Dienstag, 16. April 2024

OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 23: Charlotte Seligmann

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (am Ende dieses Textes finden sich Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

 

Charlotte Seligmann
„Die Öffentlichkeit über die Greuel im KZ Auschwitz aufklären“

Charlotte Seligmann wurde 1902 als Charlotte Czermin in Breslau geboren. Ihre Ettern Josef und Martha Czermin zogen nach Osnabrück, wo sie zuerst Pächter und dann Inhaber des Osnabrücker Hotels Bellevue waren, ein beliebtes Ausflugslokal an der heutigen Rheiner Landstraße gegenüber dem Heger Friedhof. Charlotte, die Lotte gerufen wurde, arbeitete im Bekleidungshaus Hettlage.

1929 heiratete sie den gleichaltrigen Fritz Seligmann, für den dies die zweite Ehe war. Seine Eltern Emanuel und Clara Seligmann besaßen eine Seidenfabrik in Krefeld. Fritz Seligmann war als Konzertgeiger am Osnabrücker Theater angestellt und gehörte der Synagogengemeinde in Osnabrück an. Seine Frau war christlich. Ein Jahr nach der Heirat wurde der Sohn Werner geboren, 1931 die Tochter Helga. Die Familie wohnte an der Johannisstraße.

Nach dem durch die Reichsmusikkammer verhängten Berufsverbot wurde Fritz Seligmann 1935 beim Theater entlassen, weil er Jude war. Ein Osnabrücker Drogist mit einem Fotolabor unterstütze den Musiker, indem er ihn nachts, wenn es niemand mitbekam, Fotoarbeiten ausführen ließ. Seligmann versuchte das magere Einkommen aufzubessern und hatte die Idee, Bauernhöfe und andere Motive in der Umgebung von Osnabrück zu fotografieren, um die Bilder zu verkaufen. Dabei wurde er von einem eifrigen Volksgenossen beobachtet und wegen angeblicher Spionage bei der Gestapo angezeigt. Die verdankte ihre Macht derartigen Denunziationen aus der Bevölkerung, die es massenweise auch in Osnabrück gab, wie die Historikerin Claudia Bade in ihrer Untersuchung zum Phänomen der Denunziation am Beispiel des Regierungsbezirkes Osnabrück festgestellt hat.

Claudia Bade berichtet von etlichen Fällen, in denen Menschen in der Stadt Osnabrück denunziert wurden, zum Beispiel ein Arzt, der bei einem Patientenbesuch 1944 die V1 als „Versagerwaffe“ bezeichnet hatte. Eine Studienrätin des Lyzeums, die dort ab 1939 tätig war, erstattete dem Sicherheitsdienst der SS Berichte über die Wirkung der Propaganda, ein Studienrat am katholischen Gymnasium Carolinum arbeitete seit Sommer 1942 mit Erlaubnis seines Schulleiters als Spitzel für den Geheimdienst. Fritz Seligmann wurde aufgrund der Denunziation von der Geheimen Staatspolizei vorgeladen, kam aber mit einer Verwarnung durch den Gestapobeamten Colesi davon, der ihn lediglich aufforderte, „dass er diese Dinge unterlassen solle“. Die Gestapo wusste anscheinend auch nicht, was beim Fotografieren von Bauernhöfen auszuspionieren war. Doch schon bald zeigte ein weiterer eifriger Denunziant den Musiker an, als er ihn bei einem Ausflug im Kurort Bad Rothenfelde in einem Café Geige spielen sah. Der Gast erkannte den Konzertmusiker und beschwerte sich darüber, dass der Gastwirt einen Nichtarier beschäftigte.


