Franz Lenz
Gewerkschafter mit klarer Kante
Sucht man eine Persönlichkeit, die gleichermaßen für gewerkschaftliche Arbeit, für antifaschistische Widerstandstätigkeit, nicht minder für grundlegende Aufbauarbeit in der Nachkriegszeit steht, sollten Forschende an einem Namen nicht vorbeikommen: Franz Lenz (1908-1989). Gleichwohl sucht man seinen Namen sowohl in stadtoffiziellen Geschichtsdarstellungen bis hin zum Biographischen Handbuch der Region Osnabrück sehr oft vergeblich. Immerhin hat es zu einer Straßenbenennung gereicht, die unweit des Osnabrücker Haseparks an ihn erinnert.
Wer war dieser klassische Metaller, an den heute eigentlich mehr ins Gedächtnis rufen sollte als die besagte Franz-Lenz-Straße?
Geboren wird der junge Franz am 29. September 1908 als klassisches Osnabrücker Arbeiterkind. Schon mit sechs Jahren muss er erfahren, dass sein Vater August am 2. September 1914 zu den allerersten Kriegstoten zählt. Er war in einen Kugelhagel geraten, als er einen verwundeten Kameraden retten wollte. Mit Ekel reagiert die Mutter, sobald Pseudo-Trost mit den Worten „Gefallen für Kaiser und Vaterland“ erklingt. Sie erzieht ihre Kinder zu entschiedenen Kriegsgegnern. Schon der kleine Franz muss miterleben, wie sich seine Mutter in 12-stündigen Arbeitstagen bei der Firma Hammersen für ihren Nachwuchs dermaßen aufreibt, dass sie bereits lange vor ihrem 60. Geburtstag arbeitsunfähig ist. Von acht Kindern erleben nur vier ihren zehnten Geburtstag.
Schon früh verschlägt es Franz nach dem Volksschulabschluss in die Berufswelt. Seine Ausbildung absolviert er bei der Gießerei Weymann. Franz erlernt bis 1928 den Beruf des Formers. Versehen mit dem entsprechenden Gesellenbrief, arbeitet er daraufhin in Gießereien und stellt dort mit seinen Kollegen unter großer Hitze Gussformen her. Benötigt werden diese für das Gießen von Werkstücken aus Stahl, Eisen oder anderen Metallen. Oft arbeitet Lenz auch in Werk- oder Maschinenhallen. Zuweilen sind Former wie er auch an Schmelzöfen und Gießanlagen gefragte Fachleute.Jahre später zählt Lenz zur Belegschaft jenes Osnabrücker Stahlwerks, das für Jahrzehnte die wirtschaftliche Entwicklung Osnabrücks entscheidend prägen wird und im Regelfall über rund 2.500 Beschäftigte verfügt.
Gut entwickelt ist im Osnabrücker Stahlwerk und in anderen Metallbetrieben wie dem OKD oder der Firma Kromschröder der gewerkschaftliche Organisationsgrad. Insbesondere der prägt auch den jungen Former. Er lernt, dass gerade hart arbeitende Lohnabhängige kaum etwas nötiger haben als Solidarität und Zusammenhalt. Die mit Abstand stärkste Richtungsgewerkschaft ist der sozialdemokratisch ausgerichtete Deutsche Metallarbeiterverband (DMV). An dessen Spitze steht der „Erste Bevollmächtigte“ Gustav Haas (USPD), dessen Lebensweg in der OR bereits hier beleuchtet wurde.
