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Samstag, 26. April 2025
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OR-Serie „Brückenschläge“ vom Heute zur Befreiung Osnabrücks 1945 – Teil 4: Villa im Museumsquartier

Mit Podcast am Ende des Artikels 

„Villa Schlikker“
„Adolf-Hitler-Haus“
„Hampden-House“
„Villa_Forum für Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“:
Vom Funktionswandel eines Osnabrücker Bürgerhauses

Steht man vor dem Osnabrücker Museumsquartier, blickt man links auf ein auffälliges, gelblich-braun gestrichenes Gebäude aus Deutschlands Gründerjahrzehnten. Das Haus ist eines von vier Bauten, die das Museumsquartier als „MQ4“ ausmachen: Rechts von der Villa befindet sich das architektonisch verwandte Kulturgeschichtliche Museum. Daneben und dahinter erhebt sich das Felix-Nussbaum-Haus mit seiner außergewöhnlichen Libeskind-Architektur. Rechts von allem steht das traditionsreiche, wesentlich kleinere Akzisehaus, das aktuell als provisorisches Standesamt dient.

Was macht die Villa nun zu einem „Brückenschlag vom Heute zur Befreiung Osnabrücks 1945“, wie es in unserer Serie heißt?

NSDAP-Quartier von 1932 bis 1945: Das "Braune Haus".
NSDAP-Quartier von 1932 bis 1945: Das „Braune Haus“.


Ergebnis protziger Wohlstandsdemonstration

Der Osnabrücker Wall, die heutige Osnabrücker Autobahn lässt das kaum mehr erahnen, galt einmal, fast bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als „Promeniermeile“. Auf gut gepflegten und stattlich begrünten Gehwegen stolzierte jedermann, der sehen oder gesehen werden wollte. Imposante Häuser, die sich links und rechts von den Promenadenwegen erhoben, galten als Bauten reicher Familien, die sich mit kunstvoller und vor allem teurer Architektur präsentierten. Nicht nur am Westerberg: Auch das Wohnen am Wall galt in Osnabrück als „gute Adresse“.

Neugierige konnten schnell erfahren, dass 1901 eine gewisse Familie Schlikker das Anwesen bezogen hatte. Oberhaupt jener Familie war Edo Floris Schlikker, seines Zeichens Unternehmer, Bankier und Geheimer Kommerzienrat aus Schüttorf in der Grafschaft Bentheim. Seinen Reichtum hatte Schlikker als Textilindustrieller, als trickreicher Finanzspekulant und als Herr von Gütern im Diepholzer Land gemacht.

Vor allem wegen seiner Finanztransaktionen zog es Schlikker irgendwann zum Bankenplatz Osnabrück, um von dort aus leichter das Familienvermögen zu vermehren. Schräg gegenüber des Heger Tores ließ er sich deshalb die heutige Villa im italienischen Neorenaissance-Stil bauen, die zugleich das damals moderne Jugendstil-Interieur aufwies. Architekt Otto Lüer komponierte  nicht nur das Äußere, sondern auch die Innenräume mit viel Marmor und kostbaren Vertäfelungen. Wände wurden mit Teppichen behängt. Zum Problem wurde, dass des Familienvermögens im Ersten Weltkrieg und durch die Weltwirtschaftskrise offenbar ein wenig geschmälert wurde. Der Hausbesitz war aber nie gefährdet. Nach Edo Floris Schlikkers Tod 1926 ging die Villa an den Sohn Gerhard Schlikker über.


Von der Villa Schlikker zum „Braunen Haus“: Gerhard Schlikker als überzeugter Nazi

Folgt man den Überlieferungen, hat Gerhard Schlikker die elterliche Prachtvilla kaum bewohnt und genutzt. Offenkundig war der verbliebene Familienreichtum groß genug, um sich eine solche Haltung trotz Inflationszeit1923 und der großen Weltwirtschaftskrise ab 1929 leisten zu können. Der Lebensmittelpunkt der Familie Schlikker lag unverändert in der Grafschaft.