„Sie geht dann nach Hause, und da steht die Gestapo schon da“

Fritz Seligmann war durch die Ehe mit einer christlichen Frau eine zeitlang vor der Deportation geschützt – weil seine Frau sich nicht scheiden ließen. Dieser Zeitaufschub rettete vielen jüdischen Menschen, die mit einer oder einem christlichen Ehepartner/in verheiratet waren, das Leben. Insgesamt überlebten einige Tausend Jüdinnen und Juden in Deutschland durch die Loyalität ihrer Ehepartnerinnen und -partner den Holocaust. Bis auf zwei Ausnahmen hielten sämtliche dieser etwa zwanzig sogenannten Mischehen in Osnabrück dem Druck der Verfolgung stand, obwohl die christlichen Ehepartner massiv drangsaliert wurden, um sie zur Scheidung zu bewegen. Wie ihre jüdischen Ehepartner/innen wurden auch sie während des Krieges zur Zwangsarbeit verpflichtet, etwa in den Teutowerken oder der Seifenfabrik Frömbling. Einige jüdische Osnabrücker, darunter auch Fritz Seligmann, wurden weiter weg zur Zwangsarbeit nach Bielefeld geschickt. Seligmann war in einem Barackenlager untergebracht und musste in einer Fabrik für Fahrradzubehör arbeiten, die als kriegswichtiger Betrieb galt. Gelegentlich konnte er zu seiner Frau nach Osnabrück fahren. Mit dem Fahrrad dauerte das drei Stunden. Von ihm erfuhr Charlotte Seligmann von den schlimmen Zuständen im Lager. Fritz Seligmann soll auch von den Vergasungen in Auschwitz erfahren und ihr darüber in einem Brief berichtet haben.

Freundinnen warnten sie davor, diese Information weiter zu verbreiten. Doch sie ging sofort zu Anni Löwenstein, deren jüdischer Ehemann Felix Löwenstein ebenfalls in einem Lager interniert war, um sie zu informieren. Als Charlotte Seligmann ihr am 19. Juni 1944 berichtete, was sie von ihrem Mann erfahren hatte, war zufällig eine christliche Nachbarin anwesend – eine weitere eifrige Denunziantin, die gleich nach dem Gespräch zur Gestapo lief und berichtete, was sie gehört hatte. Ruth Helmedach, die mit Charlotte Seligmann befreundet war, erlebte, was dann passierte: „Sie geht dann nach Hause, und da steht die Gestapo schon da und verhaftet sie vor ihrer Wohnung. Ich komme grade über den Rißmüllerplatz und da kommt die mir zwischen zwei Herren entgegen und formte ihre Lippen zu dem Wort: ‚Verhaftet!‘ Und ich sehe, daß sie die Turnerstraße heruntergehen, zum Polizeigefängnis.” Die Tatsache, dass sie die arische Partnerin in der Ehe war, schützte Charlotte Seligmann nicht. Der Gestapobeamte, der sie verhaftete, sagte 1953 aus, sie sei wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ verhaftet worden. „Dass die jüdischen Häftlinge in Auschwitz vergast würden […], wurde damals als Verbreitung einer unwahren Tatsache angesehen“, sagte der Gestapobeamte, der sie verhaftete, später aus. Auch Anni Löwenstein wurde verhaftet.

Bestätigung über die Haft in den „Polizei-Zellen“ an der Turnerstraße von 1952, NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386Bestätigung über die Haft in den „Polizei-Zellen“ an der Turnerstraße von 1952, NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386

Der Osnabrücker Karl Fuchs war zu dieser Zeit seit kurzem Untermieter bei den Seligmanns an der Johannisstraße. Er erinnerte sich nach Kriegsende an Tag der Verhaftung: „Ich ging zur Wohnung und wollte mir von Frau Seligmann die Schlüssel holen, die bei dieser hinterlegt waren. Dabei stellte sich heraus, dass Frau Seligmann nicht zu Hause war. Die Tochter Helga erklärte mir, dass ihre Mutter verhaftet sei und sich im Polizeigefängnis in Osnabrück in der Turnerstraße befindet. Ich möchte mir von dort die Schlüssel holen. Ich suchte dann Frau Seligmann im Gefängnis auf, um mir die Schlüssel abzuholen. Ich konnte Frau Seligmann im Beisein eines Aufsehers kurz sprechen und fragte sie, warum sie verhaftet worden sei. Frau Seligmann weinte aber nur und erklärte mir, dass sie nichts Strafbares gemacht habe.“