Kommunist mit Überzeugung
Der junge Franz Lenz kann mit der SPD-Ausrichtung der DMV-Spitze allerdings nicht viel anfangen. Er will mehr als mühselige Kompromisse mit dem Kapital und bürgerlichen Partnern im Reichstag. Unverändert begestert zeigt er sich von der Oktoberrevolution, die anno 1917 im fernen russischen Zarenreich stattgefunden hat. Arbeiterinnen und Arbeiter haben dort die Macht erobert, nachdem sie allerorten Sowjets als Arbeiter- und Soldatenräte gewählt, den schrecklichen Krieg beendet und die verhasste Zarenherrschaft beendet haben. Die russischen Kommunisten, auch Bolschewiki genannt, beseitigen alle feudalen und kapitalistischen Strukturen. Für deutsche Kommunisten setzen sie Maßstäbe, für die sich auch Osnabrücker wie Franz Lenz hellauf begeistern. Die dortige Einparteiendiktatur ist für ihn nötig, um den Erfolg der Revolution zu festigen und irgendwann die klassenlose Gesellschaft, den Kommunismus, zu verwirklichen.
Die mit der Diktatur verbundene Unterdrückung, erst recht deren Ausprägung im brutalen Stalinismus, wird er erst wesentlich später erkennen und Konsequenzen daraus ziehen. Noch zählt für ihn aber die Vision einer künftigen Gesellschaft, in der niemand hungert oder friert und keiner arbeitslos ist. Er fühlt sich wohl in der KPD, welche sich so darstellt, wie dies Lenz-Sohn Werner Jahrzehnte später in seinem Buch „Gerade Wege gibt es nicht“ – in diesem Fall auf einen anderen KPD-Genossen bezogen – kurz und knapp schildert:
„Er hatte seine politische Heimat gefunden und genoss die Solidarität der Menschen, die sich in ihrer sozialen Not und ihrem aus Elend gewachsenen Kummer gegenseitig das Leben leichter zu machen versuchten.“
Die zur Jahreswende 1918/1919 gegründete Kommunistische Partei, die seit 1920 durch den Übertritt Hunderttausender von Mitgliedern der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) eine Massenorganisation ist, wird rasant schnell die politische Heimat von Franz Lenz. Schon im Jahre 1924, gerade mal 16 Jahre alt, tritt er der Partei bei. Mit gleichgesinnten Arbeitern und Arbeiterinnen lehnt er sich wiederholt gegen Kurs seiner Gewerkschaftsführung auf. Er ist ihm weiterhin viel zu zaghaft und kompromissorientiert. Der Zwist innerhalb der Arbeiterbewegung geht selbst an Familien und Belegschaften nicht vorbei. Heftig sind die Dispute, die Lenz sich immer wieder mit DMV-Sekretären wie Gustav Haas oder sozialdemokratischen Betriebsräten liefert. Es kommt zum offenen Bruch. Ende der 20-er Jahre gründen die Kommunisten in Frontstellung zu den sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften, zu denen auch der DMV zählt, reichsweit die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO).
Das Ende der Weimarer Republik erlebt Lenz in kämpferischer Einheit mit seinen Genossinnen und Genossen. Er beteiligt sich in fast permanenten Wahlkämpfen anlässlich der Reichstagswahlen 1928, 1930, zweimal 1932. Hinzu kommen zwei Urnengänge für die Wahl des Reichspräsidenten 1932 sowie Wahlen für den preußischen Landtag und das Osnabrücker Bürgervorsteherkollegium. Zunehmend ist alles von heftig verlaufenden Demonstrationen, mehrfachen Presse- und Organisationsverboten, vor allem von blutigen Straßenkämpfen mit braun uniformierten SA-Schlägern begleitet. Ein letztes Aufbäumen zeigt sich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Zu spät gibt es auch Demonstrationen, in denen Sozialdemokraten Seite an Seite mit Kommunisten marschieren, um den deutschen Faschismus in letzter Minute zu verhindern.
Erste Verfolgungen und Widerstand
In Wahrheit geht alles schneller als vermutet: Schon in der Endphase des Februars ist die sozialdemokratische wie kommunistische Presse verboten. Spätestens nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, dessen Durchführung fälschlicherweise der Kommunistischen Partei zugeschrieben wird, wird die KPD endgültig kriminalisiert. Jedes öffentliche Auftreten ist ihr ebenso untersagt wie der Sozialdemokratie. Abertausende von Parteianhängern werden misshandelt, teilweise ermordet, tausendfach in Gefängnisse und in erste Konzentrationslager gesperrt. Die vormals so heftig zerstrittenen Sozialdemokraten und Kommunisten finden sich ungewollt in gemeinsamer Haft wieder.