Wichtig war es Schlikker allerdings, der Osnabrücker Bevölkerung wie der des Umlandes seine Gesinnung kundzutun. In einem groß aufgemachten Artikel legte er in der Osnabrücker Zeitung, die spätestens ab Ende 1931 als Hauspostille der NSDAP agierte, dar, warum er zum vollends überzeugten Nationalsozialisten geworden war. Museumskurator Thorsten Heese wird dies in einem künftigen öffentlichen Vortrag präziser erläutern. Eine Übertragung der vom Neu-Nazi Schlikker nicht mehr genutzten Villa an seine auserwählte Partei ließ nicht mehr lange auf sich warten. Laut der Historikerin Eva Berger übergab Gerhard Schlikker die Villa gemäß den Aufzeichnungen des Chirurgen und Stadtkrankenhausdirektors Heinrich Fründ (1880–1952) und der Chronik der Familie Schlikker anno 1932 an die Nationalsozialistische Partei. Nach dieser Quelle geschah die offiziell großzügige Übergabe an die braunen Parteigenossen auch aus dem eigennützigen Grund, um einer Anklage wegen „Devisenschmuggels“ zu entgehen. Offenkundig ist die Übergabe somit nicht nur mit einer menschenverachtenden NS-Gesinnung, sondern auch mit weiteren fragwürdigen Intentionen verbunden.

"Braunes Haus" als Ansichtskarte
„Braunes Haus“ als Ansichtskarte

Begierig nahmen Osnabrücks Nationalsozialisten – weniger als ein Jahr vor der Machtübergabe im Reich – sofort die Gelegenheit wahr, um den neuen Sitz pompös als Propagandastandort herzurichten. Die Villa wurde sofort offizieller Sitz der NSDAP-Kreisleitung Osnabrück-Stadt. Die Straße davor hieß zu dieser Zeit „Braunauer Wall“. Die Bevölkerung nannte das Parteigebäude somit auch aus einem weiteren Grunde heraus „Braunes Haus“. Nationalsozialisten selbst vermieden diese Begrifflichkeit allerdings tunlichst. Für sie – und zugleich offiziell – trug das repräsentative Gebäude fortan den Namen „Adolf-Hitler-Haus“. Alles, was in der Partei Rang und Namen hatte, bezog seine Büros in der Villa. Draußen wurde reichhaltig geflaggt – und auch der Balkon für aufhetzende Ansprachen genutzt.

"Ehrenhalle" im "Hitlerhaus" anno 1937. Foto: Lichtenberg
„Ehrenhalle“ im „Hitlerhaus“ anno 1937. Foto: Lichtenberg

Spätestens am 1. April 1933 sollte das Haus auch zur Folterstätte werden. Belegt ist, dass der Schriftleiter der SPD-Tageszeitung „Freie Presse“, Josef Burgdorf, vor weiteren Schikanierungen im Rahmen seines „Prangermarsches“ in der Innenstadt im „Braunen Haus“ verhört, gefoltert und die Treppe hinuntergestoßen wurde. Über Burgdorf hat die OR mehrmals berichtet. Nicht minder brutal wurde mit dem sozialdemokratischen Rechtsanwalt Adolf Rahardt verfahren. Für beide diente das Haus sogar kurz als Zwischenstation, bevor man beide ins städtische Gefängnis an der Turnerstraße verfrachtete. Auch andere Osnabrücker, vorwiegend jüdische Mitbürger, erlebten das Haus als brutale Folterstätte.

Gut vier Jahre nach der Machtübergabe an das Kabinett Hitler, am 20. April 1937, wurde das Gebäude vor allem im Inneren maßgeblich „aufgehübscht“:  NS-Fahnen, eine Hitlerbüste und ein an die Wand gedübelter Reichsadler machten das Entree zur „Ehrenhalle im Hitlerhaus“. Marschierende SA-Schläger bildeten das Motiv für ein gesondert angefertigtes Glasfenster, auf das jedermann blicken musste, der die ersten Treppenstufen des NS-Tempels erklommen hatte.


Nachkriegszeit: das Osnabrücker Hampden-House

Es zählt zu den Merkwürdigkeiten der verheerenden Kriegsbilanz, dass ausgerechtet das „Braune Haus“ weitgehend von den Bomben alliierter Flieger verschont worden ist. Inmitten einer Kraterlandschaft, die 85% der Osnabrücker Altstadt zerstört hatte, war ausgerechnet eine Ursprungsstätte der Osnabrücker Kriegspropaganda und Teil einer Topografie des Terrors für friedliche Zwecke nutzbar geworden.