„Sie hat ihren Mann nicht verraten“

Ruth Helmedach versuchte zunächst vergeblich, ihre Freundin Lotte im Polizeigefängnis zu besuchen. Sie berichtete: „Ich bin gleich ein paar Tage später hin, da durfte ich sie nicht besuchen, und dann kriegte ich einen Brief, ob ich ihr ein Stückchen Brot bringen könnte. Da bin ich dahin gegangen und habe ihr etwas zu Essen gebracht. Ich habe gesagt, ich sei ihre Schwester. Sie tat mir leid, was hat sie für Tränen vergossen, dabei hätte sie nur sagen müssen, daß der Brief von ihrem Mann ist, dann wäre sie herausgekommen. Hat sie aber nicht, sie hat ihren Mann gedeckt. Sie sagte: ‚Ich bin in Bielefeld gewesen, auf der Straßenbahn, und da standen zwei Herren und die haben sich unterhalten.‘ Da ist sie bei geblieben, sie hat ihren Mann nicht verraten.“ Eine Verwandte von Charlotte Seligmann bestätigte das. „Man sagte ihr immer wieder, dass sie ihre Informationen von jüdischer Seite haben müsse, aber sie stritt es ab. Ihr Mann wäre sofort umgebracht worden. Sie glaubte, daß die Gefahr für sie, da sie keine Jüdin war, nicht so groß wie für ihn sei.“ Die von Charlotte Seligmann erfundene Geschichte war durchaus nicht abwegig. So wird von einem Berliner Mitglied des Sicherheitsdienstes (SD) berichtet, der in einem Vorortzug großspurig erklärte, in Auschwitz würden wöchentlich 2000 Juden ermordet.

„Man hatte ihr wiederholt nahegelegt, sich von ihrem jüdischen Ehemann zu trennen. Dieser Aufforderung war sie nicht nachgekommen. Deshalb suchte man nach einem Vorwand sie zu inhaftieren. Diesen Grund fand man, als sie in der Öffentlichkeit über die Greuel der KZ sprach“, ist einem Vermerk der Entschädigungsbehörde von 1948 zu entnehmen. Eine Mitgefangene von Charlotte Seligmann berichtete: „Wenn Frau S. von den Vernehmungen der Stapo-Beamten zurückkam, hat sie des öfteren erzählt, dass sie geschlagen worden sei und zwar in das Gesicht.“


„Einmal werde ich ja auch wieder bei Euch sein“

Am 20. Juli 1944, dem Tag des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler, saß sie bereits seit vier Wochen im Gefängnis, und durfte ihrem Mann zum ersten Mal einen Brief schreiben. Den nächsten Brief erlaubte man ihr erst wieder nach vier Wochen. Diesen (vermutlich letzten) Brief seiner ermordeten Frau vom 16. August 1944 scheint ihr Mann lange Zeit bei sich getragen zu haben. Man sieht dem Dokument, dass sich im Original als Beweisstück in den Entschädigungsakten befindet, an, dass es lange Zeit gefaltet, vielleicht in einer Brieftasche, aufbewahrt wurde. Die Bleistiftschrift ist nur noch in Teilen leserlich: „Mein lieber Fred, nun sind wieder 4 Wochen vergangen u. ich darf dir wieder schreiben. Ich hoffe, daß es dir gut geht. […] Unser Werner muss seine Ferien auch ohne seine Mutter verleben. Aber einmal werde ich ja auch wieder bei Euch sein. Sag mir den Kindern, sie sollen nicht so traurig sein, ich habe sie per Zufall gesehen, und mich entsetzt wie traurig sie waren. […] Denke dir, nun bin ich schon die 9te Woche hier es ist in unserer Ehe das erste Mal daß ich so lange Zeit von Euch fort bin.”

 

Abb. Brief von Charlotte Seligmann aus dem Polizeigefängnis in Osnabrück, 16. August 1944,NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386Abb. Brief von Charlotte Seligmann aus dem Polizeigefängnis in Osnabrück, 16. August 1944,NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386

Als die Wohnung der Seligmanns an der Johannisstraße bei einem schweren Luftangriff auf Osnabrück am 12. Oktober 1944 ausgebombt wurde, setzte sich ein Mitglied der Familie Czermin für Charlotte Seligmann ein. Ihre Schwester Elisabeth Grüder erreichte, dass sie ein paar Tage „Bombenurlaub“ vom Polizeigefängnis erhielt. Während dieser vorübergehenden Entlassung versuchte Charlotte Seligmann, ihre Kinder Helga und Werner unterzubringen. Ihre Eltern und Geschwister waren nicht bereit, die Kinder aufzunehmen. Die Eltern waren anscheinend mit ihrer Ehe mit einem Juden nicht einverstanden und sollen ihrer Tochter einen Brief in das Gefängnis geschickt haben, in dem sie schrieben, sie seien froh, daß die Kinder jetzt endlich eine vernünftige Erziehung bekämen, sie müsse nun auslöffeln, was sie sich eingebrockt habe. Das Bellevue wurde nicht nur bei den traditionellen Schnatgängen regelmäßig von der Heger Laischaft aufgesucht, sondern soll während der NS-Zeit auch ein Stammlokal der SS gewesen sein.