Wer nicht verhaftet ist, muss sich bereits früh auf ungemein konspirative Widerstandstätigkeit einlassen. Im kommunistischen Widerstand, dem sich schnell Lenz anschließt, sind es unabhängig voneinander arbeitende Kleingruppen. Kleine Einheiten mit oft nur drei Mitgliedern bergen den Vorteil, dass selbst im Falle von Folterverhören durch Nazis nur selten die Namen von vielen anderen Widerständlern preisgegeben werden können. Auch Franz Lenz beteiligt sich an unterschiedlichen Aktionen. Zugute kommt ihm, dass seine Funktion als geschätzter Former im Stahlwerk von den Machthabenden als so bedeutsam angesehen wird, dass er tatsächlich bis zum Kriegsende nicht zur Wehrmacht eingezogen wird.
Beäugt wird er von den braunen Machthabern dennoch. Im Frühsommer 1933 wird Lenz erstmals verhaftet. Dem einschlägig bekannten jungen Kommunisten wird „Hochverrat“ vorgeworfen. Doch das gegenseitige Einüben schlüssig klingender Ausreden und feste Absprachen im Falle von Verhaftungen zahlen sich aus: Lenz, seit rund fünf Jahren verheiratet und Vater seines Sohnes Werner, muss am Ende wieder freigelassen werden. Andere, stets brandgefährliche Aktionen folgen dennoch. Zuletzt wird die Lenz-Gruppe im Rahmen des Stalingrad-Infernos im Winter 1942/1943 ein Flugblatt erstellen und im Stahlwerk auslegen. Doch die Resonanz wird dermaßen enttäuschend für die Initiatoren sein, dass sie beschließen, sich und andere Genossen fortan nicht mehr durch dermaßen risikoreiche Aktionen zu gefährden. Dieser Schritt ist auch eine Konsequenz aus eigenen Erfahrungen seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Zu frisch sind Erinnerungen an ständig neue Einkerkerungen und Misshandlungen von Gleichgesinnten, deren Schicksal oft im Verborgenen bleibt. Besonders intern gehaltene Aktivitäten im vertrauten Umfeld bleiben bis 1945 aber weitgehend unbehelligt. Eine solche verbindet sich jahrelang mit einem Ort bei Lienen. Über diesen soll im Folgenden die Rede sein.
Eine Oase namens „Eekenpacht“
Ein „antifaschistisches Ausweichquartier“ nennt die Stätte jemand, der die Örtlichkeit erstmals im zarten Alter von fünfeinhalb Jahren kennenlernen darf. Der kindliche Beobachter ist Werner Lenz, geboren 1927 und einziger Sohn von Franz. Der spätere Bremerhavener Oberbürgermeister hat sich in seinem 2006 erschienenen Lebenserinnerungen „Gerade Wege gibt es nicht“ ausgiebig mit jenem unscheinbaren Kotten namens „Eekenpacht“ befasst. Gelegen ist das längst umgebaute Gebäude am westlichen Teil eines Tales. Es liegt dort, wo nach den Lenz-Beschreibungen die kleine Gemeinde Sudenfeld beginnt.
Anfang 1933, kurz nach der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar, hat sich Franz Lenz mit Hans Lücke (1901-1968) zusammengetan. Beide bringen seither den Pachtzins für die Eekenpacht auf. Einig sind sie sich, dass offener Widerstand in Gestalt von Flugblattverteilungen, Plakaten, Fassadenbemalungen, spontanen Streiks oder weiteren subversiven Aktionen angesichts der Totalüberwachung des NS-Staates allenfalls zur Schwächung der Arbeiterbewegung führen dürfte. Beherzigen müssen alle überdies, dass hinter jedem und jeder Person, der man fortan im Alltag begegnet, ein Zuträger für die Nazis stecken könnte.