Die Villa als Hampden-House - ein vergessenes Stück Stadtgeschichte
Die Villa als Hampden-House – ein vergessenes Stück Stadtgeschichte

Gesagt, getan: Unmittelbar nach dem Einmarsch britischer und kanadischer Truppen, am 4. April 1945, besetzten uniformierte Briten das Gebäude und nutzten Büromöbel, die ihnen Nazis hinterlassen hatten. Die neue Militärregierung unter Gouverneur Geoffrey Day bezog die Villa als Standortkommandantur. Sie sollte nebenher dafür sorgen, dass im behelfsmäßig hergerichteten Kulturgeschichtlichen Museum bald wieder Ausstellungen und Veranstaltungen organisiert werden konnten, die hohe Besucherzahlen haben sollten.

Spätestens im April 1947 konnten es die britischen Befreier der Stadt aber nicht länger aushalten, dass die heimische Stadtbevölkerung unverändert vom „Braunen Haus“ sprach, wenn sie den britischen Verwaltungssitz meinte. Am Donnerstag, 10. April 1947, konnten die Lesenden des Neuen Tageblatts dann endlich studieren, was geschehen war. Überschrift: „Braunes Haus wurde ‚Hampden House’“. Die OR hat dieses in der offiziellen Stadtgeschichte nahezu vergessene Faktum seinerzeit berichtet.

Originalton der damaligen Begründung: „Es wurde zur Erinnerung an einen großen Mann Großbritanniens, der einer der Vorkämpfer für demokratische Regierungsform und Redefreiheit war, umbenannt.“ John Hampden (1594-1643) war in der frühen Neuzeit wiederholt ins Unterhaus des englischen Parlaments gewählt worden. Im Jahre 1636 hatte er sich geweigert, dem königlichen Steuereintreiber das „Schiffsgeld“ zu zahlen, weil diese Steuer vom Unterhaus nicht bestätigt worden war. Der darauffolgende Prozess vor dem obersten Gerichtshof hatte zum Anwachsen der Opposition gegen den herrschenden Absolutismus geführt. 1640 war Hampden im britischen Parlament an die Spitze der Opposition getreten – und gilt in der Geschichte seither als Vorkämpfer für parlamentarisch-demokratische Rechte.

Mit den Briten erhielt die Villa bereits vor dieser Namensgebung die exakt gegenteilige Funktion, die sie als Prachtbau eines Reichen, danach als Sitz der NSDAP besessen hätte: Im späteren Hampden-House flossen alle Netzwerke zum Wiederaufbau der Osnabrücker Demokratie zusammen. Vereine, Institutionen, Gewerkschaften wie demokratische Parteien wurden im Büro des Stadtkommandeurs zugelassen, nachdem die demokratische Legitimation penibel geprüft worden war. Das Ziel, keine vormaligen Nationalsozialisten wieder in verantwortliche Positionen der Stadtverwaltung, im neuen Land Niedersachsen und in der entstehenden Bundesrepublik zu lassen, wurde zumindest seitens der Briten und engagierter Osnabrücker Antifaschisten verfolgt. Dass all dies spätestens im Adenauer-Deutschland restlos scheiterte und sich Ex-Nazis wieder massenhaft in Justiz, Institutionen, Verwaltungen und Verbänden breitmachen und ihre Netzwerke ausbauen konnten, konnten die damaligen Akteure im britischen Amtshaus nicht erahnen. 1959 wurde das Gebäude der Stadt übergeben.


Von ausgestopften Füchsen bis zur „bürgerlichen Wohnkultur“

Es begann ein längerer Umbau. 1963 zog die naturwissenschaftliche Sammlung vom Kulturgeschichtlichen Museum in die Villa um. Der Autor dieses Berichts gehörte bereits im ersten Jahr zu jenen Schulklassen, die neugierig durch das Haus geführt wurden. Der Besuch lohnte den Schulausflug: Bestaunt werden konnte eine Ausstellungsfläche von 325 Quadratmetern. Jene reichte allerdings nicht aus, um alle bedeutenden Teile der Sammlungen zu präsentieren. Ab 1966 fanden Ausstellungen Osnabrücker Exponate darum auch in der Dominikanerkirche statt. Weitere Bestände mussten außerhalb gelagert werden. Weil kein Vortragsraum vorhanden war, wurden Einführungsvorträge zu Ausstellungen im Treppenhaus gehalten.