Ruth Helmedach, die aufgrund der eigenen beengten Wohnverhältnisse dazu nicht in der Lage war, ging noch einmal zu den Großeltern: „Ich habe gebeten und gebettelt unter Tränen, daß sie die Helga aufnehmen sollten. Sie haben es nicht getan.“ Ein Mitglied der Familie Czermin bestätigte, dass die Großeltern sich zwar um ein anderes Enkelkind sorgten und mit ihm auf’s Land zogen, um es vor den häufigen Bombenangriffen auf Osnabrück in Sicherheit zu bringen, sich aber weigerten sich, die „nichtarischen“ Enkelkinder bei sich aufzunehmen, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wären. So brachte Charlotte Seligmann Sohn und Tochter mit Unterstützung des Pastors der Lutherkirchen notgedrungen im evangelischen Kinderheim am Schölerberg unter. Der 14jährige Werner wurde anschließend von einem Nachbarn, dem Kartoffelhändler Paul Reulecke, aufgenommen. Werner Seligmann soll in einem Brief vergeblich um die Freilassung seiner Mutter gebeten haben.


„In tiefer Trauer im Namen aller Angehörigen“

So musste die 13jährige Helga im Kinderheim am Schölerberg bleiben, wo sie kurz darauf umkam. Am 21. November 1944 kam es beim 45. Bombenangriff auf Osnabrück zu einem tragischen Unglück. Eine Sprengbombe durchschlug die Panzerung der Eingangstür  des Luftschutzbunkers am Schölerberg. Die Detonation presste hochgiftige Sprenggase in die Stollenanlage. Siebzehn Heimkinder und 34 Schülerinnen und Schüler starben. „Den […] Rettungskräften bot sich ein Bild des Grauens, als sie den Schutzstollen erreichten. 94 Männer, Frauen und Kinder saßen auf den Bänken oder lagen in ihren Bettchen, äußerlich völlig unversehrt. Doch niemand von ihnen war mehr am Leben, sie waren alle erstickt. Insgesamt zählte man 96 Tote, unter ihnen 51 Kinder zwischen einem und 17 Jahren.“ Eine von ihnen war Helga Seligmann. Unter den toten Erwachsenen war der bekannte Osnabrücker Maler Franz Hecker, der in einer Villa am Schölerberg wohnte, die heute Sitz der Friedel & Gisela Bohnenkamp-Stiftung ist.

Da die Mutter im Gefängnis und der Vater im Zwangsarbeitslager war, gab Helgas Bruder Werner die Todesanzeige auf. Sie lautete in der standardisierten Propagandasprache der Zeit: „Helga Seligmann fiel am 21.11. im Alter von 13 Jahren infolge Feindeinwirkung. In tiefer Trauer im Namen aller Angehörigen: Werner Seligmann. Beerdigung hat bereits stattgefunden. „Der 14jährige Werner blieb bei Paul Reulecke, bis auch er durch die Gestapo in ein Zwangsarbeitslager in Bielefeld eingewiesen wurde.


Vom Polizeigefängnis in „irgendein Lager“

Das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat und zum Schutz der Parteiuniformen vom Dezember 1934 stellte es unter anderem unter Strafe, sich kritisch über das NS-Regime zu äußern. Wer dagegen verstieß, weil er die Wahrheit sagte und sich nicht an die allgemeine Verabredung zum Wegsehen und Schweigen über Misshandlungen und Morde hielt, wurde nicht vor einem ordentlichen Gericht angeklagt, sondern vor ein Sondergericht gestellt. Diese Sondergerichte verdrängten mit Kriegsbeginn 1939 die reguläre Strafjustiz und verhängten mehr Todesurteile als der berüchtigte Volksgerichtshof in Berlin unter Roland Freisler, vor dem die Schwester des aus Osnabrück stammenden Schriftstellers Erich Maria Remarque im Oktober 1943 zum Tode verurteilt wurde. Elfriede Scholz hatte, wie Lotte Seligmann, nur die Wahrheit gesagt: Dass der Krieg verloren sei.

Der Osnabrücker Gestapobeamte Fritz Kettler erinnerte sich nach dem Krieg, dass ein Schutzhaftbefehl eintraf und Charlotte Seligmann daraufhin „in irgendein Lager“ kam – für ihn war das Routine. Kettler soll „für jede Kleinigkeit KZ beantragt und hunderte von Menschen in das KZ gebracht“ haben. Auf der Karteikarte der Gestapo, die die Gestapo für Charlotte Seligmann anlegte, heißt es in einer Eintragung vom 13. November 1944: „Die S. wurde am 19.6.44 wegen Verbreitung von Greuelnachrichten festgenommen. Sie wird mittels Sondertransports dem KL.-Ravensbrück überstellt.“ Ravensbrück war ein Konzentrationslager für Frauen, das im Norden der Provinz Brandenburg lag.

