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OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ – Folge 20: Gustav Adolf Rahardt

Die OR-Serie „Widerstand im Osnabrück der NS-Zeit“ (am Ende dieses Textes finden sich Links zu allen bislang erschienenen Folgen dieser Serie) widmet sich einem spannenden, aber bisher kaum bekannten Thema: Sie erinnert an mutige Menschen, die sich aktiv dem Naziterror und seinen menschenverachtenden Ideen widersetzt und dafür ihr Leben riskiert haben.

 

Gustav Adolf Rahardt
Ein „Star-Anwalt“ gegen die Nazis

Gustav Adolf Rahardt liebte den großen Auftritt, der Gerichtssaal war sein Element. Sein späterer Sozius Wilhelm Gröne erinnerte sich in einem Brief an Rahardts Tochter, dass seine Vorliebe dem Strafrecht galt, „die Verteidigung vor dem Strafrichter. Leisetreter waren für ihn so etwas wie Essig statt Wein […]“. So soll er einmal mit einem Streichholz unter den Sitz des Staatsanwaltes geleuchtet haben mit dem Kommentar, er suche nach Gerechtigkeit. Der Präsident des Landesgerichts Osnabrück berichtete im Juni 1933 vorgesetzten Stellen:

Seine Art, Suggestivfragen zu stellen, Zeugen einzuschüchtern, […]. Alle Worte werden mit besonderer Betonung in den Sitzungssaal gesprochen, ich möchte sagen, `mit stahlharter Stimme´, jedes Wort auf die Wirkung im Publikum berechnet, das auch sofort reagiert. Ich habe beobachtet, wie er bei gleichgültigem Vernehmen, dem Gericht den Rücken wendet und Zeitung liest, wie er von Zeit zu Zeit ein Wort oder einen Satz dazwischen wirft und habe dabei das Gefühl gehabt, dass auch dies Benehmen dem Publikum zeigen soll, wie wenig Wert der Rechtsanwalt auf die Verhandlung des Gerichts legt.

Das gefiel nicht allen Kollegen und vor allem nicht den Amtsträgern in der Justiz. Der Präsident des Osnabrücker Landesgerichts monierte Juli 1933, dass Rahardt bei seinen Verteidigungen jede Gelegenheit nutze, Institutionen des Staates und der Rechtspflege anzugreifen. Das beklagte schon 1925 ein vorsitzender Richter. Seiner Meinung nach überschritten Rahardts …

… Angriffe gegen Rechtsinstitutionen, hohe Staatsämter (Erlasse der Minister, Verordnungen und Anordnungen der Zentralinstanzen), anwesende Beamten und sonstige austaritative [sic, vermtl. autoriative. R.W.] Persönlichkeiten […] das zulässige Maß derart, dass, wenn man auch berücksichtigen muss, dass er die anwesenden Behörden und Vertreter derselben auch so behandelt, auf einen hohen Grad innerer Unausgewogenheit, Verantwortungslosigkeit und – mindestens Selbstüberhebung – geschlossen werden muss.

Der Rechtsanwalt Rahardt entsprach damit der höchst exotischen Gattung eines republikanischen Juristen, der das individuelle Recht gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaft in Form des Staates verteidigte. Die überwiegende Zahl der Juristen in jenen Jahren hingegen vertraten einen staatstragenden Nationalismus. Aber nicht jeder Staat war in ihren Augen das richtige Gefäß für den Volkswillen. Die völkischen Juristen bevorzugten ein hierarchisch-autoritäres Staatswesen – so wie etwa das gerade untergegangene Kaiserreich.


Rahardts politische Entwicklung

Rahardt war da aus ganz anderem Holz: Er bejahte die Republik aus Überzeugung. Seine klare Unterstützung des neuen demokratischen Deutschlands mag vor allem in seinen Erfahrungen während des 1. Weltkrieges begründet sein. Wie die meisten jungen Männer seiner Generation wurde der 29-jährige Rahardt 1914 eingezogen und musste an die Front. Er erlitt er noch im selben Jahr einen Bauchschuss. Rahardt genas, war aber fortan für den Frontdienst ungeeignet. Als die revolutionären Ereignisse im November 1918 seine Kompanie erreichte zögerte er nicht, sich in den spontan gebildeten Soldatenrat wählen zu lassen. Aufgrund seines Rede-Talents sollte er bald eine führende Rolle in dem revolutionären Gremium spielen. In seine Heimatstadt Osnabrück zurückgekehrt, trat er ebenfalls in den hiesigen Arbeiter und Soldatenrat ein. In Osnabrück verlief die Novemberrevolution – auch dank des MSPD-dominierten Arbeiter und Soldatenrates –wenig spektakulär. Rahardt selbst war in dieser Zeit noch Anhänger der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, für die er eine Zeit lang als Bezirksvorsitzender arbeitete. Ende der 1920er Jahre behagte ihm der Kurs der DDP nicht mehr. 1929 trat er in die SPD ein.