Als Horst Klassen anno 1971 Direktor des nun eigenständigen naturkundlichen Museums wurde, hatte der Kulturausschuss der Stadt bereits im Jahr zuvor erste Pläne für den Neubau eines Naturwissenschaftlichen Museums am Schölerberg in Nachbarschaft zum Zoo Osnabrück besprochen. Doch erst Ende 1985 sollte das Museum in den Neubau umziehen. Bis dahin waren seine Exponate stets unter beengten Verhältnissen in der Villa Schlikker gezeigt worden. Erst am 6. Mai 1988 sollte der Neubau als „Museum am Schölerberg – Natur und Umwelt, Planetarium“ offiziell eröffnet werden.

Die Villa selbst war ebenfalls Veränderungen unterworfen. Seit 2004 war sie ein „Haus der Erinnerungen“, das, wie es offiziell hieß, „Bürgerliche Wohnkultur“ präsentierte. Die Villa galt als besonders geeignet dazu, Osnabrückerinnen und Osnabrückern zu zeigen, wie reiche Familien wie die Familie Schlikker gewohnt und gelebt hatten. Für den Alltag armer Familien war allein im Obergeschoss bescheidener Platz vorgesehen.


Vom „Calmeyer-Haus“ zum
Forum für Erinnerungskultur und Zeitgeschichte 

Vor allem in den Folgejahren wuchs der Druck, neue historische Erkenntnisse und aufgespürte Exponate aus der NS-Zeit in einem angemessenen Ort zu präsentieren. Die Friedensstadt Osnabrück, in denen sich Menschen in so facettenreichen Organisationen wie der Nussbaum-Gesellschaft, dem Remarque-Verein, in der Hans-Calmeyer-Initiative bis hin zum Verein Gedenkstätten Augustaschacht-Gestapo-Keller engagieren, schrie es gewissermaßen nach neuen Ausstellungsmöglichkeiten, die außerdem auch Forschungsergebnisse aus der Universität und ausgewiesener historischer Vereinigungen präsentieren sollten.

Als Riesenproblem aller Gedankenspiele erwies sich die Finanzfrage: Die Villa war in die Jahre gekommen. Es fehlten barrierefreie Zugänge bis hin zu einem Café. Irgendwann sickerte aus der Bundeshauptstadt Berlin durch Informationen des örtlichen Bundestagsabgeordneten Mathias Middelberg durch, dass Bundesmittel bereitgestellt werden können – was Rückschlüsse auf eine Präsentation Calmeyers im Sinne der von Peter Niebaum und Mathias Middelberg publizierten Bücher über den Juristen zuließ. Ohne zeitgleich Alternativen zu beraten, bestand zunächst breiter Konsens, Calmeyer durch eine Ausstellungsstätte zu berücksichtigen, die das in mehreren Büchern dokumentierte Lebenswerk des Anwalts zeigten. Selbst Calmeyer-Kritiker wie der Autor dieses Beitrags, die nicht nur auf dessen Verdienste bei der Ermöglichung einer Lebensrettung von rund 3.000 jüdischen Menschen, sondern auch auf dessen Mitverantwortung für die KZ-Deportation ebenfalls vieler Betroffener hinwiesen, konnten sich zeitweise damit abfinden, die Villa zu einem Calmeyer-Haus zu machen – wenn es denn nur dafür Millionen für den nötigen Umbau gäbe und genug Raum für örtliche Ereignisse vorhanden wären.

2017 beschloss der Rat der Stadt Osnabrück auch deshalb einstimmig auf Drängen der CDU-Fraktion um deren Vorsitzenden Fritz Brickwedde, das Gebäude zu einer Stätte der Erinnerung an Hans Georg Calmeyer umzugestalten. Besonders stark eingesetzt für einen Ort des Gedenkens hatte sich die 1995 vom Buchautor Peter Niebaum gegründete und von ihm angeführte gegründete Hans-Calmeyer-Initiative.


Die Wende, 1. Teil: Kontroverse um eine Umbenennung: Calmeyer-Haus – ja oder nein?