Absprachen in äußerst überschaubaren Zirkeln bleiben nötig, um nicht das eigene Leben und das seiner Nächsten zu riskieren. Hans Lücke, vormals Jungsozialist und seit 1931 führendes Mitglied der SPD-Abspaltung „Sozialistische Arbeiterpartei“ (SAP), hat darum mit Lenz von Beginn an vor, ein unbehelligtes Zentrum für den antifaschistischen Widerstand zu schaffen. Die Existenz der Eekenpacht spricht sich intern durchaus herum, ohne dass die Nazis konkret davon erfahren. Bis hin ins benachbarte Münster reichen die Kontakte.
Schnell geht es mit dem Aufbau voran. Angehörige aller Arbeiterparteien, egal, ob sie der SPD, der KPD oder der SAP angehören, kümmern sich fortan liebevoll um den unscheinbaren Kotten. Sie möbeln ihn mit bloßen Händen auf. Am Ende schaffen sie sich, so Werner Lenz, „ein Domizil, in dem sie unbehelligt von den Schergen des NS-Staates ihre Wochenenden und Ferien solange verbringen wollten, bis der Nazi-Spuk vorüber war.“
Vor allem im Inneren der Eekenpacht entwickeln sich immer wieder rege, aber auch selbstkritische Debatten darüber, wie es zum braunen Spuk, zur Machtergreifung der Nazis und später zum Krieg kommen konnte. Besonders endlos entstehen Diskussionen darüber, wie jenes Deutschland der Zukunft aussehen soll, sobald der Nazi-Spuk sein ersehntes Ende gefunden hat. Eine hausinterne Bibliothek mit verbotener sozialistischer Literatur hilft dabei, eigene Thesen mit den nötigen Bezügen zu vertiefen. Zusammen mit neu zur Partei gestoßenen Menschen sprudeln nur so die Ideen, um die Zukunft Osnabrücks in einem erhofften demokratisch-sozialistischen Deutschland zu planen. „Nach Hitler: Wir!“ lautet allerorten die selbstbewusste Parole. Franz Lenz verschafft sich auch bei Sozialdemokraten und Linkssozialisten hohen Respekt und zählt zu den tonangebenden Mitdiskutanten.
Besonders eindringlich beschreibt der Lenz-Sohn die offenkundig sehr beliebten, vor allem von Lücke konzipierten „Kottenfeste“. In denen kommt auch der nötige Humor in schweren Zeiten nicht zu kurz, was besonders wohltuend empfunden wird. Ein Grafiker und Künstler namens Heinz Freeker tritt dabei als Zauberkünstler auf. Ein anderes Programm bilden Rollenspiele, Tänze, Lieder bis hin zu Moritaten. All dies bilden Kulturformen, die in den Weimarer Jahren einschlägig zu Aktivitäten zählen, die insbesondere den Alltag der Arbeiterjugendbewegung geprägt haben und solidarisches Handeln zu stärken pflegen.
Im Visier der Gestapo
Von der Öffentlichkeit unentdeckt bleibt das dargestellte Treiben tatsächlich keineswegs. Lenz junior schreibt allerdings: „Selbst die von der Musik angelockten Fremden, die von Zeit zu Zeit auftauchten, konnten hinter dem ausgelassenen Treiben nichts Auffälliges vermuten.“
Offenkundig sind es aber auch Nazi-Beobachter, denen vermutete Aktivitäten in und außerhalb der Eekenpacht zu denken geben. Der Historiker Volker Issmer, der die Geschehnisse im zweiten Band seiner Buchreihe „Fremde Zeiten – Unsere Zeit“ aufgearbeitet hat, findet später im Zuge seiner intensiven Forschungen aufgrund alter NS-Akten heraus, dass die Eekenpacht bereits seit 1933 unter Beobachtung der Gestapo steht. Aus bislang noch nicht erforschten Gründen haben die Nazis jedoch nie den Versuch gewagt, den Kotten und seine Nutzer „auszuheben“. Wäre dies geschehen, hätte dies für die Teilnehmenden zumindest die Inhaftierung in einem Konzentrationslager bedeutet.