Abbildung: Der uniformierte junge Gustav Adolf Rahardt, stehend inmitten der Mitglieder des Osnabrücker Arbeiter- und Soldatenrats, anno 1919. Foto: Privatarchiv Heiko Schulze

Entschieden gegen rechts

Als Mitglied der SPD engagierte sich Rahardt als Redner für Wahlkampfveranstaltungen und durch die Unterstützung der Eisernen Front, einem Bündnis des Reichsbanners, gewerkschaftlicher Hammerschaften und des Arbeiter- Turn- und Sportbundes, die sich der Verteidigung der Weimarer Republik verschrieben hatten.

Seine politische Einstellung zeigte sich aber vor allem bei seiner Arbeit als Strafverteidiger. Bereits 1920 vertrat er in einem spektakulären Fall das Opfer eines rechtsradikalen Übergriffs. Mehrere hundert Angehörigen des in Osnabrück stationierten Freikorps Lichtschlag beabsichtigten, eine Versammlung der Friedensgesellschaft in der Stadthalle zu sprengen. Beim Versuch der Saalordner, den Korps-Soldaten den Einlass zu verweigern, weil diese sich weigerten, ihre Waffen abzulegen, wurde, dokumentiert in einem Bericht der damals noch nationalliberalen Osnabrücker Zeitung vom 10. März 1920,  der 24-jährige Sohn des Osnabrücker Vereinsvorsitzenden niedergeschossen. Die rechten (Para-)Militärs schlugen die Scheiben ein und überrannten die Einlasskontrolle. Der Angeschossene überlebte den Angriff, behielt aber lebenslang eine linksseitige Lähmung zurück. Der zuständige Staatsanwalt in Osnabrück weigerte sich wiederholt, ein Verfahren zu eröffnen. Das änderte sich, als die Ereignisse in Osnabrück ein Echo in der reichsweiten Presse entwickelten. Der bekannte Autor der Weltbühne, Carl von Ossietzky etwa, erwähnte Rechtsanwalt Rahardt in einem Artikel als beispielhaften Kämpfer für den Rechtsstaat. Der Osnabrücker Anwalt offenbarte mit seinen Untersuchungen die Gefahr, die von unkontrollierbaren Freiwilligenverbänden ausging.

Auch danach beeinflusste Rahardts politische Haltung seine Mandatsauswahl. Er arbeitete als Vertrauensanwalt der Liga für Menschenrechte. Und mit dem Aufkommen der Nationalsozialistischen Bewegung verteidigte er immer wieder Menschen aus dem linken Spektrum, die mit der SS oder der SA in Konflikt gerieten. Die Staatspolizeistelle Osnabrück beklagte sich in einem Bericht vom 10. Juni 1933, Rahardt habe im Gerichtssaal „ausgesprochen jede Gelegenheit mit Freuden benutzt, wenn nationale oder nationalsozialistische Angelegenheiten verhandelt oder gegen Angehörige derartiger Verbände Anklage erhoben war, diesen nach Kräften zu schaden“.

Aber nicht nur seine aktive Mitgliedschaft in der SPD und sein juristisches Engagement gegen rechte Schlägertruppen machte ihm zum Hass-Gegner der Nationalsozialisten. Rahardt verkehrte freundschaftlich mit bekannten Osnabrücker Juden. Er teilte sogar seine Kanzlei mit dem jüdischen Rechtsanwalt und Notar Dr. Max Netheim.