Spätestens 2017 kam neue Bewegung in die Debatte. Im gleichen Jahr berief die Stadt Historikerinnen und Historiker, den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Michael Grünberg und zwei Mitglieder des Jugendparlaments in einen Beirat mit elf Mitgliedern, die ein Konzept zur Umgestaltung des Hauses vorlegen sollten. Auch aus der Wissenschaft mehrten sich in jener Zeit deutliche Bedenken, den vormaligen NS-Funktionär Calmeyer zum Namensgeber des Hauses zu machen. Der häufig, vor allem von CDU-Repräsentanten wie Fritz Brickwedde genannte Name Hans-Calmeyer-Haus für die Villa Schlikker wurde zum Thema einer Debatte über die „Ambivalenz“ der Person. Der Konflikt eskalierte, als der damals stellvertretende Vorsitzende der Calmeyer-Initiative den Historiker*innen im Beirat wider jegliche Realität vorwarf, „keinerlei oder nur geringe Kenntnisse über die komplexe Calmeyer-Thematik“ zu haben. Umgekehrt wurde mittlerweile klar, dass die aus Berlin angekündigten Finanzhilfen völlig unabhängig von der Namensgebung fließen sollten. Dies erleichterte es vielen, die allein aus diesem Grunde eine Calmeyer-Würdigung akzeptiert hätten, ihre kritische Position wesentlich klarer zu formulieren und durch neue Erkenntnisse zu bereichern. Die Museumsverwaltung der Stadt sprach auch deshalb zunehmend von einem Umbau des Museums zum „Friedenslabor“.

Einen Meilenstein für die Abwendung vieler, die ein Calmeyer-Haus womöglich mit Bedenken akzeptiert hätten, bedeutete eine Wendung in der niederländischen Debatte zur Person Calmeyers. Der niederländische Philosophieprofessor Johannes Max van Ophuijsen und der Journalist Hans Knoop initiierten eine spektakuläre, beeindruckende und viel Aufsehen erregende Petition an Bundeskanzlerin Angela Merkel, um zu verhindern, dass das Museum mit der Umstrukturierung den Namen Calmeyers erhält. Immerhin 260 Professorinnen und Professoren mehrerer Staaten, Hochschulen und Fachrichtungen, Jurist*innen, Rabbiner, Künstler*innen und Überlebende des Holocaust, darunter die Holocaust-Überlebende Femma Flejsman-Swaalep aus Amsterdam, unterzeichneten die Petition. Am 28. Mai 2020 konnte die Unterschriftenliste an den deutschen Botschafter Dirk Brengelmann übergeben wurde.

Vor allem eine mit breiter Resonanz publizierte Biografie über Femma Flejsman-Swaalep warf plötzlich ein ganz neues Licht auf Calmeyer. Denn dieser hätte die damals sehr junge Niederländerin defacto vor der Deportation bewahren können; sie überlebte im Konzentrationslager Auschwitz. Knoop erklärte, es wäre ein internationaler Skandal, „sollte das Whitewashing wirklich stattfinden“. Mehr noch: Calmeyer habe 500 als Arier registrierte Personen in seiner Zeit als Verwaltungsbeamter in den Niederlanden zu „‚neu entdeckten Juden‘ erklärt“. Sie seien mit in die Transporte (in die Vernichtungslager) gegangen. Die Petition richtete sich an die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, weil die Stadt Osnabrück inzwischen,wie oben angedeutet, 1,7 Millionen Euro an Fördermitteln für die Sanierung des Gebäudes beim Bund eingeworben hatte. Proteste aus den Niederlanden verstärkten sich und führten auch in Osnabrück zu beeindruckenden, öffentlichen Auftritten aus dem Nachbarstaat. War Osnabrück im Falles eines Festhaltens am Begriff „Calmeyer-Haus“ in Gefahr, das städtische Label als „Friedensstadt“ in Teilen der niederländischen Öffentlichkeit zu ramponieren?