Anlässe für die NS-Machthaber, ihren bislang nur rudimentären Erkenntnissen auf den Grund zu gehen, ergaben sich im Laufe der Zeit allerdings auch immer weniger. „Unsichere Kantonisten“, wie Franz Lenz einige Teilnehmende gegenüber seinem Sohn zu bezeichnen pflegt, beginnen sich bereits nach den ersten Jahren rar zu machen. Die vermehrt bekannt gewordenen Verfolgungen und Verhaftungen zollen der Teilnahme ebenfalls ihren Tribut. Auch die zunehmende Einziehung männlicher Teilnehmer zum Kriegsdienst ab 1939 scheinen, folgt man Lenz junior, allmählich die Reihen zu lichten. Selbst die Familie Lenz begibt sich in den letzten Kriegsjahren offensichtlich nicht mehr an jedem Wochenende in den konspirativen Treffpunkt. Lebenserhaltend wird das Gebäude zum Kriegsende allerdings für Lenz-Sohn Werner. Der desertiert im Herbst 1944 vom Reichsarbeitsdienst, entzieht sich dem anstehenden Fronteinsatz und versteckt sich im Einvernehmen mit seinen Eltern, die ihm regelmäßig Lebensmittel zukommen lassen, bis zum 4. April, dem Kriegsende in Osnabrück, in der Eekenpacht.
Impulse aus der Eekenpacht
Bemerkenswert ist es, welche Wege so manche der damaligen Gäste und Nutzenden nach 1945 einschlagen werden. Auf Franz Lenz weiteren Weg wird unten noch hingewiesen. Lenz-Sohn Werner bringt es später nicht nur bis zum Oberbürgermeister von Bremerhaven, sondern auch zum Bundestagsabgeordneten. Dort wird er auf seinen altbekannten Eekenpacht-Genossen Hans Lücke treffen, der dem Deutschen Bundestag von 1957 bis 1965 als SPD-Abgeordneter angehören wird. Ein anderer regelmäßiger Besucher, der damalige SAP-ler und vormalige Jungsozialist Friedel Hetling, wird nach dem Krieg zunächst SPD-Landtagsabgeordneter, später Leiter der Bundesschule der IG Metall. Goswin Stöppelmann wiederum wird in der unmittelbaren Nachkriegszeit innerhalb der Osnabrücker Bezirksregierung zu denjenigen zählen, die sich mit besonders großem Engagement für Entschädigungen von NS-Verfolgten einsetzen. Hans Wunderlich (1899-1977), ebenfalls ständiger Gast und sogar unmittelbarer Nachbar in Nähe des Kottens, wird 1949 als Mitglied des Parlamentarischen Rates einer der Väter des Grundgesetzes werden und danach zum Chefredakteur der Westfälischen Rundschau in Dortmund avancieren.