Der „Prangermarsch“ am 1. April 1933

Das zentrale, alles verbindende Element der NS-Ideologie war der Antisemitismus. Nach der sogenannten „Machtergreifung“ fand die neue, gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Politik ihren ersten Höhepunkt am 1. April 1934. Wie überall im Reich wurden an diesem Tag in Osnabrück jüdische Anwaltskanzleien, Arztpraxen und Einzelhandelsgeschäfte von SA- und SS-Leuten belagert. Damit sollte die Bevölkerung ermuntert werden, diese Einrichtungen als Vergeltung für angebliche „Greuel-Propaganda“ im Ausland zu boykottieren. Zeitgleich wurden etliche jüdische Geschäftsinhaber, Ärzte und Rechtsanwälte in Schutzhaft genommen – angeblich um sie vor dem „Volkszorn“ zu schützen. Aber auch entschiedene Demokraten, die keine Juden waren, zählten zu den Opfern der Exzesse. Ein an diesem Tag entstandenes Foto wurde zu einer Ikone für die nazistische Willkür und den Widerstand dagegen in Osnabrück. Es zeigt, wie der Zeitungsredakteur Josef Burgdorf von Nazis (mit und ohne Uniformen) durch die Osnabrücker Straßen getrieben wurde. Um den Hals trug er ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin Ilex“. Unter diesem Synonym verfasste Burgdorf scharfe Glossen, von denen sich die Lokalprominenz der NS-Bewegung verunglimpft fühlte. Die OR hat darüber bereits ausgiebig berichtet: https://os-rundschau.de/rundschau-magazin/heiko-schulze/or-serie-widerstand-im-osnabrueck-der-ns-zeit-folge-4-josef-burgdorf/     

Abbildung: Am Tage, als die Nazis den Redakteur Josef Burgdorf in einer Art Prangermarsch durch die Innenstadt prügelten, erfuhr Rahardt ein ähnliches Schicksal. Foto: Niedersächsisches Landesarchiv

So wie der Redakteur der SPD-nahen Freien Presse wurde auch Rahardt als weiterer sozialdemokratischer NS-Gegner durch einen solchen „Prangermarsch“ gedemütigt und anschließend im Braunen Haus, der Osnabrücker NS-Parteizentrale (vormals Villa Schlikker) festgesetzt. Laut dem NS-Blatt Osnabrücker Zeitung gestaltete sich Rahardts Abführung „zu einer außerordentlichen Demonstration, denn eine große Menschenmenge folgte dem Zug durch die Straßen“. Später wurden Rahardt und Burgdorf von der Polizei in Schutzhaft genommen und erst nach einige Tagen aus dem Polizeigefängnis in der Turmstraße entlassen.

Die erlittenen Demütigungen und Einschüchterungen hielten Rahardt offensichtlich nicht davon ab, politisch Stellung zu beziehen. So soll er bei der Besetzung des Osnabrücker Gewerkschaftshauses durch die SA am 11. März in Erscheinung getreten sein. Ebenso wie bei der Kundgebung anlässlich des NS-Massenaufmarsches zum 1. Mai 1933. Bei letzterem wurde er von der SS aufgegriffen und abermals im Braunen Haus eingesperrt.


Überlebenskampf

Rahardt kam wieder auf freien Fuß. Dem Vater dreier Kinder drohte jedoch der wirtschaftliche Ruin. Die Schikanen vom 1. April gingen mit einem Vertretungsverbot einher, was einem Berufsverbot als Anwalt gleichkam. Zwar wurde dieses Verbot später wieder aufgehoben. Das Preußische Justizministerium prüfte jedoch, ob der Anwalt nach dem am 7. April 1933 erlassenen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nicht endgültig seine Zulassung verlieren müsse. Nach diesem Gesetz war nichtarischen Anwälten sowie Anwälten, die sich „im kommunistischen Sinne“ betätigt hatten, die Zulassung zu entziehen.

Rahardt schickte seine Familie zu Verwandten in die Niederlande und kämpfte um seine berufliche Existenz. Seine „arische Herkunft“ konnte er durch einen Ahnennachweis nachweisen. Was aber genau unter einer ihm vorgeworfenen Betätigung „im kommunistischen Sinne“ zu verstehen war, blieb unklar. Dementsprechend schwieriger wurde es, diesen Vorwurf auszuräumen. Verschiedene Instanzen wurden vom Präsidenten des Oberlandesgerichts in Celle ersucht, sachdienliche Hinweise für eine Beurteilung Rahardts zu liefern. Vor allem Osnabrücker Stellen bemühten sich, eine weiter Berufsausübung Rahardts zu verhindern. Der Osnabrücker Regierungspräsident etwa warf dem Anwalt vor, er habe „in wiederholten Fällen Angehörige der K.P.D. vor Gericht vertreten und sich dabei über das gewöhnliche Maß hinaus für diese Klienten eingesetzt, wie er auch als weit links stehend durch sein sonstiges Verhalten bekannt ist.“ Der Präsident des Landesgerichts in Osnabrück sekundierte: Für ihn sei „das ganze Verhalten, Wirken und Denken des Rechtsanwalts Rahardt als volksschädlich und volkszersetzend im wahrsten Sinne des Wortes anzusehen“. Die staatliche Polizeistelle in Osnabrück konnte zwar keine Mandatsübernahmen Rahardts für Kommunisten oder kommunistische Organisationen feststellen, monierten aber, der Anwalt engagiere sich vor Gericht über Gebühr gegen rechts gesinnte Personen und Gruppen. Sie bewerteten „seine diesbezügliche Betätigung […] als kommunistische Arbeit.“

Abbildung: Ausschnitt aus der Freien Presse vom November 1932: Veranstaltungen der Eisernen Front, auf denen unter anderem Rahardt als Redner auftritt.