Die Wende, 2. Teil: Auftreten des ILEX-Kreises

Der Osnabrücker ILEX-Kreis, Herausgeber eines umfangreichen Sammelbandes mit 36 Biografien zum Osnabrücker Widerstand gegen den Nationalsozialismus hat sich bereits unmittelbar nach seiner Gründung eindeutig gegen die Benennung der Villa als „Calmeyer-Haus“ gewandt – und diese Haltung seinerzeit auch in einer breit diskutierten Denkschrift dokumentiert. Im OR-Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“ sind die zentralen Argumente solide aufgeführt. Allein die im Sammelband vorgenommene Veröffentlichung von über 100 Namen, die ihr Leben im Widerstand oder in offener Opposition gegen die Nationalsozialisten riskiert, teilweise sogar verloren hatten, erwies sich als zentrales Argument dagegen, allein die historische Figur Calmeyer in einem Erinnerungsort zur NS-Geschichte zu privilegieren.

Vor allem Mitglieder des ILEX-Kreises waren es, deren Argumente weitgehend von einer großen Ratsmehrheit von Grünen, SPD, Volt und Linkspartei übernommen wurden, was den weiteren Entscheidungen endgültig den Weg ebnete. Die Stellungnahme des ILEX-Kreises zum Votum des Beirats wurde ebenfalls ausführlich in der OR dokumentiert.

Der Autor dieses Beitrag muss allerdings im Nachhinein selbstkritisch bemerken, dass zumindest er die damalige Unterstützung der Beiratsempfehlung, das Haus erneut „Villa Schlikker“ zu nennen, eindeutig falsch war. Dagegen spricht im Nachhinein nicht nur die Rolle des überzeugten Nationalsozialisten Gerhard Schlikker bei der Hausübertragung an seine Gesinnungsgenossen. Auch die Praxis, ein öffentliches Haus, das der Allgemeinheit gehört, mit öffentlichen Mitteln übernommen und hergerichtet wurde, nach einer Person zu benennen, die ihren Reichtum vor allem der Ausbeutung von Menschen zu verdanken hatte, darf – nicht nur bei dieser angedachten Benennung – als fragwürdig gelten.


Entscheidung zur Namensgebung

Der Wissenschaftliche Beirat unter Leitung des überregional renommierten Historikers Alfons Kenkmann führte im Oktober 2022 ein Symposium durch. Darin wurde Calmeyers Rolle im Netzwerk der deutschen Besatzungsbehörde intensiv debattiert. Die Entscheidung über eine Namensänderung für die Villa Schlikker wurde zurückgestellt, war aber bereits zu diesem Zeitpunkt aufgrund der neuen Gesichtspunkte äußerst fraglich. Der Wissenschaftliche Beirat empfahl schließlich im Januar 2023, jenen Namen „Schlikker“ beizubehalten, der seit Jahrzehnten eingeführt und historisch begründbar sei. Als Zusatz schlug der Beirat zwei Varianten vor: „Forum Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“ und „What about Calmeyer?“. Die Frage „What about Calmeyer?“ ist ein Zitat aus Calmeyers Lebenslauf, den er 1946 abfasste.

Auch aufgrund neuer, oben dargelegter Erkenntnisse zur Rolle des Nationalsozialisten Gerhard Schlikker bei der Hausübertragung entstand im Osnabrücker Stadtrat allerdings schnell Konsens, auf den Namen „Villa Schlikker“ dauerhaft zu verzichten. Eine Entscheidung traf der Rat der Stadt Ende April 2023. Mit der Neueröffnung im September 2024 trägt das Haus seither den Namen „Die Villa_Forum für Erinnerungskultur und Zeitgeschichte“. Ob der „Unterstrich“ beim Sprechen erwähnt werden sollte, bleibt allerdings zumindest Geschmacksache.

Calmeyer-Raum in den Villa
Calmeyer-Raum in den Villa
"Abstimmungskugeln"
„Abstimmungskugeln“


Dauerausstellung seit 2024

Das neu eröffnete Haus will in der Tat so etwas wie ein „Friedens- und Demokratielabor“ sein. Unverkennbar ist die Zielsetzung, etwas Aktives gegen die aktuelle Rechtsentwicklung und gegen das Erstarken der AfD zu tun.