Die Mühsal des Wiederaufbaus
Folgt man der Darstellung des Lenz-Sohnes, formuliert Vater Franz noch in den letzten Kriegstagen eine Vision, die für Werner recht deprimierend klingt, sich aber für die Zukunft als geradezu prophetisch erweisen sollte:
„Duckmäuser und Mitläufer, die gestern noch das Hakenkreuz-Abzeichen am Revers trugen, werden sich plötzlich als vom NS-Regime unterdrückte Demokraten aufspielen. Es ist unsere Pflicht, aufzupassen, bis ein organisiertes demokratisches Gemeinwesen wieder funktioniert.“
Noch aber geschieht alles überschaubar langsam. Am 4. April marschieren kanadische und britische Truppen in Osnabrück ein. Weil bei den Überlebenden zumindest die Todesangst infolge ständiger Bombenangriffe verschwunden ist, werden erst jetzt die Folgen des Kriegsinfernos offenkundig. Stadt-Chronist und Sozialdemokrat Hans Glenewinkel beschreibt die Ausgangssituation in seiner Kriegschronik:
„Der Osnabrücker sitzt zu Hause, ohne Rundfunk, ohne Zeitung, ohne elektrisches Licht, ohne Gas, auch der Wasserhahn gibt nicht viel her.“
An eine geregelte Arbeit ist allenfalls in seltenen Fällen zu denken. Das Stadtgebiet ist zu zwei Dritteln zerstört. Von 100 Altstadtgebäuden sind ganze sechs leidlich unversehrt. Osnabrücker Angehörige trauern um über 5.000 ehemalige Soldaten, die für den Größenwahn der NS-Machthaber den „Heldentod“ sterben mussten. Viele Tausend ehemalige Landser schleppen sich aus der Gefangenschaft zurück. Auch sie müssen, traumatisiert, verletzt oder verkrüppelt, zurück in ihren Alltag finden. Angehörige trauern über beinahe 1.400 Bombenkriegstote. Unter denen sind fast 300 Kriegsgefangene. Überlebende Häftlinge oder Zwangsarbeiter, die erlittenes Leid zuweilen umkehren möchten, sind aus nachvollziehbaren Gründen alles andere als verständnisvoll gegenüber der alteingesessenen Bevölkerung eingestellt. Gewalt bleibt häufig an der Tagesordnung. Über 10.000 überlebende Gefangene aus unterschiedlichen Ecken der weiten Welt haben zumeist den sehnlichen Wunsch, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie müssen häufig ausharren, bis Papiere da sind und wieder Züge fahren. Zur Stadtbevölkerung gesellen sich mehrere Tausend Flüchtlinge aus den polnisch oder tschechoslowakisch gewordenen Gebieten. Fast 6.000 Wohnhäuser sind dem Erdboden gleichgemacht und 5.700 erheblich beschädigt. Rund zwei Drittel aller Wohnungen sind zerstört und erfordern eine Umquartierung der Geschädigten. Fast 90.000 Obdachlose oder allenfalls provisorisch untergebrachte Menschen suchen in den Straßen nach Auswegen aus ihrer Not. Sie finden ihr kärgliches neues Zuhause in überfüllten Häusern oder auch in Lauben von Schrebergärten. 32 öffentliche Gebäude, darunter das Rathaus, die Stadtwaage und der Hauptbahnhof, 56 Betriebe, sieben Kirchen, 13 Schulen und das Marienhospital sind nicht mehr nutzbar. 900.000 Kubikmeter Trümmer machen die Stadt zu einer staubigen Fassaden-, Schutt- und Brockenwüste. Notküchen der britischen Armee, Schwarzmärkte, Tauschhandel und Hamsterausflüge ins Umland sichern eine notdürftige Versorgung.
Wohnen, Nahrung und die schnellstmögliche Schaffung entlohnter Arbeit werden für Franz Lenz und all diejenigen, die sich jetzt für den Wiederaufbau Osnabrücks stark machen, zu gigantischen Aufgaben. Organisatorisches Zentrum der ersten Wochen ist der Antifaschistische Kampfbund, der sich schon am 11. April 1945 mit knapp zwei Dutzend Teilnehmenden in einer Holzbaracke nahe der Kesselschmiede Meyer – unweit der Sutthauser Straße – zusammenfindet. Folgt man weiter der Darstellung seines Sohnes, ist Franz Lenz Leiter der Sitzung. Tonangebend sind vor allem Sozialdemokraten und Kommunisten. Früh bilden sich Vernetzungen von Menschen, die in den Folgejahren zusammenarbeiten.