Eidesstattliche Versicherung von Max Löwenstein, 1953, NLA OSEidesstattliche Versicherung von Max Löwenstein, 1953, NLA OS

Während ihr jüdischer Ehemann und der Sohn aus dem Lager in Bielefeld nach Osnabrück zurückkehrten, überlebte Charlotte Seligmann das Konzentrationslager nicht. Anni Löwensteins Sohn Max stellte 1953 fest, dass seine Mutter und Charlotte Seligmann „ihren Widerstandsgeist gegen das Nazi-Regime dadurch bewiesen, daß sie die Öffentlichkeit über die Gräuel im K Z Auschwitz aufklärten.“ Diese Aufklärung wurde jedoch von der Nachbarin, die das der Gestapo meldete, verhindert. Denunziation war ein Massenphänomen und wichtiger Bestandteil nationalsozialistischer Herrschaft, ohne die der Überwachungsstaat nicht hätte funktionieren können.

Auch die „allwissende“ Gestapo verdankte viele ihrer Kenntnisse der Mithilfe der Allgemeinheit. Wenngleich einige linientreue Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten aus ideologischem Eifer denunzierten, geschah dies meistens nicht aus „Pflicht dem Führer gegenüber“, sondern aus privaten Motiven, etwa, um missliebigen Nachbarn oder Konkurrenten zu schaden. Die Staatsanwaltschaft Osnabrück ermittelte nach dem Krieg in 43 Fällen gegen Denunzianten wegen „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“. Die meisten Verfahren wurden zwischen 1948 und 1951 eingestellt, oder endeten mit Freisprüchen. Von einem Verfahren gegen die Frau, die Charlotte Seligmann und Anni Löwenstein denunzierte, ist nichts bekannt.

Schreiben von Alwine Wellmann als „Vertrauensmann“ für Politisch Verfolgte 1953, NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386Schreiben von Alwine Wellmann als „Vertrauensmann“ für Politisch Verfolgte 1953, NLA OS Rep 430 Dez 304 Akz. 2003/036 Nr. 386

Fritz Seligmann starb 1971 in Garmisch-Partenkirchen. Werner Seligmann überlebte die NS-Zeit und emigrierte 1949 in die USA und studierte Architektur. Seinen Anspruch auf Entschädigung ließ er 1958 vom Osnabrücker Rechtsanwalt Hans-Georg Calmeyer vertreten, der dem Gericht mitteilte, der junge Mann beabsichtige, seine Berufsausbildung als Architekt in Deutschland zu vervollständigen und benötige hierfür dringend Barmittel. Werner Seligmann wurde ein international renommierter Architekt. Der Fachmann für Frank Lloyd Wright und Le Corbusier gehörte zu den zwölf Architekten, die 1993 vom Land Berlin eingeladen wurden, einen Entwurf für das neue Dokumentationszentrum Topographien des Terrors abzugeben. Seligmann reichte 1994 auch einen Entwurf für das Nussbaum-Haus in Osnabrück ein. Anders als im Jahr zuvor in Berlin war der renommierte  Architekt, der bereits durch den Bau der Synagoge in Binghamton, New York, 1963 und seit den 1970ern durch das Ithaca Scattered Site Housing Project berühmt geworden war, das in der Dauerausstellung des Museum of Modern Art (MOMA) in New York gezeigt wird, anders als Daniel Libeskind und zwei weitere internationale Architekten aus unerfindlichen Gründen zu dem Wettbewerb in Osnabrück nicht ausdrücklich eingeladen worden. Es wäre interessant zu erfahren, ob das tragische Schicksal seiner Mutter und seiner Schwester und seine eigenen Erlebnisse in Osnabrück in den Entwurf Seligmanns für das Nussbaum-Haus eingeflossen sind. Dieser konnte jedoch bisher nicht ausfindig gemacht werden. Offensichtlich hat man nicht nur beim Wettbewerb um den Entwurf für das Nussbaum-Haus in Osnabrück 1984 diesen berühmten Sohn der Stadt bis heute nicht wahrgenommen. Werner Seligmann ist 1998 in Syracuse, New York, verstorben.



 

Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
Denkschrift ILEX-Kreis als PDF-Datei

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