Besucherinnen und Besucher werden im Zuge einer modernen, mitwirkungsreichen Museumspädagogik auch mit Fragen an sich selbst konfrontiert. Die zentrale Frage der im September 2024 eröffneten Dauerausstellung an Besucher*innen lautet: „Welcher Demokratie-Typ bist Du?“ Die historische Figur des Calmeyer wird dazu genutzt, sie in diesem Sinne zu verwenden. Denn die Ausstellung verschränkt die Rückschau auf das Verhalten des NS-Juristen Calmeyer, der Juden als Rassereferent in Den Haag als „Arier“ anerkannte und sie dadurch vor dem Tod bewahrte, andere aber wiederum billigend in das Konzentrationslager verwies, mit der Aufforderung zum Nachdenken. Hinterfragt werden Ethik und Verantwortung, auch das Mitläufer- und Tätertum oder der Widerstand in der Gegenwart. Die OR hatte die Ausstellungseröffnung mit ihren Zielsetzungen seinerzeit ausgiebig beleuchtet. Einen weiteren Bericht gab es nach der Eröffnung. Der NDR hat alles filmisch festgehalten.

Aktualitätsbezogene Entscheidungsstation
Aktualitätsbezogene Entscheidungsstation

Deutliche Kritik empfing die Ausstellung allerdings auch. In der OR wurde vom Autor dieses Beitrags vor allem das Auftaktvideo, eine Art Visitenkarte der Ausstellung kritisiert. Im Video wird katastrophaler Weise behauptet, Deutschlands Nationalsozialisten hätten 1933 in demokratischer Weise die Macht bekommen. Parteiverbote, Terror gegen Andersdenkende und das wochenlange Wahlkampfverbot zu Lasten beider Linksparteien anlässlich der letzten Wahl von 1933 werden völlig unterschlagen. Warum wurde dies bislang noch nicht korrigiert? Lehrkräfte dürften Probleme haben, die ideo-Aussage im Unterricht zu korrigieren.

Auftakt des Videos für Besuchende: Calmeyer als "Widerstandskämpfer"?
Auftakt des Videos für Besuchende: Calmeyer als „Widerstandskämpfer“?

Ebenfalls kritisiert wurde in der OR die filmische Heraushebung Calmeyers als Widerstandskämpfer und die Unterbelichtung bei der Präsentation des örtlichen Widerstandes – verglichen mit der breiten Calmeyer-Präsenz.

Bereits vor der Eröffnung schrieb TAZ-Autor Harff-Peter Schönherr von einer „massiven Fehlleistung“: Calmeyer werde fast einseitig dargestellt und stark weichgezeichnet. Gleich im Eingangsfilm werde er zum Widerständler geadelt, im weiteren Verlauf werde aus ihm ein Regimegegner, zum Anti-Nazi. In der Tat: Diese Bedenken sind nicht so einfach von der Hand zu weisen.

Völlig unstrittig ist umgekehrt das im Haus vorfindliche Café. Endlich gibt es im gesamten Museumsquartier einen Verweilort, um Ausstellungseindrücke zu reflektieren. Bereits im Juni 2024 wurde deshalb im Erdgeschoss des Hauses das „Café Felka“ eröffnet, das den Namen der Malerin Felka Platek trägt, der Ehefrau des Malers Felix Nussbaum. Beide wurden im Vernichtungslager Auschwitz Opfer des Holocaust. Pächter ist der gemeinnützige Verein EXIL, der sich vor allem der engagierten Flüchtlingshilfe widmet. Auch in der OR wurde der einmalige Osnabrücker Begegnungsort gern positiv gewürdigt.

Kurzum: Vom Kapitalisten-Domizil, der Nutzung durch braune Machthaber, vom Hampden-House über das naturwissenschaftliche Museum bis hin zur heutigen demokratischen Lernwerkstatt war alles ein weiter Weg. Im Sinne unserer Serie: eine lange Brücke von der Geschichte zur Zukunft. Um sich selbst ein Bild von Villa und Ausstellung zu machen, ist unbedingt ein Besuch des Hauses, möglichst auch von Angeboten des Begleitprogramms zu empfehlen. Gern darf man sich zuvor auch ein virtuelles Bild machen und die Angebote studieren. Diskussionen, dies liegt in der Natur demokratischer Diskursräume, dürfen gern weitergehen.




In diesem Podcast spricht Sören Hage mit Dr. Thorsten Heese, dem Kurator Stadt- und Kulturgeschichte im Osnabrücker Museumsquartier.

Es geht um die aktuelle Rolle der „Villa_Forum für Erinnerung und Zeitgeschichte“ in der Gesellschaft, Herausforderungen für die Demokratie und den Umgang damit.

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