Neuaufbau der Gewerkschaften
Franz Lenz steht in vorderster Reihe, als es um den Neuaufbau der Gewerkschaftsbewegung geht. Im Gegensatz zu den politischen Richtungsgewerkschaften der Vergangenheit wird in allen Besatzungszonen angestrebt, eine Einheitsgewerkschaft aller Richtungen zu bilden. Lenz zählt neben dem aus dem KZ befreiten Josef Burgdorf, dem späteren SPD-Ratsfraktionsvorsitzenden Friedel Rabe, dem Meister Gustav Nolte und dem Zimmerer Wilhelm Glüsenkamp zu denjenigen, die in ständigen Kontakten zur britischen Besatzungsbehörde um eine schnellstmögliche Gewerkschaftsgründung bemüht sind. Mit Erfolg: Am 7. August 1945 gibt die Militärverwaltung um Major Day grünes Licht für die Gründung eines „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes Osnabrück“ und dessen einzelnen Fachgruppen. Mit der Genehmigung von Parteigründungen wird es noch bis zur Jahreswende andauern. Die Erlaubnis zur Entstehung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in Osnabrück wird den Initiatoren am 17. Oktober 1945 von Major Townsend zugestellt. Empfänger ist in diesem Fall der Kollege Willy Wiltmann, Knollstr. 61. Am 9. Mai 1946 wird es dann die offizielle Genehmigung zur Aufnahme der Arbeit geben. Beide Dokumente werden bis heute beim ehemaligen Geschäftsführer der gewerkschaftlichen Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, Heiko Schlatermund, so seine Information für die OR, in Ehren gehalten und in seinem Privatarchiv verwahrt.
Da in den allmählich wieder ihren Betrieb aufnehmenden Metallbetrieben in Osnabrück besonders viele Menschen Arbeit finden, kommt auf die Führungspersonen aus diesem Wirtschaftssektor eine Führungsfunktion zu. Franz Lenz zählt zu denjenigen, die eine Fachgruppe „Eisen und Metall“, dem Vorläufer der späteren IG Metall, ins Leben rufen. Thomas Blömer schreibt dazu im 1990 erschienenen Band „Vom Deutschen Metallarbeiterverband zur Industriegewerkschaft Metall“:
„Der überragende Kopf war von Anfang an Franz Lenz, der erste Betriebsratsvorsitzende bzw. Vertrauensmann des Stahlwerks nach dem Krieg.“
Am 19. September 1945 wird er, so Blömer, zum Vorsitzenden der Fachgruppe gewählt. Die Privatwohnung der Familie Lenz wird Ende Oktober zur ersten Geschäftsstelle, in der die Kollegin Inge Heinsmann Franz Lenz bürotechnisch unterstützt. Das Domizil der Familie befindet sich mittlerweile in einem gut erhaltenen Haus in der Schölerbergstraße, das dem von den Briten als NS-Gegner anerkannten Franz Lenz zugeteilt worden ist.
Es zählt zur Tragik des Neuaufbaus, dass die Verfolgung von Nazi-Verbrechen schon in den späten 40er-und frühen 50er-Jahren immer nachlässiger erfolgt. Franz Lenz zählt zu denjenigen, die sich deshalb schon früh entscheiden, resigniert ihre weitere Mitarbeit bei sogenannten Entnazifizierungsverfahren einzustellen. Geschickt lassen Ex-Nazis mit großem Aufwand von ihnen wohlgesonnenen Dritten Zeugnisse, sogenannte „Persilscheine“, für ihr Entnazifizierungsverfahren unterschreiben. Dies beeindruckt offenbar die Verantwortlichen immer mehr, so dass kaum Nazis als solche erkannt und sanktioniert werden. Das Nachkriegsdeutschland scheint zu großen Teilen allenfalls aus „Mitläufern“ zu bestehen. Zahllose Täter besetzen im Laufe der Jahre wieder ihre Machtpositionen in Justiz, Verwaltung, Wissenschaft, Politik und Heer. Die oben wiedergegebene Prophezeihung von Franz Lenz bewahrheitet sich bis ins Detail. Im Rückblick, dokumentiert im oben genannten Blömer-Beitrag von 1990, drückt Franz Lenz dies im Rahmen eines anno 1985 geführten Interviews wörtlich in seiner eigenen Art so aus:
„Ich habe festgestellt, dass man nur die Kleinen packen konnte, die jetzt in der Liste aufgelistet waren als Hauswarte, Blockwart, Straßenwart u.s.w. (…) Es war schon damals so, dass die Ausstellung der Persilscheine bei der Militärregierung auf Gegenliebe stieß. (…) Ich habe dann erklärt, dass ich unter diesen Umständen nicht mehr weiter in diesem Ausschuss mitarbeiten will.“
Lenz widmet sich fortan vorwiegend der Gewerkschaftsarbeit. Bis zur Konstituierung einer schlagkräftigen Einzelgewerkschaft soll es allerdings noch dauern. Erst 1947 wird seitens der Briten eine Finanzhoheit zugestanden. Im gleichen Jahr bezieht die fortan als „IG Metall“ auftretende ehemalige Fachgruppe eine Baracke am Neuen Graben. Als Dachverband, dem auch die IG Metall angehört, wird 1949 in München der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegründet. Die IG Metall wird nun auch bundesweit im gleichen Jahr konstituiert und im Jahr 1950 in Frankfurt am Main ihre Arbeit aufnehmen.
Eine Personalentscheidung für Osnabrück wird sehr früh getroffen: Erster IGM-Geschäftsführer für mehrere Tausend Mitglieder wird Franz Lenz. Er wird diese Funktion des „Ersten Bevollmächtigten“ bis Januar 1974 ausüben und der Gewerkschaftsarbeit somit für Jahrzehnte bis zu seinem Eintritt in den gesetzlichen Ruhestand seinen Stempel aufdrücken.
Neue politische Heimat
Lange Jahrzehnte hat sich Franz Lenz als überzeugter Kommunist präsentiert. Insbesondere in der frühen Nachkriegszeit beginnt er aber zunehmend, am Kurs seiner Partei zu verzweifeln. Eine große Rolle spielen dabei die Geschehnisse in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR. Eine Demontage von Industriegütern, die alle Gewerkschafter im Westen massiv bekämpfen, finden besonders stark im Osten statt. Zur Entrüstung von Lenz verweigern sich die KPD-Genossen im Westen, die Demontage im Osten ebenso zu verurteilen wie die vor Ort. Sohn Werner zitiert seinen Vater anlässlich einer innerparteilichen Debatte:
„Genossen, der Faschismus ist besiegt. (…) Da macht es doch keinen Sinn, das ohnehin leidende deutsche Volk weiter zu bestrafen, indem man seine wirtschaftliche Basis zerstört., In Ostdeutschland benötigen die Menschen die Maschinen zum Überleben ebenso wie in Westdeutschland.“
Zu seiner tiefen Enttäuschung dringt er mit solchen Aussagen nicht durch. Ohne Ergebnis verlaufen auch zahlreiche weitere Sitzungen, in denen sich andere Kommunisten intensiv darum bemühen, den populären Gewerkschafter in eigenen Reihen zu halten. Am 31. Dezember 1946 tritt Franz Lenz aus der KPD aus und sofort in die SPD ein. Er betont dabei nach Aufzeichnungen seines Sohnes:
„Wo ich als Sozialist stehe, ist nach meiner Meinung völlig gleichgültig. Ausschlaggebend ist allein, wie ich als Sozialist arbeite.“
Das Wirken des eingeschworenen Metallers in der Nachkriegszeit, die von Neuaufbau, Wirtschaftswunder, Montan-Mitbestimmung, aber auch von zahlreichen Konflikten berichtet, verdiente eine gesonderte Würdigung. Lange Jahre wird vor allem sein Name fallen, wann und wo auch immer über Gewerkschaftspolitik gesprochen wird. Am 10. Oktober 1989, einen Monat vor dem Berliner Mauerfall, stirbt der Bilderbuch-Gewerkschafter mit knapp 81 Jahren.
Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei
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