörige der Knöchel-Seng-Gruppe. Wilhelms Crohne überlebte die von ihm abgeurteilte Widerstandskämpferin nur um drei Monate. Am 26. April 1945 richtete er, wohl aus Angst, sich selber einem gesetzlichen Richter stellen zu müssen, sich selbst und nahm seine gesamte Familie mit in den Tod.

Nach Lissy Rieke  ist in Osnabrück eine Strasse benannt und sie wird mit zwei Stolpersteinen geehrt, – einer hier und einer in Duisburg


Zynismus der Geschichte

Das Todesurteil, das Richter Crohne gegen sich selbst vollstreckte, kam vielleicht etwas verfrüht. Letztlich ist in Westdeutschland kein einziger Richter oder Ankläger des Volksgerichtshofes zur Rechenschaft gezogen worden. Ganz im Gegenteil: So mancher machte noch Karriere. Staatsanwalt Bellwinkel zum Beispiel rückte nach 1945 in Bielefeld zum Oberstaatsanwalt auf. Nur in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR wurden insgesamt neun Richter und Staatsanwälte des VGH verurteilt, davon einer, Wilhelm Klitzke, zum Tode.

 


Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

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