Rahardt wendete sich an den mit seinem Fall beauftragten Oberlandesgerichts-Präsidenten und an das Preußische Justizministerium direkt. Er wies die Behauptung, er habe sich im kommunistischen Sinne betätigt, „ohne jede Einschränkung“ zurück: „Ich habe weder in Osnabrück noch auswärts irgendwie mit Kommunisten jemals zu tun gehabt, mit Kommunisten verkehrt, geschweige denn, mich in kommunistischem Sinne betätigte. Ich kenne in meinem ganzen Bekanntenkreis, politischem wie unpolitischem, keinen einzigen Kommunisten.“ Eine diesbezügliche Betätigung sei aufgrund „seiner ganzen menschlichen und politischen Einstellung“ kategorisch auszuschließen.

Rahardt, der als Familienvater um die materielle Existenz als Anwalt kämpfte, war gezwungen, sich beinahe bis zur Selbstverleugnung zu verbiegen. Er versicherte, in der SPD nie eine Parteifunktion ausgeübt zu haben oder überhaupt „in der Partei sich ernstlich“ betätigt zu haben. Auch sei er bereits vor der Wahl vom 5. März 1933 er aus der SPD ausgetreten. Seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei sei ohnehin vor allem als Abwehrkampf gegen die KPD zu verstehen. In der SPD mit ihren Gewerkschaften habe er den einzigen „Wall gegen den anwachsenden Kommunismus und das nachfolgende Chaos in Deutschland“ gesehen.

Der ehemalige Polizeidezernent beim Osnabrücker Regierungspräsidenten, SA-Obergruppenführer Otto Marxer, versuchte noch zu intervenieren. Von München aus, wo er mittlerweile als SA-Stabschef wirkte, schickte Marxer dem Preußischen Innenminister seine Einschätzung Rahardts mit der dringenden Bitte „um Prüfung und Ausschaltung dieses Mannes“. Als „roter Agitator“ habe Rahardt seit 1918 „in der niederträchtigsten und gemeinsten Weise […] alles Nationale verspottet und in den Dreck gezogen.“ Marxer hielt Rahardt nach wie vor für eine Gefahr:

[…] und es erscheint mir nicht ausgeschlossen, dass er unter dem äußeren Deckmantel der Demut und Einfachheit ein politischer Zwischenagent in der Greuel-Propaganda ist. […] Wenn er auch selbst nicht Kommunist war, ihm auch nicht unmittelbar oder mittelbar Unterstützung der KPD nachgewiesen werden kann, so ist er doch in einem solchen Maße dem Marxismus ergeben, dass über den formalen Standpunkt hinweg seine Entfernung gefordert werden muss.


Der Unfall

Es half nichts. Ein legalistischer Grundkonsens in der Preußischen Justizverwaltung schien zu Beginn der NS-Diktatur tatsächlich noch intakt zu sein. Trotz Bedenken, bezüglich einer nach wie vor angenommenen „volksverhetzenden“ Haltung Rahardts kam der Oberlandesgerichtspräsident im April 1934 zu dem Schluss, dass „die ermittelten Tatsachen kaum ausreichend erscheinen, um die Anwendung des § 3 des Zulassungsgesetzes gegen Rahardt zu rechtfertigen.“ Am 24. Juli 1934 wurde das Vertretungsverbot gegen Rechtsanwalt Rahardt endgültig aufgehoben.

Der Anwalt scheint nochmal davon gekommen zu sein. Politisch aber hatte er künftig innerhalb der sich formierenden NS-Diktatur keinerlei politische Bewegungsfreiheit mehr. Die Osnabrücker Nationalsozialisten behielten ihn im Auge. Nach außen hin gab er sich loyal gegenüber den neuen Machthabern. Dennoch hielt er den Kontakt zu mittlerweile verfemten Freunden und Bekannten aufrecht.

Diese müssen sehr überrascht gewesen sein, als sie erfuhren, dass der erst 50-jährige Gustav Adolf Rahardt am 20. Februar 1936 an den Folgen eines Autounfalls verstarb. Die gleichgeschaltete Osnabrücker Presse verschwieg den Tod des stadtbekannten Anwalts und Antifaschisten.

 

 

 

 


 

Artikel des ILEX-Kreises zum „Braunen Haus“
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